E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Simenon Der Zug aus Venedig
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01015-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-455-01015-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Erster Teil
Zweiter Teil
Nachwort
Über Georges Simenon
Impressum
Erster Teil
1
Warum stand seine Tochter im Mittelpunkt des Bildes? Das brachte ihn ein wenig aus der Fassung, oder besser gesagt dachte er vor allem hinterher darüber nach, als der Zug schließlich fuhr. Und dennoch war es in Wirklichkeit nur ein flüchtiger Eindruck, der der Fahrtgeschwindigkeit entsprang und sogleich aufgesogen wurde von der Landschaft.
Warum Josée und nicht seine Frau oder sein kleiner Sohn, obwohl sie doch alle drei zusammenstanden in der feuchten Hitze?
Vielleicht weil die Gestalt seiner Tochter, die im Bahnhof vor einem abfahrbereiten Zug stand, unpassender erschien? Sie war zwölf Jahre alt. Sie war groß und schlank, Beine und Arme noch dürr, und das Baden im Meer, die Sonne am Strand hatten ihrem blonden Haar einen silbrigen Glanz verliehen.
Als sie die Pension verließen, hatte Dominique gesagt:
»Du wirst deinen Vater doch wohl nicht im Badeanzug zum Bahnhof bringen?«
»Warum nicht? Man sieht haufenweise Leute, die im Badeanzug ins Motoscafo steigen. Und das Motoscafo hält genau vor dem Bahnhof. Gleich danach gehen wir doch baden, oder?«
Dominique trug kurze Hosen, und man konnte sehen, wie sich ihr BH unter der gestreiften kurzärmeligen Bluse abzeichnete, die sie in einer schmalen, sehr belebten Straße gekauft hatte, deren Namen er vergessen hatte, in der Nähe eines Kanals.
War es die Beobachtung, dass seine Tochter Brüste bekam, die ihn aus der Fassung brachte?
All das war verschwommen, wie das Licht am Morgen, wie der glitzernde und heiße, beinahe greifbare Dampf, zwischen Wasser und Himmel.
In seinen Gliedern, seinem Kopf spürte er noch immer das Vibrieren des Schiffes, das sie vom Lido hergebracht hatte, die gleichmäßige Bewegung auf den langen, flachen Wellen, den abrupten Satz nach oben jedes Mal, wenn sie einem anderen Schiff begegneten.
Plötzlich der Blick auf Venedig, wo es schon am frühen Morgen warm war, die Türme, die Kuppeln, die Paläste, der Markusdom und der Canal Grande, die Gondeln und, weil es Sonntag war, die Glocken, die von allen Kirchen, allen Türmen läuteten.
»Darf ich ein Eis kaufen, Papa?«
»Um acht Uhr morgens?«
»Ich auch«, fragte der Kleine, der erst sechs Jahre alt war.
Er hieß Louis, aber seit er ganz klein war, hatten sie sich, wegen des Fläschchens, das er mit diesem Wort eingefordert hatte, angewöhnt, ihn Bib zu nennen.
Auch Bib hatte Badesachen an, darüber ein kariertes Hemd. Beide Kinder trugen Strohhüte wie die Gondolieri, Oberseite und Krempe flach, mit einem roten Band für Josée und einem blauen für ihren Bruder.
Vielleicht mochte Calmar im Grunde das Gefühl des Fremdseins gar nicht, und schon seit zwei Wochen fühlte er sich fremd, entwurzelt, hatte nichts, woran er sich festhalten konnte. Nicht er war es gewesen, sondern seine Frau, die die Ferien in Venedig hatte verbringen wollen, und die Kinder hatten, selbstverständlich, beigestimmt.
Er hasste auch Abreisen, Abschiede. Er stand da, am heruntergeschobenen Fenster eines Abteils, das noch nicht einmal sauber war, weil dies der einzige Waggon des Zuges war, der von weiter her kam, aus Triest und noch ferner, ein Waggon in einer anderen Farbe als die übrigen, der fremd aussah, anders roch.
Ein Mann, der so nah saß, dass er ihn beinahe berührte, musterte ihn von oben bis unten. Wahrscheinlich war er bereits im Waggon gewesen, als man diesen an den Zug aus Venedig angekoppelt hatte.
Tatsächlich stellte Calmar sich keine bestimmten Fragen. Er nahm, ein wenig ungeduldig, den in helles Licht getauchten Bahnsteig wahr, den Zeitungskiosk in der linken Ecke des Bildes, links und rechts weitere Personen, die, wie seine Frau und seine Kinder, warteten, den Blick auf ein Elternteil oder einen Freund gerichtet.
Alles war normal verlaufen. Der Zug sollte um sieben Uhr vierundfünfzig abfahren. Um sieben Uhr zweiundfünfzig war ein Mann in Uniform in den Zug gestiegen, um die Türen zu schließen, während ein Maschinist von Waggon zu Waggon ging und hier und da mit seinem Hammer klopfte. Jedes Mal, wenn er mit dem Zug gefahren war, hatte er dasselbe Spiel beobachtet und sich jedes Mal gefragt, worauf der Mann derart klopfte, anschließend aber immer vergessen, sich danach zu erkundigen.
Der Stationsvorsteher kam aus seinem Büro, eine Pfeife zwischen den Lippen und eine rote Fahne in der Hand, zusammengerollt wie ein Regenschirm. Dampf strömte von irgendwoher. Es war kein Dampf vom Zug, denn der fuhr elektrisch, aber irgendwie wurden die Bremsen entlüftet, wobei es spritzte und ruckelte wie in allen Zügen.
