Smith | Das Leben nach Boo | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Smith Das Leben nach Boo


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7317-6112-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6112-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Oliver 'Boo' Dalrymple ist dreizehn Jahre alt, hochbegabt, wenig beliebt und vor allem tot. Gerade noch hat er an seinem Schulspind gestanden, in das Periodensystem vertieft, da findet er sich im Wiedergeburtsraum eines seltsamen Jenseits wieder. Dort begrüßt ihn Thelma, ein schwarzes Mädchen, das in den sechziger Jahren gelyncht wurde, und erklärt ihm, was es damit auf sich hat: In einer von Mauern umgebenen Stadt leben ausschließlich verstorbene amerikanische Jugendliche seines Alters. Quicklebendig verbringen sie ihre Zeit wie auf einem großen Schulhof, sausen auf Fahrrädern umher und werden von einem hippiehaften Gott namens Zig mit allem versorgt, was Dreizehnjährige zum Leben brauchen. Boo hat gerade begonnen, sich an das Nachleben zu gewöhnen, als sein ehemaliger Klassenkamerad Johnny in der Stadt auftaucht und ein überraschendes neues Licht auf seine Vergangenheit wirft. Auf der Suche nach der brutalen Wahrheit wird ihre gerade erst geschlossene Freundschaft ernsthaft auf die Probe gestellt.'

Neil Smith lebt als Autor und Übersetzer in Montreal, Kanada. Sein Debüt Bang Crunch wurde von der Washington Post zum Buch des Jahres gewählt. Für seinen vielfach übersetzten Roman Das Leben nach Boo wurde er für den Young Adult Book Award, den Sunburst Award und den Prix des libraires nominiert, mit dem Hugh MacLennan Prize for Fiction ausgezeichnet und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Mit Jones begibt er sich auf die Spuren seiner eigenen schmerzhaften Familiengeschichte und zeigt auf, wie Traumata zu Literatur werden können.
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Habt ihr euch schon einmal gefragt, liebe Eltern, womit sich die Engel im Himmel die Zähne putzen? Ich kann es euch sagen. Mit doppeltkohlensaurem Natron, das wir auf unsere Zahnbürsten streuen. Es schmeckt ein bisschen salzig, was nicht weiter verwunderlich ist, weil doppeltkohlensaures Natron, genauer gesagt Natriumbikarbonat, eine Art Salz ist.

Doch ihr denkt eher nicht darüber nach, welche Zahnpasta es im Himmel geben könnte. Schließlich seid ihr Atheisten, und selbst gläubige Menschen machen sich nur selten Gedanken über die elementaren Seiten des Lebens nach dem Tod. Wenn sie an den Himmel denken, stellen sie sich wahrscheinlich am ehesten ein Gefühl allumfassender Liebe und allumfassenden Friedens vor und fragen sich nicht, ob die Ananas, die es dort zu essen gibt, frisch sind oder aus der Dose kommen. (Nebenbei bemerkt kriegen wir hier beides, allerdings mehr Dosenananas als frische.)

Dieser Bericht über mein Nachleben, den ich für euch schreibe, soll eine Art Handbuch für euch sein, und ich hoffe, eines Tages einen Weg zu finden, euch meine Geschichte zukommen zu lassen.

Wie ihr wisst, bin ich genau heute vor einem Monat, am 7. September 1979, vor meinem Spind in der Helen-Keller-Junior-High-School gestorben. Bevor ich starb, hatte ich versucht, die 106 Elemente des Periodensystems aufzusagen. Meine Spindnummer (Nr. 106) hatte mich auf die Idee gebracht, alle Elemente nach ihren Ordnungszahlen auswendig zu lernen. Bei Nr. 78 angekommen, Platin (Pt), wurde ich von Jermaine Tucker unterbrochen, der mir mit einem »Was zum Teufel treibst du denn jetzt schon wieder, Boo?«, eine Kopfnuss versetzte.

Ich habe euch ja erzählt, dass meine Klassenkameraden mich wegen meiner totenblassen Haut und meiner elektrisch aufgeladenen weißblonden Haare, die immer zu Berge stehen, Boo nannten, als wäre ich ein Geist oder ein Schreckgespenst. Einige von ihnen hielten mich sogar für einen Albino, was ich natürlich nicht bin: Echte Albinos haben rosa bis rote Augen, während meine hellblau sind.

