Buch, Deutsch, 490 Seiten, GB, Format (B × H): 150 mm x 210 mm, Gewicht: 630 g
Reihe: Landschreiber
Beiträge zum Landschreiber-Wettbewerb Leipzig 2013
Buch, Deutsch, 490 Seiten, GB, Format (B × H): 150 mm x 210 mm, Gewicht: 630 g
Reihe: Landschreiber
ISBN: 978-3-939211-60-0
Verlag: Geheimsprachen Verlag
Zielgruppe
Sprachwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Lehrer für das Fach Deutsch, Universitätslehrer Deutsche Sprache/Deutsche Literatur; allgemein: an Sprache und Literatur Interessierte.
Weitere Infos & Material
Inhaltsverzeichnis
________________________________
Susanne Ulrike Maria Albrecht
Alphabet
17
Ewald Arenz
Gottes Wort
22
Florian L. Arnold
Reste mit rauhen Rändern
27
F. Axenmacher
EM-Druck – Love Letter – dufte poker duftimann
44
Marita Bagdahn
Das etwas andere ABeCeDarium
53
Christiane Bastert
Im Anfang war mehr
57
Juliane Blech
Der dünne Anfang und das DICKE ENDE
64
Helga Blindow
Steinspiele
73
Matthias Bronisch
Kein Kopf mehr
und mehr
75
Martina Burandt
Nonsens mit Himmel – und mehr
80
Anne Dombrowski,
Platzwunden haben lange Beine
Ein Text über das Schweigen
85
Hanna Dunkel
Baldur und die Schatzkiste
94
Wolfgang Fehse
Ohne Titel
101
Heiner Feldhoff
Weitersagen
103
Jürgen Flenker
kommasonate
113
Albrecht Franke
In geilen Zeiten leben
117
Gabriele Franke
Schwelbrand
128
Silvia Friedrich
Zuviel Fleisch ist ungesund
130
Waltraud Gebert
Armes Deutschland
137
Anne Hassel
Stimmen
142
Erik Heinrich
Wirrungen in der Scheinbar
149
Klaus Hufnagel
Ene, mene, muh
153
Christine Kappe
Ein Tag – ein Triptychon
164
Inga Kess
Datt is ja wie in Babel
200
Martina Klein
Ohne bin-
204
Gisa Kossel
Triumph
232
Julia Krenz
Abendstimmung in zwölf Tönen
236
Matthias Kröner
Epik
244
Siri Kusch
Sonette für J.G.H.
258
Holger Leisering
Lüx
266
Miriam Magall
„Fartaitscht un farbesert“
Übersetzer — die Paten der deutschen Literatursprache im Althochdeutschen
267
Laila Mahfouz
Vom Verlieren und Finden der Sprache
276
Wilfried von Manstein
Worte – nichts als Worte.
285
Janina Michl
Herr Schmidt
294
Ingo Müller
Der Polizistenphilosoph
301
Marcus Nickel
Sa(tz)g's Wort
306
J.M. Pönnighaus
Wer sind Sie?
308
Veronika Puzio
Spiekst du noch Dänglisch… oder tokst du scho Internäschenel
312
Klaus-Dieter Regenbrecht
Der unglaubliche Aufstieg der Limone PC-Peiniger zur Zitrone WeZe-Reinigerin
330
Klaus-Dieter Regenbrecht
BASIC BANALYTIC: ein akt truveller sprachverführer zum einführen
351
Andrea Rhein,
Sprach Los
359
Regina Schleheck
Pötische Sprache
361
Jenny Schon
Schlafes Schwester
367
Andrea Schumacher
Europa
375
Jochen Stüsser-Simpson
Eimsbüttel
378
Cooper Thompson
Wer entscheidet über “Sprachkompetenz”?
380
Dagmar Tittnags
Alles ist Sprache – Schauende Still
391
Sonja Voß-Scharfenberg
Die verlorenen Sätze – ein Adventsmärchen
394
Inken Weiand
Uguarg pittimox
406
Iris Welker-Sturm
Who bin i?
413
Maria Winkler
Sprache
420
Eva Wodarz-Eichner
Was ist der Mensch? Halb Vieh, halb Engel!
