Simonson Der letzte Sommer
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8907-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 540 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8907-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helen Simonson ist in East Sussex / England geboren und aufgewachsen. Nach dem Abschluss an der London School of Economics hat sie lange in der Werbung gearbeitet. Ihr erster Roman >Mrs Alis unpassende Leidenschaft< stand auf der Longlist für den IMPAC Dublin Award, war New York Times-Bestseller und auf der Bestsellerliste der unabhängigen Buchhandlungen mehrere Wochen auf Platz 1. Der Roman wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in New York
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Wie eine Insel ragte das Städtchen Rye aus dem flachen Marschland. Die Pyramide verschachtelter roter Dächer glühte im schräg einfallenden Licht der Abendsonne. Die Kreidehügel von Sussex zogen sich als breite, nahtlose Schattenlinie von Ost nach West, aus den Wiesen dampfte die Hitze des Tages, und das Meer lag da wie gewalztes Zinn. Hugh Grange stand vor dem Terrassenfenster und hielt in dem vergeblichen Versuch, die Zeit zum Stehen zu bringen, die Luft an. Als kleiner Junge hatte er das oft gemacht, wenn seine Tante das Anzünden der Lampen in diesem etwas abgenutzten Wohnzimmer zum Anlass genommen hatte, ihn zu Bett zu schicken. Lächelnd dachte er daran, wie sich jene Sommerabende hingezogen hatten, an denen man ihm erst nach bitterlichem Klagen erlaubt hatte, viel länger als sonst aufzubleiben. Kleine Jungen, das wusste er mittlerweile, waren unverbesserliche Spitzbuben, die sich mit dunklem Herzen und unschuldig blickenden Augen bettelnd, flehend und schmeichelnd immer neue Rechte und Leckerbissen zu verschaffen suchten.
Die drei Jungen, denen er in diesem Sommer auf Bitten seiner Tante Privatunterricht erteilte, hatten ihn um einen halben Sovereign und den Großteil seiner Bücher erleichtert, ehe ihm klar geworden war, dass sie weder so großen Hunger hatten, wie ihr Gejammer glauben machen wollte, noch irgendein Interesse für Ivanhoe, das über die Frage hinausging, was der Mann mit dem Gebrauchtbücherstand am Marktplatz dafür zahlen würde. Doch er nahm es ihnen nicht übel. Vielmehr bewunderte er ihre Pfiffigkeit und hegte den kleinen Traum, dass die wenigen Unterrichtsstunden und sein Vorbild ihre Bauernschläue bis zum Beginn des neuen Oberschuljahrs in geistige Neugier verwandeln könnten.
Die Tür zum Wohnzimmer wurde schwungvoll geöffnet, und Hughs Cousin Daniel trat mit einer gespielten Verbeugung zur Seite, um Tante Agatha den Vortritt zu lassen. »Tante Agatha glaubt nicht, dass es Krieg geben wird«, bemerkte er lachend und folgte ihr ins Zimmer. »Und wenn sie es sagt, ist es natürlich auch so. Die maßgeblichen Herren werden den Teufel tun, sich ihr zu widersetzen.« Tante Agatha versuchte streng zu schauen, verdrehte aber nur die Augen und stieß fast gegen einen Beistelltisch, weil sie plötzlich alles verschwommen sah.
»Nichts dergleichen habe ich gesagt«, entgegnete sie und versuchte ihr langes, besticktes Tuch auf der Schulter zu behalten. Ebenso gut könnte man einen flachen Drachen auf einem kugelrunden Stein ablegen, dachte Hugh, während das Tuch bereits wieder herabzurutschen begann. Tante Agatha war auch mit fünfundvierzig noch eine gut aussehende Frau, aber sie neigte zur Korpulenz, und ihr Körper wies wenig Kantiges, zum Drapieren Geeignetes auf. Das Kleid aus fließendem Chiffon, das sie zum Abendessen angelegt hatte, besaß einen tiefen, weich fallenden Halsausschnitt und lange Ärmel im orientalischen Stil. Hugh hoffte, es möge im Verlauf des Essens die Fasson behalten, denn Tante Agatha pflegte ihre Gesprächsbeiträge mit ausladenden Gesten zu garnieren.