»Boo! Wie ironisch«, sagt ihr jetzt vielleicht. »Denn unser Sohn ist ja nun ein Geist.« Aber das wäre falsch beziehungsweise keine echte Ironie. Echte Ironie wäre, hätte Jermaine Tucker gesagt: »Mann, Boo, ich bewundere und respektiere dich dafür, dass du die Elemente des Periodensystems auswendig lernst!« Respekt und Bewunderung sind nämlich das genaue Gegenteil dessen, was Jermaine und übrigens auch die meisten meiner anderen Klassenkameraden mir entgegenbrachten.

Wusstet ihr, dass ich eine Art Paria war? Falls nicht, tut es mir leid, dass ich euch das nie so deutlich gesagt habe, aber ich wollte nicht, dass ihr euch wegen etwas sorgt, das ihr in keinster Weise ändern konntet. Ihr habt euch auch so schon genug Sorgen über das angeborene Loch in meinem Herzen gemacht und mich immer ermahnt, mich bloß nicht zu überanstrengen.

Jermaine verzog sich ins Klassenzimmer, und ich machte unter den Blicken des Evolutionsbiologen Richard Dawkins und der Primatologin Jane Goodall, deren Fotos ich innen an meine Spindtür geheftet hatte, unbeirrt mit meiner Liste weiter. Zum allerersten Mal kam ich bis zur Nr. 106, Seaborgium (Sg), ohne auch nur ein einziges Mal auf die Tabelle zu schielen, die unter den Fotos von Richard und Jane hing.

Anscheinend aber war diese mentale Höchstleistung zu viel für mein löchriges Herz, denn im nächsten Augenblick brach ich tot auf dem Boden zusammen. In Anbetracht meines Spitznamens könnte ich sagen, dass ich den Geist aufgab, aber ich hasse Euphemismen und ziehe es vor, Tatsachen schlicht und einfach nur zu konstatieren. Und Tatsache ist: Mein Herz blieb stehen, und ich starb.

Wieviel Zeit zwischen dem letzten Schlag meines Herzens im Schulflur der Helen-Keller und dem Moment verging, als ich im Jenseits die Augen aufschlug, kann ich nicht sagen. Wer weiß schon, in welcher Zeitzone der Himmel liegt? Aber der Raum, in dem ich lag, entsprach nicht einmal annähernd irgendwelchen himmlischen Klischeebildern. Keine weißgewandeten Engel schwebten huldvoll lächelnd und lieblich singend auf Wolkenbänken. Stattdessen sah ich ein schwarzes Mädchen, das schnarchend in einem Drehsessel mit hoher Rückenlehne saß. Auf dem Boden vor ihr lag ein Buch.

Ich wusste sofort, dass ich tot war, weil ich das Mädchen klar und deutlich sehen konnte, obwohl ich meine Brille nicht aufhatte. Ich konnte sogar den Titel des Buchs lesen (Brown Girl, Brownstones von Paule Marshall). Überhaupt sah ich alles um mich herum absolut klar. Das Mädchen trug Jeans und ein mit Angorakätzchen bedrucktes T-Shirt. An den Enden ihrer zu vielen Zöpfchen geflochtenen Haare baumelten bunte Perlen. Sie erinnerten mich an das Rechenbrett, das ihr mir geschenkt habt, als ich fünf war.

Ich lag mit einem Laken und einer dünnen Baumwolldecke zugedeckt in einem Einzelbett. Abgesehen von dem Drehsessel war das Bett das einzige Möbelstück in dem fensterlosen Zimmer. An der Decke kreiselte ein Ventilator, an den Wänden hingen abstrakte Gemälde – Kringel, Kleckse, Spritzer. Ich setzte mich auf. Meine nackte Brust kam mir sogar noch weißer vor als sonst, und die bläulichen Adern, die meine Schultern mit einem Marmormuster überzogen, zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Ich linste unter die Decke und sah, dass ich weder eine Schlafanzughose noch eine Unterhose anhatte. Nacktheit an sich stört mich nicht, ein Penis ist genauso wenig Grund zu Verlegenheit wie ein Ohr oder eine Nase. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass ich beispielsweise den Duschraum der Helen-Keller als angenehmen Aufenthaltsort empfunden hätte. Erstens war dieser Duschraum eine Brutstätte für das humane Papillomavirus, das unter anderem Dornwarzen hervorruft. Außerdem fand Kevin Stein es dort gleich zweimal zum Brüllen komisch, mein Bein anzupinkeln.

»Tschuldigung? Hallo?«, rief ich dem Mädchen im Drehsessel zu, das erschrocken zusammenfuhr und mich mit großen Augen ansah.

»Darf ich davon ausgehen, dass ich tot bin?«, fragte ich.

