Shafak | Unerhörte Stimmen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten, eBook

Shafak Unerhörte Stimmen


1. Auflage, neue Ausgabe 2019
ISBN: 978-3-0369-9400-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 432 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9400-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



So sehr Leila es auch dreht und wendet: Sie wurde ermordet.Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Fieberhaft denkt sie zurück an die Schlüsselmomente ihres aufreibenden Lebens, an den Geschmack von gewürztem Ziegeneintopf aus ihrer Kindheit, an den Gestank der Straße der Bordelle, wo sie arbeitete, und den Geruch von Kardamomkaffee, den sie mit einem jungen Mann teilte, der zu ihrer großen Liebe wurde.
Elif Shafak erzählt in ihrem neuen Roman von einer Frau, die am Rand der Gesellschaft Halt sucht, wo die Freundschaften tief ist, aber das Glück flüchtig.

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Das Ende


Ihr Name war Leila.

Tequila Leila, so kannten sie ihre Freunde und Kunden. Tequila Leila, so hieß sie daheim und bei der Arbeit in dem rosenholzfarbenen Haus in der Kopfsteinpflastergasse unten am Kai zwischen Kirche und Synagoge, zwischen Lampenläden und Kebabbuden – in der Straße mit Istanbuls ältesten amtlich zugelassenen Bordellen.

Nur hätte sie diese Beschreibung wahrscheinlich als Beleidigung empfunden und den, der sie geäußert hatte, neckisch mit einem Schuh beworfen – einem High Heel natürlich.

»Ist, Schätzchen, nicht war … Mein Name ist Tequila Leila!«

Niemals hätte sie geduldet, dass man von ihr als etwas Vergangenem sprach. Schon bei dem Gedanken fühlte sie sich klein und wertlos, und nichts war ihr mehr zuwider als dieses Gefühl. Nein, sie bestand auf der Gegenwartsform, obwohl sie gerade entsetzt feststellen musste, dass ihr Herz nicht mehr schlug und sie von einer Sekunde zur anderen aufgehört hatte zu atmen. So sehr sie es auch drehte und wendete – sie war tot.

Ihre Freunde wussten es noch nicht. Die schliefen so früh am Morgen noch tief und suchten den Ausgang aus ihrem Traumlabyrinth. Leila wäre jetzt auch lieber zu Hause im warmen Bett gewesen, auf ihren Füßen den dösenden, zufrieden schnurrenden Kater. Er war stocktaub und schwarz; nur auf einer Pfote saß ein weißer Fleck. Leila hatte ihm den Namen Mr Chaplin gegeben, denn er lebte wie die Helden der frühen Kinofilme in seiner eigenen stummen Welt.

Tequila Leila hätte alles dafür gegeben, jetzt in ihrer Wohnung zu sein. Stattdessen war sie hier am Stadtrand von Istanbul gleich gegenüber einem dunklen, feuchten Fußballplatz in einer metallenen Mülltonne mit rostigen Griffen und geplatztem Lack. Die Tonne hatte Räder, war mindestens einen Meter zwanzig hoch und etwa halb so breit, während Leila selbst einen Meter siebzig maß – die fünfzehn Zentimeter hohen lila Sling-back-Stilettos, die sie noch trug, nicht eingerechnet.

Sie hatte so viele Fragen. Wieder und wieder ließ sie die letzten Augenblicke ihres Lebens Revue passieren und überlegte, an welchem Punkt das Ganze schiefgegangen war – ein müßiges Unterfangen, weil sich die Zeit nun mal nicht zurückdrehen ließ. Zwar hatte sich ihre Haut bereits grau verfärbt, doch ihre Zellen waren quicklebendig. Sie spürte, dass sich in ihren Organen und Gliedmaßen ziemlich viel tat. Alle dachten, Leichen wären leblos wie gefällte Bäume oder hohle Stümpfe, ohne Bewusstsein. Hätte man ihr die Gelegenheit gegeben, hätte Leila bezeugt, dass Leichen ganz im Gegenteil nur so strotzten vor Leben.

Es machte sie fassungslos, dass es mit ihrem irdischen Dasein aus und vorbei war. Erst in der Nacht zuvor waren sie und ihr Schatten durch Pera gehuscht, durch Straßen, die nach hohen Militärs und Nationalhelden benannt waren – allesamt Männer natürlich. Noch in dieser Woche hatte ihr Lachen durch die geduckten Tavernen in Galata und Kurtulus und die kleinen, stickigen Spelunken in Tophane gehallt, die man in keinem Reiseführer und auf keinem Stadtplan fand. Leilas Istanbul war nicht das Istanbul des Fremdenverkehrsamts.