»Und was sagt Onkel John?«, fragte Hugh, trat vor das Tablett mit den Karaffen und schenkte seiner Tante das übliche Glas Madeira ein. »Kann er morgen wirklich nicht kommen?« Er hatte gehofft, die Meinung seines Onkels zu einem weniger weltbewegenden, aber nicht minder wichtigen Thema einholen zu können. Nach jahrelangem Medizinstudium stand er nicht nur kurz davor, Erster Assistenzarzt von Sir Alex Ramsey zu werden, einem der führenden Allgemeinchirurgen Englands, sondern war vermutlich auch in dessen sehr hübsche Tochter Lucy verliebt. Im vergangenen Jahr hatte er sich Lucy gegenüber eher reserviert gegeben, vielleicht um sich und anderen zu beweisen, dass seine Zuneigung mit keinerlei Hoffnung auf Aufstieg verknüpft war. Genau dieses Verhalten hatte ihn zu einem ihrer Favoriten unter den Studenten und jungen Ärzten, die Sir Alex Ramsey umschwärmten, werden lassen; doch erst seit diesem Sommer, seit sie mit ihrem Vater zu einer langen Vortragsreise nach Norditalien aufgebrochen war, empfand er in ihrer Abwesenheit eine wohlige Wehmut. Ihm fehlten die lebhaften Augen, ihr helles Haar, wie sie es nach einer trockenen Bemerkung von ihm lachend zurückwarf. Selbst die kleine Brille vermisste er, die sie trug, wenn sie für ihren Vater die Patientenakten abschrieb oder dessen umfangreiche Korrespondenz besorgte. Sie kam frisch von der Schule und ließ sich hin und wieder von den Vergnügungen ablenken, die London für fröhliche junge Leute bereithielt, war aber ihrem Vater sehr ergeben und würde, davon war Hugh überzeugt, einem aufstrebenden jungen Chirurgen eine hervorragende Ehefrau sein. Er hatte den großen, dringenden Wunsch, darüber zu reden, ob eine Heirat für ihn schon in Frage kam.
Onkel John war ein kluger Mann. Er hatte noch jedes Problem, das ihm Hugh über die Jahre stammelnd vorgetragen hatte, schnell begriffen und die Dinge stets so lange mit ihm besprochen, bis Hugh überzeugt gewesen war, eine fast unlösbare Schwierigkeit ganz allein bewältigt zu haben. Jetzt war Hugh kein kleiner Junge mehr. Er wusste, dass die Weisheit des Onkels nicht zuletzt auf diplomatischer Schulung beruhte, aber auch, dass sein Onkel eine ehrliche Zuneigung zu ihm hegte. Bevor seine Eltern zu ihrer lang ersehnten einjährigen Reise aufgebrochen waren, hatten sie ihm nahegelegt, sich im Notfall an Onkel John zu wenden.