438
Bärbel Wolfmeier
Aussprache (Wir müssen reden)
446
Inge Wrobel
Ich schreibe einen Roman
450
Wilfried Zacke
Nötigung
456
¤
Jochen P. Becker
Nachwort. Von den Bauchschmerzen
des Wertenden
465
¤
Kim Karotki
Zu den Autorinnen und Autoren
469
¤
1. Preis: Sonja Voß-Scharfenberg, "Die verlorenen Sätze - ein Adventsmärchen"
Wind fegte den Schnee über das kahle Feld zu hohen Wehen auf. An der Ackergrenze verfingen sich Schneehügel und hielten sich am Wurzelwerk abgestorbenen Gesträuchs und modernden Laubes, das braunwelk aus dem Weiß hervorbrach und keinen Schutz hatte. Wohl auch nicht brauchte. Pappeln raunten dem Wind ein gleich-gültiges Lied. Sie waren tropfnass und schwarz. Wie die Krähen, die mit ihren schauerlichen Lauten das beklemmende Gefühl von Düsternis und Endzeit noch unterstützten.
Vor mehr als zwanzig Jahren schon hatten die Winter begonnen, ihre Farbe zu wechseln, waren immer öfter ohne Schnee erschienen und machten einen heruntergekommenen Eindruck. Inzwischen sind sie grau-braun und schwarz-gelb und kommen aus ihrer Novembergarderobe nicht mehr heraus. Und wenn es wirklich einen Tag gibt, an dem Schnee auf das Land fällt, so dass die Häuser und Bäume, die Bänke auf den Plätzen, die Kirchen und die Laternen, die Denkmäler, die Parks, die Spielplätze und die Mülltonnen, die verloren gegangenen Gegenstände und alles, was sich für die Zeit des Schneefalls nicht bewegte, in ein unberührtes, reines Weiß gehüllt werden, dann berichtet die Zeitung euphorisch von dieser Besonderheit, weil sie hierzulande so selten geworden ist wie eine zu beobachtende Sonnenfinsternis.
Am Heiligabend in einem solchen Winter also, als zwar Schnee auf die Erde ging, der Wind ihn aber über das kahle Feld zu hohen Wehen auffegte, wanderte der Dichter den Pappelweg entlang, gegen den Sturm gebeugt, mit der rechten Hand den Mantelkragen haltend, und mit der linken den Hut. Der Dichter hatte noch einen weiten Weg, denn er war ausgezogen, die Sätze, die ihm verloren gegangen waren, zu suchen. Die wohnten, gemeinsam mit vielen anderen ungeschriebenen und -gelesenen Sätzen, in einem Haus, das tief im Unterholz eines verwilderten Mischwaldes lag, der hinter dem endlos erscheinenden Feld erst begann. Die Sätze waren in diese letzte Zuflucht wie in eine Art Altersresidenz geraten, unsichtbar für die Außenwelt, die zwar von ihrer Existenz wusste, aber keine Zeit hatte, wirklich Notiz von ihr zu nehmen.
Im Zweifel darüber, ob Geschichten zu verfassen überhaupt noch sinnvoll war, hatte der Dichter schon lange nichts mehr geschrieben, denn vor noch viel längerer Zeit hatten die meisten Menschen auch aufgehört zu lesen. Bestenfalls nahmen sie noch einen Ratgeber oder ein Fachbuch zur Hand. Zur Entspannung unterhielt das Fernsehen sie, indem es mit ihnen gemeinsam bundesweit Talente, Stars oder Models suchte, ihnen Kurzweil beim voyeuristischen Besuch im Dschungel bot, oder sie Prominente, deren beste Zeiten vorbei waren, beim Dinner dabei ertappen ließ, dass die jetzt ihre Suppen auch wieder mit Wasser kochten.
Das alles kam ohne viel Worte aus. Und wo es noch Worte brauchte, behalf man sich vorwiegend mit Anglizismen. Die Sätze hatten sich davongemacht, waren zum Sterben in eben jene Residenz gezogen.
Nun starb es sich aber nicht so schnell wie man es sich als Außen-stehender vielleicht denken mochte, und in dem Haus im Unterholz des verwilderten Mischwaldes, entwickelten die Sätze eine eigene phantastische Welt multikulturellen Charakters, ließen alle Formen, Farben und Facetten zu, nahmen großzügig auch jene Sätze auf, die zwar diesen Namen trugen, mit der Sprache aber gar nichts zu tun hatten. Die skatfreudigen Gebrüder Drei-, Prozent- und Zinssatz beispielsweise, oder ganz oben links in der dritten Etage, der Kaffee-satz als hoch angesehener Gastgeber im Hause, oder der ewig in seinen Plänen stecken bleibende Vorsatz, der im Müll seiner uner-füllten Absichtserklärungen zu ersticken drohte. Sie alle lebten friedlich neben Haupt- und Absätzen, Nach-, Merk- und Gegen-sätzen, neben Aussage-, Frage- und Schachtel- sowie Tages-, Grund- und Nebensätzen. Ein jeder mit seinen Eigenarten und Erfahrungen, mit seinen Entstehungsgeschichten und Schicksalen.
