E-Book, Deutsch, 347 Seiten
Schmöe Geisterflug
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8392-5796-8
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 347 Seiten
ISBN: 978-3-8392-5796-8
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Verkehrsflugzeug mit 239 Menschen an Bord verschwindet von den Radarschirmen und wird nie mehr gesehen. Die teuerste Suche der Luftfahrtgeschichte muss drei Jahre später wegen Erfolglosigkeit eingestellt werden. Selbst 160 Millionen Dollar und 150.000 kartografierte Quadratmeter Meeresgrund trugen nichts dazu bei, das Geheimnis um das verschollene Flugzeug zu lüften. Eine junge Frau, deren Lebensgefährte an Bord von MH370 war, will sich damit nicht abfinden. Sie beauftragt eine private Agentur mit der Suche nach der Maschine.
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Parkroyal, Kuala Lumpur
7.2.2017 Jetzt also bin ich hier, dachte Stella. Wieder in Asien. Sie setzte sich auf einen Liegestuhl am Pool. Lust zu schwimmen verspürte sie keine, aber im Zimmer hielt sie es auch nicht aus. Rox hatte ihr eine Liste mit den Top-Ten-Sehenswürdigkeiten in die Hand gedrückt. Schien der Meinung zu sein, Stella auf diese Weise ganz easy aus dem Weg zu räumen. Als wäre sie hier, um Touristin zu spielen! Draußen am Pool fiel ihr das Atmen jedenfalls leichter als in ihrem Zimmer. Ein paar Chinesinnen saßen am Rand des Beckens und tauchten die Füße ins Wasser. Sie ratschten und lachten und tranken bunte Cocktails. Ich kann das nicht. Rox und Saul hatten sie eindringlich gebeten, mit dem Handy vorsichtig umzugehen. Dennoch chattete sie mit Leo. Er musste wissen, was los war. Sie sehnte sich nach ihm. Nachdem sie sich endlich wieder an jemanden herangetastet hatte, spürte sie ihre Einsamkeit hier am anderen Ende der Welt umso deutlicher. Einsamkeit, tintenschwarz. Als sie ohne Dean damals, vor beinahe drei Jahren, am Flughafen in Peking ausgeharrt hatte, war sie kaum imstande gewesen, logisch zu denken. Sie hatte sich nur an jeden neuen Strohhalm geklammert, an die widersprüchlichen Behauptungen der Behörden, sie hatte mal den Chinesen geglaubt, mal den Malaysiern, schließlich niemandem mehr, und als die Erkenntnis einsickerte, dass keiner der Verantwortlichen irgendeine Ahnung besaß, wo die Maschine sich befand und was mit ihr geschehen war, hatte die Einsamkeit brutal zugeschlagen. Aber jetzt war da Leo. Obwohl sie nach Dean suchte … Stella legte sich auf ihr Handtuch und setzte die Sonnenbrille auf. Das hier war der letzte Hoffnungsanker. Wenn sie jetzt nicht herausfanden, wo das Flugzeug sein konnte, dann niemals mehr. Es mochte irgendwo am Grunde des Ozeans liegen, zerbrochen, und die Tiere des Meeres hatten sich geholt, was zu holen war. Die teuerste Suche der Luftfahrtgeschichte hatte nichts ergeben, doch sie konnte immerhin die schwächliche Erklärung der Verantwortlichen nachvollziehen. So ein Ozean war eben verdammt riesig. Stellas Magen krampfte sich zusammen. Was hatten die Menschen an Bord in den letzten Stunden ertragen? Sie hoffte inständig, Dean habe geschlafen, immerhin war es ein Nachtflug. Sie wünschte sich, er hätte nicht mitbekommen, wie die Maschine vom Kurs abwich und Stunde um Stunde weiterflog, wo sie doch nach gut sechs Stunden in Peking hätte landen sollen. Aber irgendwann war er bestimmt aufgewacht. Hatte auf die Uhr gesehen … Sie selbst konnte in Flugzeugen kaum schlafen, zu eng, zu viele Menschen, zu viele Geräusche. Sie