Setterfield | Was der Fluss erzählt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Setterfield Was der Fluss erzählt

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-21379-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-641-21379-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine stürmische Winternacht im ländlichen England des späten 19. Jahrhunderts: In der uralten Gaststube des 'Swan' sitzen die Bewohner von Radcot zusammen und wärmen sich an ihren Geschichten und Getränken, als ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen Mädchen im Arm hereinstolpert. Eine Krankenschwester wird gerufen, die nur noch den Tod des Kindes feststellen kann. Als sie jedoch ein paar Stunden später die Todesursache festzustellen versucht, bemerkt sie, dass das Kind atmet und sich bewegt. Ein Wunder? Oder etwa Zauberei? Oder gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung? Und woher kommt das Mädchen?

Ein stimmungsvoller Roman, der einen davonträgt wie ein Fluss, in eine Welt, in der Imagination und Wirklichkeit sich überlagern.

Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, 'Die dreizehnte Geschichte' (Blessing, 2007), war ein internationaler Bestseller und wurde mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle von der BBC verfilmt. Diane Setterfield lebt in Oxford.

Setterfield Was der Fluss erzählt jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Die Geschichte beginnt …

ES WAR EINMAL EIN WIRTSHAUS, das stand friedlich in Radcot, am Ufer der Themse, etwa vierzig Meilen stromabwärts von der Quelle. Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, gab es nicht wenige Schenken am Oberlauf des Flusses, und in jeder davon konnte man sich betrinken, doch über Bier und Apfelwein hinaus wartete eine jede mit ihrem ureigenen Angebot auf. Im Red Lion in Kelmscott beispielsweise gab es Musik: Kahnführer spielten abends auf ihren Fiedeln, Käser sangen schmachtend von Liebesleid. In Inglesham gab es den Green Dragon, eine von Tabakduft erfüllte Oase der Behaglichkeit. Freunden des Glücksspiels empfahl sich der Stag in Eaton Hastings; wer Radau und einen guten Schlagabtausch zu schätzen wusste, kam im Plough am Rande von Buscot auf seine Kosten. Der Swan, ebenfalls in Radcot, lockte mit einer Besonderheit, die es so nirgends sonst gab: Dort kehrte man ein, um sich Geschichten zu erzählen.

Der Swan war ein uraltes Wirtshaus, vielleicht das älteste überhaupt. Das Gebäude war dreigeteilt, ein Teil alt, einer sehr alt und einer noch ein gutes Stück älter. Diese Teile nun fügten das Stroh, das sie alle bedachte, die Flechte am Gemäuer und der Efeu, der die Wände berankte, zu einem Ganzen zusammen. Im Sommer reisten die Tagesausflügler mit der neuen Eisenbahn aus den Städten an, um im Swan einen Stechkahn oder ein Ruderboot zu mieten und den Nachmittag mit Bier und einem Picknick auf dem Fluss zu verbringen; im Winter hingegen fanden sich nur Zecher aus der Gegend ein, und die versammelten sich in der Winterstube, einem schlichten Raum im ältesten Teil des Hauses, mit einem einzigen Fenster im dicken Mauerwerk. Bei Tageslicht bot dieses Fenster einen Blick auf die Radcot Bridge und den Fluss, der durch ihre drei stattlichen Bögen floss. Bei Nacht versank die Brücke in der Dunkelheit, und nur wenn einem das tiefe, grenzenlose Rauschen großer, bewegter Wassermassen ans Ohr schlug, konnte man orten, wo dort draußen vor dem Fenster strudelnde Tintenschwärze vorüberströmte, mit ihrem ureigenen dunklen Glanz.