In der Nacht zuvor waren ihre Fingerabdrücke auf einem Whiskyglas und ein Hauch ihres Parfüms – Paloma Picasso, ein Geburtstagsgeschenk ihrer Freunde – auf dem Seidentuch zurückgeblieben, das sie auf das Bett eines Fremden in der Penthouse-Suite eines Luxushotels geworfen hatte. Hoch oben am Himmel stand noch die zarte Sichel des Monds, hell und unerreichbar wie das letzte Überbleibsel einer glücklichen Erinnerung. Wie konnte sie tot sein, wenn sie doch noch zu dieser Welt gehörte und Leben in sich spürte? Wie war es möglich, dass sie nicht mehr existierte, plötzlich nicht mehr war als ein Traum, der mit dem ersten Tageslicht verblasste? Nur wenige Stunden zuvor hatte sie gesungen, geraucht, geflucht und gedacht … und ihre Gedanken setzten sich ja auch jetzt fort. Erstaunlich, wie gut ihr Gehirn funktionierte – nur, wie lange noch? Am liebsten wäre sie zurückgegangen, um allen zu erzählen, dass keiner auf der Stelle starb, dass auch Tote noch nachdenken konnten, zum Beispiel über das eigene Lebensende. Das würde die Leute wahrscheinlich erschrecken. Sie jedenfalls wäre darüber erschrocken, wenn sie noch am Leben wäre. Aber sie hielt es für wichtig, dass man die Menschen informierte.

Leilas Meinung nach waren die meisten Leute an den Wendepunkten ihres Daseins viel zu ungeduldig. Sie nahmen automatisch an, dass man in dem Moment, in dem man »Ja« sagte, zack!, Ehefrau oder Ehemann war. Dabei dauerte es Jahre, das Verheiratetsein zu erlernen. Ganz ähnlich erwartete die Gesellschaft, dass man sich nach der Geburt eines Kindes sofort in eine Mutter oder einen Vater verwandelte, obwohl man in Wahrheit erst nach einiger Zeit den Dreh raushatte und wusste, wie Elternsein ging – oder Großelternsein. Das Gleiche galt für den Ruhestand. Man legte doch nach dem letzten Arbeitstag in dem Büro, in dem das halbe Leben stattgefunden und so ziemlich jeder Traum geendet hatte, nicht einfach einen Schalter um. Leila kannte pensionierte Lehrer, die nach wie vor um sieben aufwachten, duschten und schicke Sachen anzogen, um sich am Frühstückstisch erschrocken daran zu erinnern, dass sie keinen Job mehr hatten. Auch daran musste man sich erst gewöhnen.

Vielleicht war das beim Sterben nicht anders. Kaum hatte man seine Seele ausgehaucht, galt man als mausetot. Doch so eindeutig lagen die Dinge nicht. So wie es tausend Nuancen zwischen Pechschwarz und Strahlendweiß gab, war die »ewige Ruhe« mehr als nur eine einzige Phase. Die Grenze zwischen Leben und Tod, falls sie denn existierte, musste porös sein wie Sandstein.

Leila wartete auf den Morgen. Bestimmt würde sie jemand finden und aus dieser Dreckstonne befreien. Es würde der Polizei nicht schwerfallen, ihre Identität zu ermitteln. Man musste nur ihre Akte finden. Leila war im Laufe der Jahre häufiger durchsucht, fotografiert und inhaftiert worden, als sie zugeben wollte, und ihre Fingerabdrücke hatten sie auch. In diesen Hinterhofrevieren hing ein ganz bestimmter Mief, der von den Aschenbechern mit den Zigaretten des Vortags stammte, vom Kaffeesatz in angeschlagenen Tassen, vom Mundgeruch, von nassen Scheuerlappen und dem beißenden Gestank der Urinale, der sich mit noch so viel Putzmittel nicht überdecken ließ. Beamte und Verbrecher, gemeinsam auf engstem Raum. Es hatte sie stets fasziniert, dass die abgestorbenen Hautzellen von Polizisten und Kriminellen auf ein und demselben Boden landeten und von Staubmilben unterschiedslos gefressen wurden. Auf einer Ebene, die dem menschlichen Auge verschlossen blieb, vermischten sich die Gegensätze in ungeahnter Weise.

Sobald die Behörden ihre Identität kannten, würden sie die Familie verständigen. Allerdings hatten die Eltern – sie lebten anderthalbtausend Kilometer entfernt in der alten Stadt Van – ihre Tochter vor langer Zeit verstoßen und würden Leilas Leiche garantiert nicht holen kommen.

Du hast Schande über uns gebracht. Alle tuscheln hinter unserem Rücken.

Deshalb würde sich die Polizei an ihre fünf Freunde wenden müssen: an Sabotage Sinan, Nostalgie Nalan, Jamila, Zaynab122 und Hollywood Humeyra.

Tequila Leila zweifelte keine Sekunde daran, dass ihre Freunde kämen, so schnell sie konnten. Sie sah sie vor sich, wie sie mit gleichzeitig drängenden und zögerlichen Schritten näher traten, die Augen geweitet vor Schreck, vor allmählich einsetzender Trauer und grässlichem Schmerz, der noch nicht recht spürbar war. Es tat ihr von Herzen leid, sie dieser Tortur auszusetzen. Aber wie wohltuend zu wissen, dass sie ihr eine Wahnsinnsbeerdigung schmeißen würden! Kampfer und Weihrauch, Musik und Blumen – vor allem flammend rote, knallgelbe und burgunderfarbene Rosen. Zeitlos, klassisch, einfach unschlagbar. Tulpen wären zu protzig, Narzissen zu zart, und von Lilien musste sie niesen. Rosen dagegen boten die perfekte Mischung aus heißblütigem Glamour und wehrhaften Dornen.