»Deinem Onkel zufolge versuchen alle fieberhaft die Wogen noch vor Beginn der Sommersaison zu glätten«, antwortete seine Tante. »Er erzählt mir zwar nichts, aber der Premierminister und der Außenminister beraten sich täglich stundenlang in geheimer Sitzung mit dem König.« Onkel John bekleidete ein hohes Amt im Außenministerium, und Whitehall, wo es im Sommer sonst eher verschlafen zuging, war seit der Ermordung des Erzherzogs in Sarajevo voll von geschäftigen Staatsdienern, Politikern und Generälen. »Jedenfalls hat er mich angerufen und gesagt, dass er die Lehrerin abgeholt und nach Charing Cross zum letzten Zug gebracht habe. Sie wird erst nach dem Abendessen eintreffen und bekommt ein kleines Nachtmahl.«
»Wäre es angesichts der späten Stunde nicht rücksichtsvoller, sie in ihrer Unterkunft abzusetzen und ihr von der Köchin etwas Kaltes bringen zu lassen?«, sagte Daniel, ignorierte den trockenen Sherry, den Hugh ihm anbot, und schenkte sich ein Glas von Onkel Johns bestem Whisky ein. »Sie ist bestimmt sehr erschöpft und wahrscheinlich kaum auf ein Zimmer voller Leute in Abendgarderobe eingestellt.« Er bemühte sich um eine sachliche Miene, doch Hugh entdeckte einen leicht angewiderten Zug um seinen Mund, der wohl von der Aussicht herrührte, die neue, von der Tante engagierte Lehrerin unterhalten zu müssen. Nach seinem Abschluss am Balliol College hatte Daniel die ersten Sommerwochen als Gast eines adeligen Studienfreunds in Italien verbracht und sich eine dünkelhafte Attitüde zugelegt, die ihm Tanta Agatha – wie Hugh voller Vorfreude angenommen hatte – sehr schnell wieder austreiben würde. Doch Agatha hatte sich langmütig gezeigt und gesagt: »Soll er ruhig hineinschnuppern in das Leben der höheren Kreise, die Dämpfer kommen schnell genug. Wenn Daniel im Herbst die Stelle im Außenministerium antritt, die er den Bemühungen eures Onkels zu verdanken hat, lässt ihn sein Freund bestimmt sofort fallen. Gönnen wir ihm die kurze glanzvolle Zeit.«
Hughs Ansicht nach musste Daniel lernen, wo sein Platz im Leben war, doch er liebte seine Tante Agatha und befürchtete, jede weitere Diskussion könnte sie auf den Gedanken bringen, er verübelte es ihr, dass Daniel ihr Liebling war. Beim Tod von Daniels Mutter, Agathas Schwester, war Daniel erst fünf Jahre alt gewesen. Sein Vater war ein sonderbarer, kühl wirkender Mensch. Einen Monat nach dem Tod der Mutter hatte er Daniel ins Internat gegeben, und Agatha hatte Daniel über Weihnachten und in den Sommerferien bei sich aufgenommen. Hugh hatte damals zwiespältige Gefühle in Bezug auf Weihnachten gehabt. Die Feiertage verbrachte er immer in London bei seinen Eltern, die ihn vergötterten und verwöhnten, aber viel lieber wäre er mit ihnen nach Sussex gefahren, zu Tante Agatha. Doch seine Mutter, Onkel Johns Schwester, wollte bei ihren Freundinnen in der Stadt sein und sein Vater der Bank in der Weihnachtszeit nicht allzu lang fernbleiben. Hugh war glücklich gewesen inmitten der Berge von gestreiftem Geschenkpapier, der riesigen geheimnisvollen Schachteln und der überall in der Villa in Kensington herumstehenden Schalen mit Obst und Süßigkeiten. Doch wenn er abends im Bett gelegen hatte und die Musik der elterlichen Einladung zu ihm heraufgedrungen war, hatte er den Blick auf die dunklen Dächer hinter dem Fenster gerichtet und versucht, bis nach Sussex zu sehen, wo Tante Agatha Daniel bestimmt genau in diesem Augenblick eine ihrer wilden Gutenachtgeschichten erzählte, Geschichten von Riesen und Elfen, die in den Höhlen der Hügel von Sussex lebten und Feste feierten, die manchmal wie Donner klangen.
»Sei nicht albern, Daniel. Miss Nash kommt heute Abend hierher«, sagte Tante Agatha. Sie bückte sich, knipste die elektrische Lampe neben dem geblümten Sofa an, nahm Platz und streckte die Füße von sich, die merkwürdigerweise in mit Hummern bestickten orientalischen Pantoffeln steckten. »Es war ein harter Kampf, bis ich die Schulbeiräte dazu gebracht habe, eine Frau einzustellen. Ich werde sie mir gründlich ansehen und ihr verdeutlichen, was zu tun ist.«
Die Oberschule des Städtchens gehörte zu den zahlreichen sozialen Anliegen seiner Tante. Sie glaubte an Bildung für alle und schien zuversichtlich, dass zumindest aus einigen der Bauernjungen und Händlersöhne, die sich mit schmutzigen Knien im neuen, aus Backstein errichteten Schulhaus hinter dem Bahngleis drängten,...