Niemand weiß so recht zu sagen, was einst im Swan die Tradition des Geschichtenerzählens ins Leben gerufen hatte – gut möglich, dass es die Schlacht an der Radcot Bridge war. 1387, fünfhundert Jahre vor der Nacht, in der unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, trafen an der Radcot Bridge zwei große Armeen aufeinander. Wer, weshalb, warum sprengt unseren Rahmen und tut nichts zur Sache, nur, dass am Ende drei Mann – ein Ritter, ein Knappe und ein Bursche – im Kampfgetümmel fielen und achthundert Seelen beim Fluchtversuch im Moor ertranken. Ganz richtig. Achthundert Seelen. Reichlich Stoff für Geschichten. Ihre Gebeine ruhen dort, wo jetzt Brunnenkresse wächst. In der Gegend von Radcot ziehen die Leute Brunnenkresse, karren ihre Ernte auf Kähne und verschiffen sie in die Städte; dabei wäre keiner von ihnen auf die Idee verfallen, sie selbst zu essen. Sie schmecke bitter, bemängelten sie, so bitter, dass es einem die Zunge zusammenziehe, und überhaupt, wer wolle schon Blätter essen, die sich von Geistern nährten? Wenn sich eine solche Schlacht vor deiner eigenen Haustür zuträgt und die Toten einem das Trinkwasser vergiften, berichtet man natürlich davon, immer wieder aufs Neue. Kraft der Wiederholung wird man im Erzählen versiert. Und dann, nachdem die Krise vorüber ist und man sich wieder anderen Dingen zuwenden kann, was läge da näher, als seine neue Fertigkeit an anderen Stoffen zu erproben?

Margot Ockwell war die Wirtin im Swan. So weit man zurückdenken konnte, wahrscheinlich seit Bestehen der Schenke, hatten Ockwells den Swan geführt. Vor dem Gesetz hieß die derzeitige Wirtin seit ihrer Vermählung Margot Bliss, doch das Gesetz war etwas für die Stadt; hier im Swan blieb sie eine Ockwell. Margot war eine stattliche Frau Ende fünfzig. Sie konnte ohne Hilfe Fässer heben und besaß so stämmige Beine, dass sie nie das Bedürfnis verspürte, sich zu setzen. Es ging das Gerücht, sie schlafe sogar im Stehen; andererseits hatte sie zwölf Kindern das Leben geschenkt, hier und da musste sie sich also hingelegt haben. Sie war die Tochter der letzten Wirtin sowie Enkelin und Urenkelin der Schankfrauen davor, folglich dachte sich in Radcot niemand etwas dabei, dass im Swan Frauen das Zepter schwangen. So war es eben, so war es schon immer gewesen.

Margots Mann hieß Joe Bliss. Er stammte aus Kemble, einem Ort fünfundzwanzig Meilen stromaufwärts, einen Katzensprung von der Stelle entfernt, an welcher der Fluss in einem so dünnen Rinnsal aus dem Boden sickert, dass er kaum mehr als ein feuchter Fleck in der Erde ist. Die Blisses waren von Natur aus schwach auf der Brust. Sie kamen klein und kränklich zur Welt, und die meisten schafften es nicht einmal bis zur Volljährigkeit. Mit dem Wachstum zogen sich Bliss-Kinder in die Länge und wurden dabei immer blasser, bis sie vollends den Geist aufgaben, gewöhnlich vor dem zehnten Lebensjahr, oft schon vor dem zweiten. Wer überlebte, so auch Joe, blieb, obgleich ausgewachsen, kleiner und schmächtiger als der Durchschnitt. Im Winter rasselte es ihnen in der Brust, lief ihnen die Nase und tränten ihnen die Augen. Sie waren freundlich, mit sanftem Blick und einem freigiebigen, lausbübischen Lächeln.

Mit achtzehn hatte Joe – als Waise, zudem untauglich für körperliche Arbeit – Kemble verlassen, um sein Glück zu machen, wenn auch ohne zu wissen womit. Von Kemble aus kann ein Mann ebenso viele Richtungen einschlagen wie überall sonst auf der Welt, doch der Fluss hat seinen Sog; man musste schon ziemlich verdreht sein, um ihm nicht zu folgen. So kam Joe – wenig verwunderlich – nach Radcot und kehrte, weil er durstig war, dort ein. Der schmächtige junge Mann mit dem schlaffen schwarzen Haar, das sich von der Blässe seiner Haut abhob, saß unbeachtet da, teilte sich sein Bier in kleine Schlucke ein, bewunderte die Wirtsfrau und lauschte der einen oder anderen Erzählung. Es fesselte ihn zu hören, wie andere die Art Geschichten laut zum Besten gaben, die ihm seit seiner Kindheit im Kopf herumspukten. Als einmal Stille eintrat, machte er den Mund auf, und heraus kam Es war einmal …