Allmählich wurde es Tag. Die Farben der Streifen, die sich von Ost nach West über den Horizont zogen, erinnerten Leila an Bellinis, Martinis Orange, Erdbeer-Margaritas und Frozen Negronis. Bald ertönten die Gebetsrufe von den Moscheen ringsum, keiner im Gleichklang mit den anderen. In der Ferne erwachte der Bosporus aus seinem türkisblauen Schlaf und gähnte herzhaft. Ein Fischerboot kehrte mit knatterndem, qualmendem Motor zum Hafen zurück. Eine schwere Welle rollte träge der Küste entgegen. Früher hatten in dieser Gegend schöne Oliven- und Feigenbäume gestanden, doch man hatte sie niedergewalzt, um noch mehr Häuser und Hochgaragen bauen zu können. Irgendwo im Zwielicht bellte ein Hund, eher aus Pflichtgefühl als aus Empörung. Ganz in der Nähe zwitscherte laut und unbekümmert ein Vogel, und ein anderer trällerte etwas weniger fröhlich zurück. Der Chor des frühen Morgens. Ein Lieferwagen krachte auf seiner holprigen Fahrt über die pockennarbige Straße von einem Schlagloch ins nächste. Schon bald würde der Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs dröhnen. Das Leben würde zu voller Kraft erwachen.

Leute, die ständig über das Ende der Welt spekulierten, hatten Tequila Leila schon zu Lebzeiten immer erstaunt, ja geradezu aufgeregt. Wie konnte ein vernünftig wirkender Mensch von all den verrückten Szenarien besessen sein, in denen Asteroiden, Feuerbälle oder Kometen den Planeten zerstörten? Die Möglichkeit, dass die Zivilisation mit einem Schlag ausgelöscht wurde, war doch nicht halb so schrecklich wie die simple Erkenntnis, dass der Tod des Einzelnen am Lauf...


Shafak, Elif
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter "Die vierzig Geheimnisse der Liebe" (2013), "Ehre" (2014) und "Der Geruch des Paradieses" (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London.
www.elifshafak.com

Grabinger, Michaela
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter "Die vierzig Geheimnisse der Liebe" (2013), "Ehre" (2014) und "Der Geruch des Paradieses" (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London.
www.elifshafak.com

Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie schreibt auf Englisch und Türkisch und veröffentlichte bisher 19 Bücher, darunter 12 Romane. Ihr neuestes Werk, , stand auf der Shortlist der British Book Awards, des Costa Books Awards, des RSL Ondaatje Prize und des Women's Prize for Fiction. Ihr Werk wurde in 55 Sprachen übersetzt, in vielen Ländern der Welt ist sie eine Bestseller-Autorin.  (2019) schaffte es auf die Shortlist für den Booker Prize und den RSL Ondaatje Prize und wurde Blackwell's Book of the Year. (2013) wurde von der BBC als eine der gewählt. (2015) wurde in der ersten Ausgabe des Reading Rooms, dem Buchclub der Herzogin von Cornwall, vorgestellt. Shafak promovierte in Politikwissenschaften und lehrte an verschiedenen Universitäten in der Türkei, den USA und in Großbritannien, darunter als Ehrenmitglied am St. Anne's College der Universität Oxford. Zudem promovierte sie in Humane Letters am Bard College.

Shafak ist Fellow und Vizepräsidentin der Royal Society of Literature und wurde von der BBC zu einer der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen gewählt. Sie war Mitglied des Weforum Global Agenda Council on Creative Economy und ein Gründungsmitglied des ECFR (European Council on Foreign Relations). Ihre vielbeachteten Aufritte, u.a. zweimal als Rednerin bei TEDGlobal, machten Shafak zum Sprachrohr für Gleichberechtigung und Frauen- und LGBTQ+-Rechte. Sie trägt weltweit zu wichtigen Publikationen bei und wurde mit dem Orden Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet. 2017 wählte Politico sie zu einer der zwölf Personen, »die Ihnen dringend nötige Aufmunterung bringen werden«. Sie ist Jurorin zahlreicher Literaturpreise, z.B. des PEN Nabokov-Preises, und war Vorsitzende des Wellcome Prize. Kürzlich erhielt sie den Halldór Laxness International Literature Prize für ihren Beitrag zur »Erneuerung der Kunst des Geschichtenerzählens«. Elif Shafak lebt in London. www.elifshafak.com

Michaela Grabinger hat für Kein & Aber zahlreiche Romane übersetzt, u. a. von Laila Lalami, Elif Shafak, Anne Tyler, Helen Simpson und Russell Franklin.



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