E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Schulz Versöhnung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03848-754-8
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten aus dem ganzen Leben
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-03848-754-8
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine grandiose Sammlung von Kurzgeschichten: 'Versöhnung' spürt den entscheidenden Momenten des Lebens nach. Den Momenten, in denen Menschen nicht mehr weiterwissen. In denen die Wirklichkeit sie vor radikale Entscheidungen stellt.
Autoren/Hrsg.
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Story Nr. 2
Vater
Sie hörte, wie die Schwester die breite Zimmertür hinter sich zuzog und das Durcheinander der leisen Geräusche auf dem Stationsflur mit sich nahm.
Klack.
Mit einem Schlag war es fast still.
Sie mit ihm allein im Raum.
Durch die breiten Lamellen der heruntergelassenen Jalousie drängten die Lichtstrahlen des voll erblühten Sommers ins Dunkel. Wie Wasser, das durch die brüchigen Planken eines altersschwachen Schiffes hereinströmt.
Wie Sandkörnchen, die durch die Finger rinnen,
dachte sie mit Blick auf die grellen Lichtstreifen im Fenster
und kniff ein wenig die Augen zusammen.
Dann wandte sie den Blick zum Kopfende des Bettes, das im Halbdunkel lag und ihren Augen die Mühe abverlangte, in der Dämmerung zu sehen.
Dort, wo sein knöchernes Gesicht reglos aus dem grellweißen Kissen ragte, wurden die Konturen langsam klarer.
Seine Nase, die sie als kleines Kind zuletzt aus dieser Perspektive gesehen hatte. Von unten.
Wie schmal sie ist.
Der Schnabel eines Raubvogels, der in die Luft sticht.
Sein Atem ging schwer trotz der Medikamente, die ihr die Schwester noch im Besprechungsraum aufgezählt hatte.
«… und ein hochwirksames Schmerzmittel für die letzte Phase.»
Sie sagen hier «letzte Phase» dazu.
Ihr Bruder hatte am Telefon gesagt, was man so sagt:
«Es geht zu Ende.»
Er hatte aber auch das gesagt, was sie fast zerrissen hätte:
«Bitte, überleg es dir noch einmal, Josi»,
– nur er nannte sie so, alle anderen riefen sie «Fine» –,
«komm her und verabschiede dich von ihm.
Es ist besser für dich.»
Nach seinem Anruf war sie ziellos im Haus herumgelaufen:
Besser für mich?
Besser für dich?
Besser für ihn?
Hoch ins Zimmer der Ältesten, um die Bettdecke aufzuschütteln, zum dritten Mal.
Hinüber ins Bad, um mit einem Kosmetiktuch über den kleinen blinden Fleck auf dem Spiegel zu wischen; sieben-, achtmal.
Wieder runter in die Küche, das frisch gewaschene und gefaltete Geschirrtuch auf der Arbeitsplatte neu falten und doch auf den Obstkorb legen.
Raus auf die Terrasse und zwei verblühte Köpfchen von den Tagetes zupfen.
Und noch einmal nach oben …,
bis das Meer, das in ihr tobte, sich endlich beruhigt hatte und sie sich in den Lesesessel vor dem kleinen Kachelöfchen hatte fallen lassen können.
Leergelaufen in den Beinen und im Kopf, erschöpft.
Aber endlich klar genug, um innezuhalten.
Sie war allein im Haus gewesen, die Kinder noch in der Schule; Mario auf einer Großbaustelle in Thüringen und erst am Tag danach zurück.
Gelegenheit für Josefine Fernandez, laut zu beten:
Sie lässt ihren Atem sich beruhigen, hält beide Hände offen hin,
wie sie es im Gebet immer tut:
«Papi»,
so nennt sie Gott, wenn sie unter sich sind.
Denn er ist der Papi, den sie nie hatte.
«Papi, du siehst, was in mir los ist. Ich bin durcheinander und traurig und – wütend und …»,
ihr gehen die Begriffe aus.
Sie beginnt, ihr Empfinden herauszusummen, bis die Worte wiederkommen.
«Und ich weiß nicht, was ich tun soll.
Soll ich ihn gehen lassen ohne Abschied?
Meinen – Vater?»
«Sie haben bestimmt schon einmal den Begriff gehört, Frau Fernandez»,
hatte die Schwester im Besprechungszimmer gesagt.
Sie hatte.
Seit ihrer Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin kannte sie die gängigen Fachbegriffe.
«Wir erleichtern ihm damit auch die Atmung.»
Vielleicht haben sie ihn aber auch so mit dem Opioid abgeschossen, dass er mich gar nicht mehr wahrnimmt.
Sie griff die Reling des Fußendes mit der linken Hand.
Behutsam, zaghaft, als könnte sie ihn doch versehentlich aufwecken. Ihr Bruder Richard war erfahrener mit der Situation, weniger vorsichtig mit dem Sterbenden. Hatte gerade noch in normaler Zimmerlautstärke gesprochen, sogar die von winzigen Fältchen durchzogene knochige Hand mit den blauen und roten Äderchen kurz berührt.
Jetzt wartete Richard draußen auf dem Flur.
«Ich bin hier, falls du mich brauchst»,
hatte er ihr gesagt und ihr einen sanften Kuss auf die Stirn gesetzt, bevor er das Zimmer verlassen hatte.
Zärtlich und ein bisschen ungelenk wie damals, als er sich um mich gekümmert hat. Josi, seine kleine Schwester. Weil es sonst niemand tat.
Er hat mir das Abendessen bereitet und mich bettfein gemacht.
