Shafak Die vierzig Geheimnisse der Liebe
1. Auflage, neue Ausgabe 2013
ISBN: 978-3-0369-9223-5
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 512 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9223-5
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ella ist vierzig Jahre alt, hat einen Ehemann, drei Kinder im Teenageralter und ein schönes Zuhause in einer amerikanischen Kleinstadt. Eigentlich sollte sie glücklich sein, in ihrem Herzen breitet sich aber eine Leere aus, die früher von Liebe gefüllt war. Als Gutachterin für eine Literaturagentur taucht sie tief in einen Roman über den Sufi-Dichter und Mystiker Rumi und die vierzig ewigen, geheimnisvollen Regeln der Liebe ein. Trotz der Ansiedlung im 13. Jahrhundert scheint ihr der Roman immer mehr eine Spiegelung ihrer eigenen Geschichte zu sein. Zusehends distanziert von ihrem Ehemann, beginnt Ella, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. Sie besucht den Verfasser des Buches, Aziz Zahara, mit dem sie sich schriftlich schon rege und sehr persönlich ausgetauscht hat - und erfährt eine derart grundlegende persönliche Veränderung, wie sie es sich nie hätte ausmalen können.
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DER MÖRDER
ALEXANDRIA, NOVEMBER 1252
Blut im Brunnen. Tot liegt er nun im dunklen Wasser. Doch sein Blick folgt mir überallhin, der Blick aus diesen glänzenden, beeindruckenden Augen, die wie zwei dunkle Sterne unheilvoll droben am Himmel stehen. Ich kam nach Alexandria in der Hoffnung, der grellen Erinnerung zu entfliehen, wenn ich nur weit genug reiste, und den Klageruf zum Verstummen zu bringen, der in meinem Kopf widerhallt, diesen Schrei, den er ausstieß, bevor sein Gesicht vom Blut überströmt wurde, seine Augen aus den Höhlen traten und seine Kehle sich mitten im letzten Atemzug schloss. Den Abschied eines erstochenen Mannes. Das Heulen eines in die Enge getriebenen Wolfs.
Wenn man tötet, geht etwas vom Opfer auf einen selbst über – ein Seufzer, ein Geruch oder eine Geste. Ich nenne das den »Fluch des Opfers«. Es haftet am eigenen Körper, sickert in die Haut und bis zum Herz und lebt im Inneren fort. Die Leute, die mich auf der Straße sehen, können es nicht wissen, aber ich bin gezeichnet von den Spuren aller Menschen, die ich je getötet habe. Ich trage sie um den Hals wie unsichtbare Ketten, spüre, wie sie auf meiner Haut scheuern und schwer auf mir lasten. Aber so unbehaglich es auch ist, ich habe mit dieser Bürde zu leben gelernt und sie als Teil meines Berufs angenommen. Seit Kain den Abel erschlug, atmet in jedem Mörder der Mensch, den er gemordet hat, das weiß ich genau. Es stört mich nicht. Nicht mehr. Aber warum war ich dann so aufgewühlt nach diesem letzten Mal?
Bei dieser Sache war von Anfang an alles anders. Wie ich an den Auftrag kam, beispielsweise. Oder sollte ich sagen, wie der Auftrag zu mir kam? Im Vorfrühling 1248 arbeitete ich in Konya für einen Bordellwirt, einen für seinen ungezügelten Jähzorn berüchtigten Hermaphroditen. Mir oblag es, die Huren im Griff zu behalten und rüpelhaften Freiern ein wenig Achtung einzubläuen.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag. Ich war auf der Jagd nach einer Hure, die aus dem Bordell geflohen war, um Gott zu suchen. Sie war eine schöne junge Frau, was mir irgendwie das Herz zerriss, denn sobald ich sie eingeholt hätte, würde ich ihr Gesicht so zurichten, dass es niemals mehr einem Mann in den Sinn käme, sie anzusehen. Ich hatte die törichte Frau schon fast wieder eingefangen, da entdeckte ich auf meiner Türschwelle einen geheimnisvollen Brief. Weil ich nie lesen gelernt habe, trug ich ihn zur Madrasa und ließ ihn mir gegen Bezahlung von einem Schüler vorlesen.
