E-Book, Deutsch, 560 Seiten
See Die Geschichte der Lady Tan
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98941-097-8
Verlag: Gutkind Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Ein kraftvoller historischer Roman der New-York-Times-Bestsellerautorin.
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-98941-097-8
Verlag: Gutkind Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lisa See, geboren in Paris, aufgewachsen in Los Angeles in Chinatown, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und internationale Bestseller-Autorin. Sie entstammt einer chinesisch-amerikanischen Familie und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Auszeichnungen.
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Leben heisst …
»Tausend Jahre in die Vergangenheit, tausend Jahre in die Zukunft – ganz egal, wo du lebst und wie reich oder arm du bist – die vier Phasen im Leben einer Frau bleiben immer die gleichen«, sagt Ehrwürdige Lady. »Du bist ein kleines Mädchen, also befindest du dich noch in den Milchtagen. Wenn du fünfzehn wirst, kommt die Zeit des Haarehochsteckens. Deine Haartracht wird der Welt verkünden, dass du bereit für die Ehe bist.« Sie lächelt mich an. »Sag mir, Tochter, was kommt danach?«
»Die Reis-und-Salz-Tage«, antworte ich pflichtbewusst, aber ich bin nicht bei der Sache. Meine Mutter und ich sitzen auf Porzellanhockern in einem überdachten Säulengang im Hof unseres Anwesens. Es ist Monsunzeit, und das kleine Stückchen Himmel, das ich sehen kann, ist wolkenverhangen. Die Luft ist feucht und schwül. Zwei Zwergorangenbäumchen in identischen Töpfen stehen nebeneinander. In anderen Gefäßen blühen Cymbidien, deren Stiele sich unter dem Gewicht der Blüten neigen. Bald wird es regnen, aber noch zwitschern Vögel in dem Ginkgo, der an diesem Sommertag für ein kleines bisschen Kühle sorgt, und ich kann das Meer riechen – bisher kenne ich es allerdings nur von Gemälden. Doch der Duft überdeckt nicht den unangenehmen Geruch, der von Ehrwürdiger Ladys gebundenen Füßen ausgeht.
»Du bist mit deinen Gedanken woanders.« Ihre Stimme klingt so schwach, wie ihr Körper wirkt. »Du musst aufpassen.« Sie nimmt meine Hand. »Hast du heute Schmerzen?« Ich nicke. »Die Erinnerungen an die Qualen, die du während deines Füßebindens verspürt hast, werden dich nie ganz verlassen. Von jetzt an bis zu deinem Tod wird es Tage geben, an denen die Schmerzen wiederkommen – wenn du zu lange gestanden hast oder zu weit gelaufen bist, wenn ein Wetterwechsel bevorsteht, wenn du deine Füße nicht ordentlich pflegst.« Mitfühlend drückt sie meine Hand. »Wenn sie pochen oder brennen, denk immer daran, für deinen Ehemann stellt dein Leiden den Beweis deiner Liebe dar. Wenn du deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtest, lenkt dich das von den Schmerzen ab.«
Meine Mutter ist weise, deshalb sprechen sie alle bei uns im Haus, auch mein Bruder Yifeng und ich, mit »Ehrwürdige Lady« an, dem Ehrentitel, der ihr als Ehefrau eines Mannes vom hohen Rang meines Vaters zukommt. Sie merkt mir an, dass ich abgelenkt bin, aber ich meine, sie ist es auch. Der Gesang einer Frau dringt zu uns herüber. Konkubine Zhao unterhält wohl gerade meinen Vater und seine Gäste.