Der Leitsatz, dem die Verwaltung des Hauses der verlorenen Sätze oblag, hatte sein Domizil in der 24. Nachdem ihm seinerzeit in ein-stimmiger Wahl aller die Führung des Refugiums „Unterholz“ an-getragen war, durch die er nun dem Hause vorstand, hatte er seine Devise auch zur Devise der Einrichtung erklärt und auf ein Transparent gebracht. So konnte man über dem Haupteingang des Gebäudes in großen Lettern lesen:
Die Geisteskraft einer Nation erkennt man daran, wie sie mit ihrer Sprache umgeht,
während am Hinterausgang auf einem unscheinbaren Schild, mit einem Augenzwinkern für jene, die es verstehen konnten und wollten, stand: Sprache verrät!
Den gegen den Sturm gebeugten Dichter, der sich immer noch Hut und Mantelkragen hielt, sah der Leitsatz schon von weitem. Einen Dichter, dem die Sätze verloren gegangen sind, sagte sich der Leit-satz, den will ich wohl willkommen heißen. Er nahm einen Regen-schutz vom Haken der Garderobe, eine Sturmlaterne zur Hand, und ging dem Manne entgegen, dass der sein Ziel im unwirtlichen Tumult des Wetters nicht verfehlen sollte.
Er führte den Dichter ins Haus und lud ihn ein, sich umzusehen. Dem Manne war seltsam zumute und etwas ängstlich, denn er kannte sich aus in derlei Geschichten und wusste, dass man in solcherart Reiche nicht eindrang, ohne einen Preis zu zahlen. Doch noch ehe er sich zu erinnern glaubte, dass in den phantastischen Welten oftmals mit Lebenszeit gezahlt, und ein Tag jenseits gern mit einem Jahr diesseits bemessen würde, fand er sich inmitten der Geschäftigkeit verschiedener kleinwüchsiger Personen, von denen er aber nicht wahrgenommen wurde. Der Hausherr, der ihn hergebracht und sich als Leitsatz vorgestellt hatte, war verschwunden, aber ein anderer ging auf den Dichter zu, händigte ihm eine Besucherkarte aus und sagte, der Tagessatz, gefühlte Stunde, sei hier ein Menschenjahr, und dann verschwand auch er hinter einer der Türen.
Die kleinen Wesen in Menschengestalt bewegten sich auf den Fluren, gingen von einer Tür zur anderen, um sich zu besuchen, verweilten auf ein Wort miteinander in Sitzecken, fegten vor ihren Türen oder trafen sich zur Geselligkeit in Gemeinschaftsräumen. An den Zimmertüren waren Namensschilder und Nummern ange-bracht. Die Folge der Ziffern war keinem System zuzuordnen, so befand sich die 3 über der 19 und die 16 unter der 24. Wie in einem Adventkalender, dachte der Dichter. An ihm vorbei schleppte sich ein mit Kartons beladener Wicht, der so viele Kästchen vor sich hertrug, dass er gar nicht hinüber sehen konnte. Der Dichter war dem Schachtelsatz begegnet.
Der Schachtelsatz, der sich gern in Nischen und Nebensätzen erging, um möglichst viele Informationen unterzubringen, ohne eines seiner Lieblingssatzzeichen, nämlich den Punkt, mit dem er äußerst sparsam umzugehen pflegte, um nicht zu sagen, dass er mit ihm geradezu geizte, wohingegen er aus einem reichlichen Vorrat an Kommata eifrig schöpfte und damit freigiebig hantierte, als stünde er vor einem Ausverkauf und hätte „Alles muss raus“ auf seine Fahnen geschrieben, opfern zu müssen, steckte oftmals in seinem Labyrinth von Schachteln fest und fand das Ende nicht, was ihn jedoch nicht hinderte, doch noch hier und da ein Komma zu ver-geuden, und wenn die knapp zu werden drohten, sich mit Gedankenstrichen oder Klammern zu behelfen, obwohl letztere eigentlich eine Leihgabe der Mathematik waren, mit deren Ver-tretern Prozent-, Zins- und Dreisatz, die als solide Geschäftsherren galten und sich im Zimmer 14, in dem der Dreisatz lebte, täglich zu einem zünftigen Skat trafen, er, der Schachtelsatz, gern einmal über die Idee eines Komma-Reste-Rampe-Ladens ins Gespräch kommen würde, denn er glaubte, dass das einigen der Mitbewohner dieses Hauses zugute kommen könnte, wie beispielsweise seinem Nach-barn, dem Hauptsatz, der einen ganz offensichtlichen Mangel an derlei Satzzeichen litt und sich sogar zuweilen schon ein, zwei Komma mit Schachtel, einen kompletten Nebensatz sozusagen, bei ihm geborgt hatte, als Not an Punkt war.