Der Brief war anonym, unterschrieben »von einigen wahren Gläubigen«.
»Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, woher du kommst und wer du in Wirklichkeit bist«, stand in dem Brief. »Ein ehemaliges Mitglied der Assassinen! Noch dazu wissen wir, dass dieser Orden nach dem Tod Hasan-i-Sabbahs und der Einkerkerung eurer Anführer nicht mehr das ist, was er einst war. Du bist nach Konya gekommen, um der Verfolgung zu entgehen, und hast dich von Anfang an in der Kunst der Verstellung geübt.«
In einer äußerst wichtigen Sache, hieß es in dem Schreiben, benötige man dringend meine Dienste. Die Bezahlung würde zu meiner Zufriedenheit ausfallen. Bei Interesse sollte ich mich noch am selben Abend nach Einbruch der Dunkelheit in einer bekannten Schenke einfinden. Dort sollte ich mich an den Tisch gleich beim Fenster setzen, und zwar mit dem Rücken zur Tür, den Kopf gesenkt halten und den Blick auf den Boden richten. Schon nach kurzer Zeit würde sich mein Auftraggeber – oder meine Auftraggeber – einfinden und mich mit allem, was ich wissen müsse, versorgen. Weder bei ihrem Eintreffen noch bei ihrem Weggang und auch nicht während des Gesprächs dürfte ich den Blick heben und ihre Gesichter betrachten.
Der Brief war merkwürdig. Andererseits war ich es gewohnt, mit den Marotten von Kunden umzugehen. Im Lauf der Jahre hatte ich von allen möglichen Leuten Aufträge erhalten, und die meisten wollten ihren Namen verheimlichen. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass der Wunsch, die eigene Person zu verschleiern, umso größer war, je näher das Opfer dem Auftraggeber stand, aber das ging mich nichts an. Meine Aufgabe war es zu töten, und nicht, die Gründe dafür herauszufinden. Seit ich Alamut vor einigen Jahren verließ, ist dies das Leben, das ich selbst gewählt habe.
Ich stelle ohnehin kaum Fragen. Warum auch? Mindestens einen Menschen wären die meisten Leute, die ich kenne, gern los. Dass sie nichts unternehmen, heißt nicht unbedingt, dass sie gegen den Wunsch zu töten gefeit sind. Jeder hat die Fähigkeit in sich, irgendwann einen anderen umzubringen. Aber das verstehen die Leute erst, wenn es passiert. Sie halten sich für unfähig zu morden. Dabei ist es nur eine Frage der Umstände. Manchmal reicht schon eine Geste, um den Zorn zu entfachen. Schon ein mutwilliges Missverständnis, ein Streit um nichts und wieder nichts oder einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, kann in normalerweise guten, anständigen Menschen etwas Zerstörerisches auslösen. Jeder kann töten. Aber nicht jeder kann kaltblütig einen Fremden töten. Und genau da komme ich ins Spiel.
Ich erledigte die dreckige Arbeit für andere. Selbst Gott erkannte, dass es in Seinem heiligen Plan Menschen wie mich geben muss, denn Er übertrug Azrael, dem Erzengel des Todes, die Aufgabe, das Leben der Menschen zu beenden. So fürchteten, verfluchten und hassten die Menschen den Engel, während Seine Hände rein und Sein Name unbefleckt blieb. Das war dem Engel gegenüber ungerecht. Aber diese Welt ist ja auch nicht für ihre Gerechtigkeit bekannt …
Als es dunkel wurde, ging ich zu der Schenke. Zufällig saß am Tisch beim Fenster ein narbengesichtiger Mann, der tief zu schlafen schien. Zuerst wollte ich ihn wecken und ihm sagen, er solle sich verziehen, aber bei Betrunkenen weiß man ja nie, und ich durfte auf keinen Fall zu viel Aufmerksamkeit erregen. Deshalb setzte ich mich an den Nebentisch, mit dem Gesicht zum Fenster.
Kurz darauf kamen zwei Männer und ließen sich rechts und links von mir nieder, um ihre Gesichter nicht zeigen zu müssen. Aber ich brauchte sie nicht erst anzusehen, um zu wissen, dass sie ganz jung waren und bar jeder Vorstellung, was sie erwartete.