stellte sich vor, wie Dean hochschreckte. Aus dem Fenster sah. Und dort lag nur das Meer. Endlos. Ein Anblick, den er nicht erwartet hatte, schließlich hätte MH370 auf dem Weg nach Peking das Südchinesische Meer rasch überquert, um dann die restliche Strecke über Land zurückzulegen. Hatte Dean mitbekommen, dass etwas nicht stimmte? Das war der schlimmste Gedanke, der reine Horror. Dass die Passagiere kapierten: Es ist aus. In Stellas Ohren klang der Tumult in der Kabine, die hektischen Nachfragen der Passagiere, die beschwichtigenden Stimmen der Flugbegleiter. Warum mussten 239 Menschen sterben? Hatte der Pilot Suizid begehen wollen? Lag hier der Hund begraben? Ihr Bruder Ludwig hatte sofort darauf gepocht. Ganz der übliche Besserwisser. Ludwig mit dem Seitenscheitel. Mutters ganzer Stolz. Der in den ersten Stunden, nachdem die Medien von dem spurlosen Verschwinden einer Boeing 777 berichtet hatten, bereits seine klaren Theorien entwickelte und nichts Besseres zu tun wusste, als sie seiner unter Schock stehenden Schwester in seinen Textnachrichten und Anrufen unter die Nase zu reiben. Stella kramte in ihrer Tasche nach der Sonnencreme. Ihre Beziehung zu ihrer Mutter und dem sechs Jahre älteren Bruder war nicht die beste. Sie hatte erst nach China umziehen müssen, um endlich zu akzeptieren, dass ihre Mutter auf sie nie so stolz wie auf Ludwig sein würde. Dass Stella nie dieses Funkeln in ihre Augen zaubern würde wie Ludwig. Als sie abgeflogen war, um ihr Leben mit Dean zu beginnen, da hatte ihre Mutter als Abschied nur ein kurzes Statement für ihre einzige Tochter übriggehabt. »Du wirst schon sehen, dass es nichts für dich ist.« Auch deshalb hatte Stella zuerst nicht zurückkehren wollen nach Deutschland. In den Monaten, die auf MH370 folgten. Aber sie hielt es in China nicht mehr aus. Sie war in zwei Teile zerfallen: in die Stella, die Dean wiederhaben wollte und mit jeder Faser ihres Seins die Hoffnung nährte, dass er zurückkäme. Und jene Stella, die, je mehr Zeit verging, zu ahnen begann, dass ein glückliches Wiedersehen ein Wunschtraum bliebe. Weshalb bin ich dann hier? Die Chinesinnen ließen sich unter großem Gekreische in den Pool gleiten. Stella griff nach ihrem Reiseführer. Nur um etwas in der Hand zu haben. Der Punkt war: Sie hatte nichts in der Hand. Keiner hatte auch nur einen sinnvollen Anhaltspunkt. Jedes vorstellbare Szenario war Dutzende von Malen überprüft und verworfen worden, weil ein Detail nicht dazupasste. Die Piloten waren auf Herz und Nieren gecheckt worden. Sie waren völlig unverdächtig. Stella spürte die Sonne, die nach dem langen Winter in Deutschland ungewohnt heiß auf ihrer Haut brannte. Mechanisch begann sie, sich mit der Sonnencreme einzureiben. Anders als viele Angehörige der Passagiere von MH370 hatte Stella nie an erweiterten Selbstmord geglaubt. Natürlich, Selbsttötung kam vor, 2015 hatte ein Pilot eine »Germanwings«-Maschine in den französischen Alpen absichtlich zum Absturz gebracht. Grauenvoll, Stella hatte nächtelang kaum geschlafen, diese neuerliche Katastrophe brachte es fertig, alles wieder hochzuspülen, was sie ein Jahr nach Deans Verschwinden mühsam unter dem Deckel halten wollte. Es ging um so viel; sie hatte China verlassen, einen neuen Job, arbeitete hart. Gleichzeitig bildete sie damals nach wie vor eine Art Anlaufstation für die Angehörigen der westlichen Passagiere an Bord von MH370. Bei ihr liefen Mails zusammen, man berief Skype-Konferenzen