E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 206 mm
Schulz Dietrich Bonhoeffer: Keine Angst vor dem Leben
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7655-7743-7
Verlag: Brunnen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Biografische Momentaufnahmen des bekanntesten und prägendsten Theologen des 20. Jahrhunderts und einer der führenden Köpfe der Bekennenden Kirche.
E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 206 mm
ISBN: 978-3-7655-7743-7
Verlag: Brunnen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Uwe Schulz, geb. 1966, ist freier Autor und Journalist, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit Fragen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und politischen Entscheidungen in Vergangenheit und Gegenwart befasst. Regelmäßig ist er als Radio- und Podcast-Host vor allem im WDR-Angebot zu hören und immer wieder als Speaker, Gastprediger und Erzähler gehaltvoller Geschichten. Der gelernte Dipl.-Journalist, Medienmacher und -trainer ist verheiratet und im Herzen ein Kind des Ruhrgebiets.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
DAZUGEHÖREN
Gemeinschaft, die den Tod überdauert
Es gibt kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann.2
Dietrich Bonhoeffer
Er kann den anderen kaum erkennen neben sich in der Finsternis. Schwarzer Schatten vor grauer Wand. Nur wenn ein Lichtstrahl die Pappe vor dem Fenster durchsticht, blitzt das Gesicht des anderen kurz auf. Er weiß: Gleich folgt von allen Seiten ein Grollen, als würden sämtliche U-Bahnen der Stadt auf einmal durch den Bau rasen. Er hört, wie schwer der andere die Luft einzieht durch eine Kehle, in der die Angst krampft und würgt. Spürt das eigene Herz hämmern.
Hier haben sie etwas Schutz, sollte wieder eine Druckwelle einschlagen oder sich ein faustgroßer Steinbrocken hierher verirren. Beim Einschlag in die Wände klingen die feinsten Bombensplitter wie der Hagelsturm, der einmal aufs Verdeck seines Audi geprasselt ist, irgendwo auf dem Weg nach – war es Pölitz oder Gullnow? Wo immer das war. Es war in einem anderen Leben. Lange vor dem Krieg, der jetzt zurückgekommen ist in die Stadt, in der er geplant wurde.
Wieder haben die Schließer einen Gefangenen runtergebracht aus einer Zelle im dritten Stock, gleich als der Vollalarm in der Stadt losging, und ihn hier eingeschlossen.3 Die Gefangenen im zweiten müssen in ihren Zellen bleiben, dem Inferno ausgeliefert, das die Royal Air Force über die Hauptstadt bringt. Es regnet Feuer auf ein ganzes Land; sein Land, in das er freiwillig zurückgekehrt ist. Die nächste Welle von viermotorigen Bombern. Er hört das Schreien und Toben aus der Etage über sich, bis es ganz in der Nähe einschlägt. Ehe er nachgedacht hat, liegt er auf dem Bauch, den Kopf auf den Boden gepresst. Hört den anderen rufen: „Ach Gott, ach Gott!“, erinnert sich stumm an die ersten Verse aus dem Psalm, den er gestern noch gelesen hat: „HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. Mein Leben ist nahe dem Totenreich.“ Dietrich fühlt diesen Psalm in der Finsternis. Zu dem anderen, der irgendwo neben ihm liegt, sagt er nur: „Es dauert höchstens noch 10 Minuten.“4
Er will den anderen nicht alleinlassen in der Not. Er will ihm auch nicht irgendeinen frommen Satz sagen. Nicht angesichts der Todesangst des anderen, der sein „Gott, ach Gott!“ vergisst, sobald die Sirenen draußen Entwarnung heulen. So hat er es seine Studenten gelehrt, die jungen Pfarrer. So wird er es gleich am Morgen danach im nächsten geschmuggelten Brief seinem besten Freund Eberhard Bethge schreiben. (Eberhard wird in diesem Buch immer wieder zu Wort kommen. Weil wir ihm so viel Wissen verdanken über Dietrichs Leben.) In seinem Buch „Nachfolge“ hatte Dietrich 1937 noch geschrieben: „Jeder Versuch, mit eigener Macht etwas am anderen auszurichten, ist vergeblich und gefährlich. […] Die Verschleuderung der billigen Gnade wird der Welt zum Überdruß.“5 Dietrich weiß in dieser Bombennacht im Januar 1944, so hart wie damals würde er jetzt nicht mehr texten, auch wenn es heute so wahr ist wie vor sieben Jahren.