»Du bist uns besonders empfohlen worden«, sagte der eine, eher zögerlich als ängstlich. »Angeblich bist du der Beste.«
Aus seinem Mund klang das komisch, doch ich verkniff mir ein Grinsen. Ich spürte, dass sie Angst vor mir hatten, und das war gut. Wenn sie ängstlich genug waren, würden sie es nicht wagen, sich mit mir anzulegen.
»Ja«, sagte ich, »ich bin der Beste. Deshalb nennt man mich Schakalkopf. Ich habe noch nie einen Kunden enttäuscht, ganz gleich, wie schwierig der Auftrag war.«
»Gut.« Der junge Mann seufzte. »Es könnte nämlich eine schwierige Sache werden.«
Jetzt mischte sich der andere ein. »Es gibt da einen Mann, der hat sich ein paar Feinde zu viel gemacht. Seit er hier in der Stadt ist, gibt es nur Ärger mit ihm. Wir haben ihn schon mehrmals gewarnt, aber er hört nicht auf uns. Stattdessen ist er noch streitsüchtiger geworden. Er lässt uns einfach keine Wahl.«
Es war immer dasselbe. Jedes Mal wollten sich die Auftraggeber erklären, bevor wir handelseinig wurden, als könnte meine Billigung die Bedeutung dessen, was sie vorhatten, in irgendeiner Weise mindern.
»Ich weiß, was ihr meint. Und wer ist es nun?«, fragte ich.
Zunächst waren sie nicht gewillt, mir den Namen zu nennen, sondern gaben mir nur eine vage Beschreibung.
»Er ist ein Ketzer, der nichts mit dem Islam zu tun hat, ein aufmüpfiger Mensch, frevelhaft und gotteslästerlich. Ein widerspenstiger Derwisch.«
Kaum hatte ich dieses letzte Wort gehört, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus, und meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich hatte schon alle möglichen Menschen getötet, junge und alte, Männer und Frauen, aber ein Derwisch, ein Mann des Glaubens, war nicht darunter gewesen. Ich war abergläubisch und wollte nicht den Zorn Gottes auf mich ziehen, denn trotz allem glaubte ich an Gott.
»Diesen Auftrag werde ich leider ablehnen müssen. Ich will keinen Derwisch töten. Sucht euch einen anderen.«
Mit diesen Worten stand ich auf. Als ich mich schon zum Gehen wenden wollte, packte mich einer der Männer an der Hand und flehte mich an: »Bitte warte! Die Bezahlung wird der Mühe angemessen sein. Was auch immer du forderst, wir verdoppeln den Preis.«
»Wie wäre es mit dreimal so viel?«, fragte ich, fest davon überzeugt, eine so große Summe würden sie niemals aufbringen.
Aber zu meiner Überraschung waren die beiden nach kurzem Zögern einverstanden. Ganz zittrig nahm ich wieder Platz. Mit so viel Geld würde ich endlich einen Brautpreis bezahlen und heiraten können und mir keine Sorgen mehr machen müssen, wie ich über die Runden käme. Derwisch oder nicht – diese Summe rechtfertigte den Mord an jedem Menschen.
Wie hätte ich in diesem Augenblick wissen sollen, dass ich den größten Fehler meines Lebens beging und ihn den Rest meiner Tage auf Erden bereuen würde? Wie hätte ich ahnen können, dass die Ermordung des Derwischs so mühevoll werden und sein messergleicher Blick mich noch lange nach seinem Tod verfolgen würde, wohin ich auch ging?
Vier Jahre ist es her, dass ich ihn in jenem Hof erstach, seine Leiche in einen Brunnen warf und darauf wartete, dass er aufschlug – doch vergebens. Kein Laut. Als wäre er nicht ins Wasser hinunter, sondern in den Himmel hinaufgefallen. Noch immer habe ich jede Nacht Alpträume, und wenn ich länger als ein paar Wimpernschläge auf Wasser schaue, welche Art von Wasser auch immer, erfasst mich von Kopf bis Fuß ein kaltes Grausen, und dann muss ich mich...