ein, um sich auszutauschen und Pläne zu schmieden, wie man die Suche nach dem vermissten Flugzeug unterstützen könnte. Pläne, die allesamt im Sande verliefen. Stella hatte stets für die beiden Piloten Partei ergriffen. Es war total unwahrscheinlich, dass sie an dem Desaster schuld waren. Keiner von ihnen war je wegen psychischer Probleme in Behandlung gewesen. Die Gerüchte, die Ehefrau des Kapitäns Zaharie Ahmad Sha habe sich am Tag vor dem Start von MH370 von ihrem Mann getrennt, hatten sich als Unsinn erwiesen. Die Familie besaß schlicht zwei Immobilien: ein Haus am Rand Kuala Lumpurs sowie eine kleine Wohnung, die näher am Flughafen lag. Dort pflegte Sha zu übernachten, wenn er im Dienst war. Die Medien hatten politische Hintergründe durchleuchtet. Ein Oppositionspolitiker, den Sha unterstützte, war am 7.3.2014 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Doch Stella ging davon aus, dass dies allein kein Grund war, sich mit über 200 weiteren Menschen ins Meer zu stürzen. Für einen Mitnahmesuizid brauchte es eine kranke Grundstruktur. Nicht alle Angehörigen wollten akzeptieren, dass Stella sich für die Piloten starkmachte. Man suchte einen Schuldigen für das Undenkbare, dringend, so war die menschliche Psyche gestrickt, das Grauen brauchte ein Ventil. Allerdings arrangierten sich die meisten anderen Angehörigen bald mit Stellas Hauptargument: Für einen Pilotensuizid war die Maschine zu lange unterwegs gewesen. Hätte Kapitän oder Copilot die Boeing abstürzen lassen wollen, wäre er nicht erst sieben Stunden lang herumgeflogen. Er hätte das Schlimmste möglichst bald hinter sich gebracht. Stella stand auf, raffte ihre Sachen zusammen und flüchtete unter einen Sonnenschirm. Viele Familien und Freunde der Verschollenen vergaßen, dass auch die Piloten Angehörige hatten, die nun unter demselben Albtraum litten: nichts zu wissen, keine gesicherten, ehrlichen Informationen zu bekommen und keine Hilfe. Den Familienmitgliedern wurden bereits im Sommer 50.000 Dollar als Kompensation angeboten. Stella erhielt nichts; sie war keine Ehefrau, nur eine Freundin. Auch dies musste ihr Ludwig unter die Nase reiben. Subtil natürlich, wie stets. Er durfte nie von den Panikattacken erfahren. Das wäre ein gefundenes Fressen für ihn. Stella bemühte sich redlich, ihr Leben in ruhigere Fahrwasser zu steuern. Was nicht funktionierte. Diese eine ungelöste Frage bestimmte ihr ganzes Dasein. Ihren Tagesablauf. Ihre Beziehungen zu anderen. Nicht zuletzt zu Leo. Dass Dean so brutal aus ihrem Leben gerissen worden war, stellte eine Wunde dar, die nicht zu heilen vermochte. Diese Reise mit Tesnik und Fletcher war die letzte Chance. Wenn diese neuerliche Suchaktion scheiterte, würde Stella sich mit dem Unvermeidlichen abfinden. Sie würde lernen, damit zurechtzukommen, dass sie nie erfahren würde, wo und wie Deans Leben geendet hatte. Stella beobachtete die Chinesinnen im Pool. Sie schwammen wie Entlein, die Hälse weit hochgereckt. Leise lächelnd dachte sie an Leo. Sie mochte ihn wirklich und freute sich über seine Besuche und Anrufe. Er wollte mehr, das konnte sie spüren. Seine Hilfe in Sachen Crowdfunding basierte natürlich auf Hintergedanken. Verständlich, dass er sich wünschte, sie könnte das Kapitel Dean abschließen, um mit ihm neu zu beginnen. Doch jetzt, da sie wieder in Asien war, diese andere, buntere, schnellere Lebensform um sich her pulsieren spürte, fühlte sie sich an das erinnert, was sie bei...