Der Nebensatz war ein larmoyanter Zeitgenosse, der allein vollkommen lebensuntüchtig war und sich deshalb an den Schachtelsatz gehängt hatte. Zwar versuchte er gelegentlich beim Hauptsatz aus der 12 Anschluss zu finden, aber der Hauptsatz war kein Mann vieler Worte. Der sagte geradeheraus, was seine Sache war und machte um nichts viel Federlesen. Beim Schachtelsatz hin-gegen, mit dem man lamentieren und die Worte wie einen Kau-gummi auskosten konnte, bis sie nach nichts mehr schmeckten, fühlte der Nebensatz sich wohl und führte ein zwar abhängiges, aber immerhin doch bewegtes Leben.
Ganz anders als der Vorsatz. Der gehörte zu denen, die sich von nichts trennen können. Dem Vorsatz drohte oft der Kopf zu platzen, weil er zu viele Grappen darinnen nährte. Und er drohte auch körperlich aus allen Nähten zu platzen, weil er sich nicht mehr rührte und bewegte, sondern nur noch damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, was er sich ab morgen zu tun vornehmen könne. In seiner Wohnung, er hatte die 3, gleich über dem Prozent-satz, der in der 19 wohnte, stapelten sich in großen blauen und grauen Müllsäcken die gesammelten ausstehenden Vorhaben.
In der 16, auf der Krankenstation, lag der Nachsatz, hielt sich, obwohl trotz des düsteren Wetters die Gardinen zugezogen waren, noch zusätzlich die Hand vor Augen und begrübelte seine Depressionen, mit denen er alle Hausbewohner zu nerven pflegte. Er fühlte sich ungebraucht, matt und des Lebens überdrüssig. Ständig litt er darunter, sein Dasein auf der Ersatzbank zu ver-bringen, in der Hoffnung, eventuell mal nachgeschoben zu werden und dabei vielleicht sogar etwas zu sagen zu haben. Aber es blieb dabei, dass er immer nur geholt wurde, wenn etwas noch irgendwie mitgeteilt werden sollte, was aber nicht in den eigentlichen Text gehörte. In „PS: Ich liebe Dich“ hatte er sich verfangen und gar zu früh zur Ruhe gesetzt. Doch was hätte aus ihm alles werden können. Bei entsprechender Qualifikation hätte er es unter Umständen bis in die Königsklasse schaffen und sogar ein Nachwort werden können. Wenn er nicht so früh Kinder gehabt hätte. Allerdings Nachbarn und Füllsätze verdrehen die Augen, wenn sie's hören und tuscheln hinter vorgehaltener Hand: Wenn der Nachsatz die Kinder nicht gehabt hätte, hätte er womöglich werden müssen, was er hätte werden können. Nicht auszudenken! Aber es hat ja sowieso nicht sollen sein, und so öffnet der Nachsatz gelegentlich die Tür der Kranken-station, schlurft im verblichenen Bademantel und abgelaufenen Pantoffeln über den Flur, schnäuzt Mitleid erregend in Berge von Taschentüchern und murmelt vor sich hin: „PS: Ich liebe Dich“.
Grundsätzlich, sagte der Grundsatz, bin ich dafür, dass man diesem kraftlosen Gesellen, der sich immer nur anhängt und ansonsten seine wunde Seele salbt, mal gehörig die Leviten liest, oder um es klar zu sagen, ihm das faule Fell versohlt.
„Das sehe ich auch so“, sagte der Hauptsatz. Zählte insgeheim an seinen Fingern die Wörter seines Satzes ab, empfand fünf als zu viel, und ergänzte dann in einem neuen Versuch: „Stimmt. Punkt.“ Zwar verfügten Einwortsätze nicht über die nötigen Bestandteile eines Hauptsatzes, was dem Hauptsatz klar war, aber er liebte sie.