Richard, mein einziger Trost. Sechs Jahre lang, bis du fortgezogen bist. Damals hast du mir denselben Satz gesagt zum Abschied:
«Falls du mich brauchst …, ruf mich an. Ich komme sofort.»
Sie hätte ihn jeden Tag gebraucht in dieser Höhle von Etagenwohnung, in der es kalt war und dunkel, in der ihr Vater jeden Tag neue verzerrte Schatten auf die kluftigen Wände warf und sie erschreckte. Jeden Tag, elf Jahre lang, die verstreichen mussten, bis sie endlich auch entkommen war mit dem ersten selbst verdienten MTA-Geld in das winzige Zimmer im Schwesternwohnheim der Klinik. Entkommen aus einer Wohnung voller Spielzeug und Süßigkeiten, aber ohne Sicherheit und Geborgenheit.
130 Quadratmeter, ausgefüllt mit seinem Ego.
Dort, wo unter der fast unerträglich weißen Decke ungefähr sein Bauch sein musste, auf halbem Weg zu seinem knöchernen Gesicht, blieb sie wieder stehen, um seinem Atem zu lauschen.
Das Geräusch ähnelte dem Schluchzen, das er wie auf Kommando hervorpressen konnte, wenn die kleine Josefine einmal gewagt hatte, ihm zu widersprechen:
«Keiner hat mich lieb», hat er dann gesagt,
in einer Ecke des Wohnzimmers zusammengesackt, schwer atmend wie ein entkräfteter Bergsteiger.
Ich war in der zweiten Klasse und wollte nur nicht das scheußliche Kleid anziehen, das deine Freundin mir aus dem C&A mitgebracht hatte,
erinnerte sie sich und folgte wie damals mit zwei Fingern der ausgeprägten Kontur ihrer eigenen Oberlippe.
«Fischlippen»,
so hatte er ihren Mund tatsächlich genannt, seit sie denken konnte.
Er hat meistens dazu gelacht,
weil sie in den ersten Jahren verdutzt geschaut hatte, später verunsichert und schließlich verletzt.
«Ach komm»,
hatte er sie dann oft gefoppt und ihr dabei mit dem Zeigefinger in die Flanke gestoßen:
«Lach mal, mein kleines Fischlippchen.»
Es waren die Lippen ihrer Mutter, die er an ihr erkannte; die er nicht mehr sehen wollte. Das hatte sie irgendwann begriffen, als sie in einem Karton im Keller Fotos aus der Anfangszeit gefunden hatte.
«Deine Mutter, die uns beide verlassen hat, weil sie uns nicht liebt. Weil du ihr eine Last warst. Papi bist du auch eine Last, aber er hat dich lieb»,
hörte sie ihn sagen, während sie seinem Atem lauschte.
Seine dürre Hand, die jetzt leblos auf der Matratze lag, hatte sie damals oft gespürt. In ihrem Gesicht. Schnell und hart und laut und brennend. Einmal sogar an ihrem Geburtstag, zu dem sie drei Klassenkameradinnen hatte einladen dürfen. Sie hatte das Bild jetzt wieder deutlich vor Augen:
Die beiden Patentanten saßen auch mit am Tisch. Und zu einer der beiden – Susanne, die an ausgeprägter Adipositas litt – hatte sie beim zweiten Stück Buttercremetorte im Übermut gesagt:
«Du wirst zu fett»,
so wie sie es ihren Vater schon einmal über die extrem ausladende Tante hatte sagen hören. Alle hatten erst auf die Tante geschaut, dann auf Fine, dann auf den Vater. Und geschwiegen. Kichernd die drei Mädchen, betroffen die beiden Tanten und seine Freundin, erstarrt ihr Vater.
Und dann hat er das übliche Ritual vollzogen:
«Josefine»,
so nannte er mich, wenn er seinen Ärger betonen wollte,
«du weißt, was jetzt kommt.»
Sie wusste es bis heute:
Aufstehen, um den Tisch herumgehen, sich neben seinen Stuhl stellen, ihn ansehen:
«Sieh mir ins Gesicht, du kleines Aas!»
Und auf den Schlag warten.
Manchmal zögerte er ihn hinaus. Kommentierte noch für das Publikum die zähe Zeit zwischen Antreten und Ohrfeige:
«Ja, so sieht Vorfreude aus!»
Oder:
«Mir tut das auch weh, aber wir können hier am Tisch nicht fröhlich weiteressen, wenn wir das nicht vorher in Ordnung gebracht haben.»
Manchmal hat am Tisch jemand geschnauft, missbilligend wahrscheinlich. Aber nie ist einer aufgestanden und hat gesagt:
«Es reicht!»
Dann war der Schmerz gekommen; stärker brennend jedes Mal aufs Neue dort, wo ein kleiner Rest von Vertrauen in einer Nische ihrer Seele gekauert hatte.
Der Schmerz riss die tief gründende Wurzel der Zuneigung aus ihrem Fleisch, und sie brauchte oft Tage, um dieser Wurzel wieder einen Halt zu verschaffen.
Ich musste immer tiefer graben, immer mehr Schutt und Staub beiseiteräumen mit bloßen, blutigen Fingern, um noch ein wenig fruchtbare Erde zu finden, in der diese Wurzel hätte austreiben können.
So stand es in ihrem Tagebuch, das sie angelegt hatte, um begreifen zu können, was sie auch mit Anfang dreißig noch so sehr schmerzte.
Da hatte sie den Kontakt schon längst abgebrochen zu ihm.
«Kind, wie kannst du mir das antun?»,
stand in seinem letzten Brief.
«Etwas scheint zwischen uns zu stehen. Das sollten wir klären, denn sonst werden wir beide...