Ein O-Ton von Eberhard über Dietrich findet sich hier: https://www.zeitzeugen-portal.de/personen/zeitzeuge/eberhard_bethge.
Die Zeit vor der Angst
Damals, Mitte der 1930er – das ist wie ein anderes Leben. Das Leben vor dem Eingesperrtsein. Die Zeit vor dem Krieg, vor der Angst, die heute überall in diesem Gefängnis lauert, immer wieder auch in ihm selbst. Jetzt, 1944, das ist wie der praktische Teil der „Nachfolge“: Christlicher Glaube ist kein spirituelles Wellness-Programm. Christliches Leben bedeutet, die Welt so zu sehen, wie Jesus von Nazareth sie sieht: von unten. Das weiß Dietrich theoretisch, als er es 1937 im Buch „Nachfolge“ schreibt. Jetzt, 1944, mitten im Chaos, erlebt er es. Als er am Boden einer schmuddeligen Einzelzelle auf dem Bauch liegt.
Deshalb vielleicht zitiert Dietrich in dieser Nacht nicht den Bibelspruch, der ihm in den Sinn kommt. Er gibt dem anderen in der Zelle das, was ein Mensch in Panik braucht, der sonst nicht nach „Gott, ach Gott“ fragt: etwas, das ihn herausholt aus der Angst. Fakten. Dietrich sagt dem anderen die Tatsache, die auch ohne einen biblischen Wellness-Spruch gilt: Auch der längste Bombenangriff ist einmal zu Ende. Noch zehn Minuten, dann müssen wir uns nicht mehr fürchten.
Dietrich hat ein Gespür dafür entwickelt, wann ein frommes Wort angebracht ist. Er verteilt es nicht ungefragt. Er weiß, wer im Bau Sehnsucht danach hat. Die Seelsorger, die regelmäßig zu den Gefangenen dürfen, haben es ihm erzählt. In ihren Gebetsbüchern haben sie merkwürdigerweise keine Verse ausdrücklich für Menschen, die eingesperrt sind. Bonhoeffer gehört zu ihnen, er steckt mittendrin in einer Mischung aus Unruhe, Langeweile, Verwirrung, Grübelei – und findet immer wieder heraus. Aus der Ruhe seiner eigenen Meditation entstehen eine Handvoll Gebete, die er aufschreibt. Sie werden im Dezember 1943 in den anderen Zellen verteilt. Ein Weihnachtgeschenk.
„Gott, zu dir rufe ich am frühen Morgen
hilf mir beten und meine Gedanken sammeln;
ich kann es nicht allein
In mir ist es finster, aber bei dir ist Licht
ich bin einsam, aber du verläßt mich nicht
ich bin kleinmütig, aber bei dir ist Hilfe
ich bin unruhig, aber bei dir ist Frieden
in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist Geduld
ich verstehe deine Wege nicht,
aber du weißt den rechten Weg für mich.
Vater im Himmel,
Lob und Dank sei dir für die Ruhe der Nacht
Lob und Dank sei dir für den neuen Tag
Lob und Dank sei dir für alle deine Güte und Treue
in meinem vergangenen Leben.
Du hast mir viel Gutes erwiesen
laß mich nun auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen.
Du wirst mir nicht mehr auferlegen, als ich tragen kann.