Ob das faule Fell zu versohlen wohl helfen würde, wagte die Frage einzuwenden und zog sich damit den Unmut der Herren Grund- und Hauptsatz zu. Die Frage war ihrer Meinung nach auch eine lebens-untüchtige Zeitgenossin, die ständig in Zweifel und Unsicherheiten steckte, die alles und jedes hinterfragte, die zu keiner Meinungs-äußerung fähig war und noch jede Wahrheit ins Wanken gebracht hatte, indem sie sie in Ambivalenzen verstrickte, ihr Unterstes zuoberst kehrte bis sie nackt, frierend und zitternd im Wind ihrer Mächte stand, nämlich in Frage.
Wäre es nicht sinnvoll, dem Nachsatz eine Gesprächstherapie anzubieten? Glauben Sie nicht, dass da einiges verschüttet wurde im Verlaufe seines unzufriedenen Lebens, und dass man das vielleicht freilegen müsste? Und würden Sie nicht auch depressiv, wenn Sie immer nur „PS: Ich liebe Dich“ zu äußern hätten? Meinen Sie nicht, dass ihm eventuell eine Familienaufstellung helfen könn-te? Ist nicht der Vorsatz aus der 3, der über dem Prozentsatz wohnt, sogar sein Bruder? Und hätte der es nicht auch mal bitter nötig, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen? Bei all den Täuschungen, die seine Vorsätze ihm vormachen? Stecken wir nicht alle voller Ge-heimnisse und vor allem voller Fragen? Fragt sich das niemand?
Vor allem stecken wir alle voller Mittelmaß, sagte der Aussagesatz, der hinzugekommen war. Wenn der Nachsatz nicht begreift, seine Existenz anzunehmen und aus „PS: Ich liebe Dich“ das Beste zu machen, dann wird er auf der 16 seinen Depressionen einen langen Bart wachsen lassen.
Punkt, sagte der Hauptsatz, und ging.
Der Dichter hatte Freude daran, die Sätze, derer er sich sonst nur bediente, und die er überdies ja seit einiger Zeit schon aus den Augen verloren hatte, so hautnah zu erleben und zu beobachten. Sogleich verspürte er Lust, sich doch noch einmal an die Aufgabe zu wagen, seiner Frau zur Weihnacht eine Geschichte zu schreiben und dabei viel mehr Acht zu geben auf die Wahl seiner Worte und Sätze. Leise schlich er sich zur Hintertür hinaus. Und als er noch einmal an der Adventskalenderhäuserfront hinauf-, in die erleuchteten Fenster sah, wusste er hinter der 14 die Herren Prozent-Zins- und Dreisatz beim Skatdreschen, und hinter der 16 den von Kopf-schmerzen geplagten Nachsatz. Im Kulturraum hatten sich neben Grund-, Haupt- und Aussagesatz noch einige andere zu einer Lesung aus dem Kaffeesatz eingefunden, während die Frage unschlüssig und Schulter zuckend am Flurfenster zu sehen war und sich offensichtlich fragte, ob sie an der Lesung teilnehmen sollte oder nicht. Am weit geöffneten Doppelfenster des Zimmers 24 aber stand der Leitsatz, rauchte eine Zigarette und winkte dem Dichter freundlich zu, wohl wissend, dass der von seinem Besuch bei ihnen schreiben, und die Sätze von seiner Geschichte wieder ein Stückchen in die Welt getragen würden.
Wind fegte den Schnee über das kahle Feld zu hohen Wehen auf. An der Ackergrenze verfingen sich Schneehügel und hielten sich am Wurzelwerk abgestorbenen Gesträuchs und modernden Laubes, das braunwelk aus dem Weiß hervorbrach und keinen Schutz hatte. Wohl auch nicht brauchte. Pappeln raunten dem Wind ein gleichgültiges Lied. Sie waren tropfnass und schwarz. Wie die Krähen, die mit ihren schauerlichen Lauten das beklemmende Gefühl von Düsternis und Endzeit noch unterstützten.
Es war drei Jahre her, dass ein Dichter den Pappelweg entlang gewandert und dabei durch das Unterholz des Mischwaldes ins Reich der Phantasien geraten war. An diesem Heiligabend aber saß er in seiner Stube und schrieb seiner Frau das Märchen von den verlorenen Sätzen. Er hatte sich für ein klassisches Ende entschieden und setzte an den Schluss: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute.
Die Frau des Dichters aber, die den Sätzen ihres Mannes noch ein wenig nachhing, hörte, wie in ihrem Adventskalender hinter der Tür mit der 16, die wie alle anderen Türen am Heiligabend offen stand, jemand flüsterte:
PS: Ich liebe Dich!
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