»Du weißt doch, wie du dich konzentrieren kannst … wenn du es willst«, fährt meine Mutter schließlich fort. »Diese Fähigkeit, sich völlig von etwas in Anspruch nehmen zu lassen, ist unsere Rettung.« Sie hält einen Augenblick inne, als uns das Gelächter von Männern – die Stimme meines Vaters ist unter den Beifallsbekundungen deutlich herauszuhören – wie ein Nebel umfängt. Dann fragt sie: »Wollen wir fortfahren?«
Ich atme durch. »Die Reis-und-Salz-Tage sind die wichtigsten Jahre im Leben einer Frau. Dann werde ich mit den Pflichten einer Ehefrau und Mutter beschäftigt sein …«
»So wie ich jetzt.« Ehrwürdige Lady neigt anmutig den Kopf, sodass der Gold- und Jadeschmuck, der an ihrem Haarknoten hängt, leise klingelt. Wie bleich sie ist, wie elegant! »Jeder Tag sollte in aller Frühe beginnen. Ich stehe vor Sonnenaufgang auf, wasche mir das Gesicht, spüle mir den Mund mit duftendem Tee, versorge meine Füße, richte meine Frisur und schminke mich. Dann gehe ich in die Küche und sehe nach, ob die Dienerinnen das Feuer angefacht und mit der Zubereitung der Morgenmahlzeit begonnen haben.«
Sie lässt meine Hand los und seufzt, als hätte das viele Sprechen sie angestrengt. Bevor sie fortfährt, holt sie tief Luft. »Dir diese Aufgaben einzuprägen, ist ein wichtiger Bestandteil deiner Erziehung, aber du kannst das alles auch lernen, indem du zusiehst, wie ich die Arbeiten überwache, die jeden Tag verrichtet werden müssen: Brennstoff und Wasser hereinholen, eine großfüßige Dienerin zum Markt schicken, dafür sorgen, dass die Kleidung – auch die Gewänder von Konkubine Zhao – gewaschen wird, und viele andere Dinge, die unerlässlich für die Führung eines Haushalts sind. Und was noch?«
Sie unterrichtet mich bereits seit vier Jahren in diesen Dingen, und ich weiß, welche Antwort sie von mir hören möchte. »Sticken, Zither spielen und die Sprüche aus Analekten für Frauen lernen …«
»Und auch aus anderen Schriften, damit du, wenn du zu deinem Mann ziehst, genau weißt, was du alles tun und was du vermeiden musst.« Sie verlagert das Gewicht auf ihrem Hocker. »Zuletzt erreichst du die Zeit des Stillsitzens. Weißt du, was das bedeutet?«
Vielleicht liegt es an meinen Schmerzen, aber die Vorstellung von der Traurigkeit und Einsamkeit während des Stillsitzens lässt mir Tränen in die Augen steigen. »Diese Zeit kommt, wenn ich keine Kinder mehr auf die Welt bringen kann …«
»Und sie reicht bis in den Witwenstand hinein. Du wirst diejenige sein, die nicht gestorben ist und darauf wartet, dass der Tod dich wieder mit deinem Ehemann vereint. Das ist …«
Eine Dienerin bringt ein Tablett mit Häppchen, sodass meine Mutter und ich den Unterricht über Mittag ohne Pause fortsetzen können. Zwei Stunden später bittet mich Ehrwürdige Lady, die Regeln zu wiederholen, die wir bereits durchgesprochen haben.
»Beim Gehen wende ich nicht den Kopf«, zähle ich auf, ohne zu protestieren. »Beim Sprechen öffne ich den Mund nicht weit. Beim Stehen raschle ich nicht mit den Kleidern. Im Glück lache ich nicht laut und freudig. Im Zorn erhebe ich niemals die Stimme. Ich werde jeden Wunsch unterdrücken, mich über die inneren Gemächer hinaus zu wagen. Diese Räume sind allein den Frauen vorbehalten.«
»Sehr gut«, lobt mich Ehrwürdige Lady. »Denke immer an deinen Platz in der Welt. Wenn du diesen Regeln folgst, wirst du dich als treuer, anständiger Mensch erweisen.« Sie schließt die Augen. Auch sie hat Schmerzen. Nur ist sie zu sehr Lady, um darüber zu sprechen.