Du läßt deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.“6
Dietrich verschenkt Gebete. Und er empfängt selbst dankbar Gebete. Es tut ihm gut, wenn der Gefängnispfarrer ihn am Ende des Besuchs segnet. Um 4:20 Uhr endlich die Entwarnung.
Vielleicht gehen in diesem Augenblick Dietrichs Gedanken zurück in das andere Leben. Zum Anfang des Weges, der hierhergeführt hat …
Sonne und Strand
Sommer 1934. Wie er dasitzt, die Arme vor den angewinkelten Knien verschränkt, der Blick durch die randlose Brille Richtung Sonne. Die Schuhabsätze in den Sand gestemmt, um Halt zu finden auf dem kleinen Hügel, der mal eine Düne werden will. Ja, Schuhe. Am Strand. Und Anzug mit Bügelfalte. Krawatte. Dietrich sitzt und guckt leger, und er ist dabei gut angezogen. Wie immer. Und wie an diesem Tag auch die anderen vier um ihn herum auf diesem Foto. Schließlich vertreten sie hier ihr Land. Ganz links zum Beispiel Inge, die es Jahrzehnte später schaffen wird, dass endlich auch Frauen Pfarrerinnen werden dürfen in der evangelischen Kirche, ohne Wenn und Aber.
Dietrich liebt den Strand. Die Wärme, wie er sie in Spanien genossen hat, 1929 auf Mallorca. Bei seinem Trip kurz rüber aus Barcelona, wo er in der deutschen Gemeinde als Vikar arbeitet. Nebenbei will er an seiner nächsten großen wissenschaftlichen Arbeit schreiben, um eines Tages Professor zu werden. Eigentlich sollte er daran schreiben. Er kommt nur kaum dazu: Er hat gut zu tun als Aushilfspastor, ständig bekommt er Einladungen zum Skat, zum Schach, zum Tennis, zu Essen … und dann ist ihm noch die Reise mit Klaus dazwischengekommen: erst mit der Bahn nach Madrid, Sevilla, Ronda. Dann mit dem Auto die Südküste entlang. Picknicken, wo du willst, schwimmen, wann du willst. Mit dem großen Bruder. Klaus hat gerade wieder Zeit. Den fertigen Abschluss in Jura in der Tasche und noch keinen Plan, wie es weitergehen soll. Schon ihre erste Reise war großartig, die Wochen in Italien. Bis nach Libyen haben sie sich rausgewagt, immer Richtung Hitze …
Dietrich liebt auch die Strände der Ostsee gleich hinter den Dünen des Seminar-Hauses, in dem er später selbst Vikare ausbildet. Die Erinnerungen seiner Studenten sind voller Strandbilder. Wie Dietrich sich reinhaut beim Steinstoßen und oft gewinnt; wie er sie immer wieder überrascht mit Kraft und Ausdauer beim Handball, mit der Power seiner knapp ein Meter neunzig, die er beim Schwimmen aufgebaut hat.
Pastor Bonhoeffer in Badehose, anders als jetzt im August 1934 auf dem Sandhügel …
Gospel am Prenzlauer Berg
An der theologischen Fakultät in Berlin erzählt man sich in diesem Sommer 1934 vielleicht eine Geschichte, die sich drei Jahre vorher ereignet haben muss, als Privatdozent Bonhoeffer Vorlesungen zur Systematischen Theologie gehalten hat. 1931 also sitzen seine Studenten im Seminarraum und warten. Dietrich kommt nicht. Das haben sie noch nie erlebt, nicht eine Minute Verspätung. Und jetzt ist er schon 20 Minuten überfällig … 25 Minuten, warum auch immer. Das Mobiltelefon ist noch nicht erfunden. Eine halbe Stunde. Sie überlegen schon, wieder zu gehen. Da öffnet er plötzlich die Tür, ohne Hektik, die Tasche mit dem Skript in der Hand, grüßt, geht...