An jenem Tag erkannte Joe Bliss seine Bestimmung. Die Themse hatte ihn nach Radcot geführt, und in Radcot blieb er. Mit ein wenig Übung, stellte er fest, ging ihm jede Geschichte mühelos von der Zunge, ob Kostproben aus der Gerüchteküche, aus dem Fundus der Geschichte, aus der Welt der Sage, der Folklore oder dem Märchen. So, wie er mit seiner lebhaften Mimik Überraschung, Beklommenheit, Erleichterung, Zweifel und jede andere Regung zum Ausdruck brachte, konnte er es mit dem besten Schauspieler aufnehmen. Und erst seine Augenbrauen! Dicht und schwarz, zogen sie einen nicht minder in ihren Bann als seine Worte. Kam etwas Bedeutsames, zogen sie sich zusammen, verdiente ein Umstand besondere Beachtung, zuckten sie, und wenn eine Figur vielleicht nicht der Mensch war, der sie zu sein schien, schnellten sie empor. Achtete man nur auf seine Brauen und wusste ihren virtuosen Tanz zu deuten, wurden einem viele Dinge klar, die einem sonst entgangen wären. Binnen weniger Wochen, die er im Swan einkehrte, hatte er seine Zuhörer gebannt. Auch Margot schlug er in seinen Bann, und sie ihn in ihren.

Nach Ablauf eines Monats lief Joe sechzig Meilen zu einem Ort weitab vom Fluss, wo er bei einem Wettbewerb eine Geschichte vortrug. Natürlich gewann er den ersten Preis, und vom Gewinn kaufte er einen Ring. Aschfahl vor Erschöpfung, kam er zurück und sank für den Rest der Woche ins Bett, bevor er niederkniete und um Margots Hand anhielt.

»Ich weiß nicht …«, sagte ihre Mutter. »Kann er zupacken? Kann er einen Lebensunterhalt verdienen? Wie will er für eine Familie sorgen?«

»Sieh dir doch die Einnahmen an«, führte Margot ins Feld. »Und wie sich das Geschäft belebt hat, seit Joe seine Geschichten erzählt. Wenn ich ihn nicht heirate, Mama, könnte er woandershin gehen. Und was dann?«

Sie hatte recht. Die Leute kehrten seitdem öfter in der Schenke ein, noch dazu von weiter her, und sie blieben auch länger, um Joes Geschichten zu Ende zu hören. Und alle zechten. Die Geschäfte gingen gut.

»Aber bei all den starken, gut aussehenden jungen Männern, die kommen und die dich so verehren – wäre da kein besserer zu finden?«

»Ich will Joe«, sagte Margot mit Nachdruck. »Ich mag die Geschichten.«

Sie setzte sich durch.

Das alles geschah fast vierzig Jahre vor den Ereignissen dieser Geschichte, und inzwischen hatten Margot und Joe eine vielköpfige Familie großgezogen. In zwanzig Jahren hatten sie elf stramme Töchter in die Welt gesetzt. Alle hatten sie Margots dickes braunes Haar und ihre stämmigen Beine. Sie wuchsen zu drallen jungen Frauen heran, allesamt Frohnaturen, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Inzwischen waren sie samt und sonders unter der Haube. Eine war ein wenig dicker, die andere ein wenig dünner, eine etwas größer, die nächste etwas kleiner, eine hatte etwas dunkleres, die andere etwas blonderes Haar, doch ansonsten glichen sie sich so sehr, dass die Zecher sie nicht auseinanderhalten konnten und, wenn sie zurückkamen, um bei Hochbetrieb in der Schankstube auszuhelfen, sie alle der Einfachheit halber Little Margot nannten. Nachdem all diese Mädchen zur Welt gekommen waren, trat im Familienleben von Margot und Joe eine Flaute ein, und beide gingen schon davon aus, dass die Jahre des Gebärens zu Ende seien, doch dann kam die letzte...


Setterfield, Diane
Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, »Die dreizehnte Geschichte« (Blessing, 2007), war ein internationaler Bestseller und wurde mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle von der BBC verfilmt. Diane Setterfield lebt in Oxford.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.