Das Kreischen meines kleinen Bruders unterbricht unseren gemeinsamen Augenblick. Yifeng kommt über den Hof gerannt. Seine Mutter, Konkubine Zhao – die nun nichts mehr vor den Gästen aufführen muss – gleitet hinter ihm her. Sie hat ebenfalls gebundene Füße und macht damit so kleine Schritte, dass man den Eindruck bekommt, sie schwebe wie …
»Wie ein Geist«, flüstert meine Mutter, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Yifeng stürzt auf meine Mutter zu, vergräbt das Gesicht in ihrem Schoß und kichert. Konkubine Zhao mag zwar seine leibliche Mutter sein, aber Ehrwürdige Lady ist nicht nur seine Ritualmutter, sondern sie hat ihn offiziell als ihren Sohn adoptiert. Das bedeutet, dass Yifeng Opfergaben bringen und alle Rituale und Zeremonien durchführen wird, wenn meine Mutter und unser Vater zu Ahnen im Jenseits geworden sind.
Meine Mutter zieht Yifeng zu sich auf den Schoß und wischt seine Schuhsohlen mit der Hand ab, damit sie keinen Schmutz oder Staub auf ihrem seidenen Gewand hinterlassen.
»Das ist alles, Konkubine Zhao.«
»Ehrwürdige Lady.« Mit einem höflichen Nicken zieht sich die Konkubine leise aus dem Hof zurück.
Meine Mutter beginnt nun mit dem Nachmittagsunterricht, den Yifeng und ich gemeinsam bekommen. Wir werden jeden Tag zusammen lernen, bis er sein siebtes Jahr erreicht, denn dann, so schreibt es das Buch der Riten vor, sollen Jungen und Mädchen nicht mehr auf derselben Matte sitzen oder am selben Tisch essen. Wenn es so weit ist, wird Yifeng unsere Runde verlassen und in der Bibliothek von Privatlehrern unterrichtet, die ihn auf die kaiserlichen Prüfungen vorbereiten.
»In einem Haushalt sollte stets Harmonie herrschen, aber jeder weiß, wie schwer das ist«, beginnt Ehrwürdige Lady. »Schließlich ist das Zeichen für Ärger zusammengesetzt aus dem Zeichen für Dach und den Zeichen für zwei Frauen darunter, während das Zeichen für eine Frau unter einem Dach …«
»Frieden bedeutet«, antworte ich.
»Gut. Ein Schwein unter einem Dach steht für …«
»Gefängnis.«
»Es gibt kein Schriftzeichen mit einem Mann unter einem Dach. Ob Tier, ob Frau, wir sind das Besitztum eines Mannes. Wir Frauen sind dazu da, um ihm Erben zu schenken und ihn zu ernähren, zu kleiden und zu unterhalten. Vergesst das nie.«
Während mein Bruder einfache Gedichte aufsagt, setze ich meine Stickarbeit fort. Ich hoffe, es gelingt mir, meine Enttäuschung zu verbergen. Ich weiß, dass nicht allein Konkubine Zhao meinen Vater und seine Freunde unterhalten hat. Auch Yifeng wurde vorgezeigt. Wenn er jetzt eine Zeile vergisst, blickt Ehrwürdige Lady rasch zu mir, damit ich sie für ihn vervollständige. So lerne ich gleichzeitig, was er lernt. Weil ich älter bin, bin ich viel besser im Auswendiglernen. Ich kann sogar Wörter und Bilder aus Gedichten in meinen Gedanken verwenden und sie benutzen, wenn ich spreche. Doch heute gerate ich bei einer Zeile ins Stocken. Ehrwürdige Lady schürzt die Lippen. »Du wirst dich nicht den kaiserlichen Prüfungen unterziehen oder ein Gelehrter werden wie dein Bruder«, erklärt sie, »aber eines Tages wirst du die Mutter von Söhnen sein. Um ihnen in der Zukunft bei ihren Studien helfen zu können, musst du jetzt alles lernen.« Es versetzt mir einen Stich, sie zu enttäuschen, denn an guten Tagen kann ich Gedichte aus dem...