Mehrfaches Pfeifen, endlich. Josée, die an ihrem Eis leckte, ihrem , wie sie jetzt sagte, hob eine Hand zum Abschied. Dominique riet ihm:
»Achte vor allem auf deine Gesundheit und geh zum Essen zu Étienne.«
Ein Restaurant, das sie kannten, am Boulevard des Batignolles, nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung, und wo Dominique zufolge die Küche sauber und das Essen gesund war.
Die rote Fahne war entfaltet. Der Stationsvorsteher hob den Arm, ebenso wie Josée und wie nun auch Bib, der ihn nachahmte.
Der Zug hätte bereits abgefahren sein sollen. Die Uhr zeigte sieben Uhr fünfundfünfzig.
Doch statt seine Geste zu beenden, senkte der Stationsvorsteher, der den Zug in ganzer Länge im Blick hatte, den Arm, während er mehrere kurze eindringliche Pfiffe ausstieß.
Der Zug fuhr nicht los. Die Leute auf dem Bahnsteig schauten nach vorn. Calmar beugte sich hinaus, ohne etwas anderes zu sehen als lauter Köpfe, die ebenso wie sein eigener hinausgebeugt waren.
»Was ist los?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Dominique, »ich sehe nichts Ungewöhnliches.«
Sie war schlank, allerdings nicht ganz so dünn wie ihre Tochter, und sah selbst in kurzen Hosen noch immer stilvoll aus. Da sie, anders als die Kinder, nicht braun wurde, hatte sie sonnengerötete Haut, und die Brille verdeckte ihre blauen Augen.
Der Stationsvorsteher, auf den sich alle Blicke richteten, schien es nicht mehr eilig zu haben. Die Fahne unter dem Arm, schaute er immer noch in Richtung Lokomotive, geduldig wartend auf Gott weiß was, und überall auf dem Bahnhof war es ein wenig so, als würde ein Film unvermittelt anhalten und ein Standbild zeigen, eine schlichte Farbfotografie.
Hände wussten nicht mehr, was zu tun war mit den bereits ausgebreiteten Taschentüchern. Abschiedslächeln blieben in der Schwebe und wurden zu Grimassen.
»Kommt jemand zu spät?«, fragte eine Stimme neben Calmar.
»Ich weiß nicht. Ich sehe niemanden rennen.«
Der Mann, eine gedrungene Gestalt, stand auf, wobei er seine Zeitung auf der Bank liegen ließ.
»Sie erlauben?«
Im Fensterrahmen traten sein Gesicht und seine Schultern einen Augenblick lang an die Stelle von Justins.
»Bei den Italienern weiß man nie …«
Er hatte Zeit gehabt, Dominique und die beiden Kinder zu sehen. Calmar nahm seinen Platz wieder ein, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Er spürte sehr wohl, dass Josée und Bib ungeduldig darauf warteten, aufzubrechen, aus dem überhitzten Bahnhof herauszustürzen, ins Vaporetto zu springen, das sie an den Strand fahren würde. Dominique hingegen hatte einen sorgenvollen, melancholischen Gesichtsausdruck.
»Achte vor allem auf deine Gesundheit, Justin.«
»Ich verspreche es dir.«
»Ich glaube, jetzt fährt der Zug ab.«
Es dauerte noch zwei unendlich lange Minuten, in denen alle den gleichgültigen Stationsvorsteher beobachteten.
Endlich kam ein Stationsbeamter durch die Glastür seines Büros, gab ein Zeichen, und der Stationsvorsteher pfiff, wartete noch ein paar Augenblicke und schwenkte seine Fahne. Der Zug fuhr ruckartig an. Der Bahnsteig glitt vorüber, darauf die aufgereihten Gestalten. Justin beugte sich noch weiter hinaus, während die Gestalt seiner Tochter immer kleiner wurde, ihr roter Badeanzug sich nach und nach mit all den anderen Farben des Bahnhofs mischte.
Die Sonne erfasste sie, drang ungehemmt in das Abteil zusammen mit einem Schwall heißer Luft, und mit einem Seufzer zog Calmar das blaue Stoffrollo herunter, das sich wie ein Segel aufblies und zwei- oder dreimal wieder nach oben schlug, bevor es an der richtigen Stelle blieb.
Sie fuhren.
Obwohl er keine Lust dazu hatte, konnte er sich von seinem Platz aus jetzt in aller Ruhe seinen Reisegefährten genau ansehen, der seine Zeitung zusammengeknüllt und unter die Bank geschoben hatte.
Eine ganze Weile gaben die beiden Männer vor, sich nicht gegenseitig zu beobachten, mit dem Unterschied vielleicht, dass der Unbekannte weniger eilig den Blick abwandte als sein Begleiter.
Er war schon etwas älter, vielleicht fünfundfünfzig Jahre, vielleicht sechzig, und seine Schultern waren sehr breit, sein Oberkörper kräftig, seine Gesichtszüge hart.
Calmar hatte genügend Zeit gehabt, um zu bemerken, dass seine Zeitung in kyrillischer Schrift gedruckt war. Russisch? Slowenisch?
Das bläuliche Rollo schnellte mit einem Schlag zurück nach oben und ließ die Sonne erneut herein, und dieses Mal war der Mann derjenige, der aufstand und es wieder richtete, als kenne er sich damit aus.
»Franzose?«, fragte er, als er sich wieder setzte.
»Ja.«
»Paris?«
»Ja.«
»Ich habe bemerkt, dass Ihre Frau mit Pariser Akzent spricht.«
Calmar hatte nichts dagegen, sich zu unterhalten, aber der Einstieg war immer unangenehm. Der Zug hielt bereits in Venezia Mestre, dem anderen Bahnhof von Venedig, und Einheimische liefen den Flur entlang auf der Suche nach der...