Sie hievte sich aus dem Sessel, wobei sie ihren Roman unter das Bett kickte, kam eilig zu mir herüber, ergriff meine Hand und drückte sie. Ich riss sie sofort zurück, weil ich mich, wie ihr wisst, nicht gern anfassen lasse.

»Du bist nicht tot, Herzchen«, sagte sie. »Du bist zwar gegangen, aber du lebst noch.«

»Gegangen?«

»Wir hier sagen nicht ›sterben‹, sondern ›gehen‹, als wäre man einfach nur woanders hingegangen«, erklärte sie mit einem Lächeln, das eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen enthüllte, durch die man einen Strohhalm hätte stecken können. Als sie sich auf die Bettkante setzte, sackte die Matratze unter ihrem Gewicht ein, weil sie ziemlich dick war. Irgendwann einmal hatte ich in der Zeitschrift Science einen Artikel über Langlebigkeit gelesen, in dem es hieß, dass schlanke Menschen länger leben, und als Ausgleich für mein löchriges Herz versuchte ich seitdem, mein Leben dadurch zu verlängern, dass ich auf mein Gewicht achtete. Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Bemühungen vergeblich waren.

»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, sagte das Mädchen. »Ich bin Thelma Rudd und komme ursprünglich aus Wilmington, North Carolina. Meiner Familie gehört das Horseshoe Diner dort.« Dann erkundigte sie sich nach meinem Namen und wollte wissen, wo ich herkäme.

»Oliver Dalrymple aus Hoffman Estates, Illinois«, antwortete ich. »Meine Eltern haben da einen Frisiersalon, er heißt ›Clippers‹.«

»Weißt du, wie es dazu gekommen ist, dass du gegangen bist, Oliver Dalrymple?«

»Ich glaube, der Grund war mein löchriges Herz.«

»Dein was?« Sie sah mich verwirrt an.

»Mein löchriges Herz. Oder anders ausgedrückt: Ich habe ein Loch im Herzen. Ich wurde schon damit geboren.«

»Oh, wie schrecklich.« Sie tätschelte mitfühlend mein Bein.

Dann erklärte sie mir, sie sei Mitglied einer Freiwilligengruppe, die sich »Helfer« nannten. »Ich melde mich immer am liebsten für den Wiedergeburtsdienst hier im Meg-Murry-Hospital«, sagte sie. »Ich mag es, Neugeborene wie dich bei uns willkommen zu heißen.«

Ich fragte, wie lange so eine »Wiedergeburt« dauere.

»Sie ist schneller vorbei, als du blinzeln kannst«, sagte Thelma und blinzelte mehrmals. »Übrigens hat hier im Meg-Murry immer irgendein Helfer Bereitschaft, weil wir nie wissen, wann eine neue Sendung ankommt.«

Sie klopfte auf die Matratze, und ich besah mir das Bett mit der zerknitterten Decke und dem Abdruck meines Kopfes auf dem Kissen. Es sah kein bisschen geheimnisvoll oder magisch aus. »Wir liegen plötzlich einfach hier?«, fragte ich.

Thelma nickte und warf mir einen prüfenden Blick aus so tief liegenden Augen zu, dass ich vermutete, auch sie hatte früher eine Brille getragen. »Weißt du, du bist der gelassenste Neugeborene, dem ich je begegnet bin«, sagte sie. »Du würdest nicht glauben, was ich in meinen neunzehn Jahren hier in der Stadt schon alles an hysterischen Anfällen erlebt habe.«

»Deinen neunzehn Jahren?«, rief ich. »Du siehst genauso alt aus wie ich.«

»Bin ich auch. Wir sind alle dreizehn.«

Dieses spezielle Jenseits – »wir nennen es einfach die Stadt« –, erklärte sie mir, sei ausschließlich Amerikanern vorbehalten, die im Alter von dreizehn Jahren gegangen waren. »Wir glauben übrigens, dass es im Himmel noch viele andere Städte gibt, eine für jedes Alter. Also eine für Leute, die mit sechzehn gehen, eine für die...


Smith, Neil
Neil Smith lebt als Autor und Übersetzer in Montreal, Kanada. Sein Debüt Bang Crunch wurde von der Washington Post zum Buch des Jahres gewählt. Für seinen vielfach übersetzten Roman Das Leben nach Boo wurde er für den Young Adult Book Award, den Sunburst Award und den Prix des libraires nominiert, mit dem Hugh MacLennan Prize for Fiction ausgezeichnet und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Mit Jones begibt er sich auf die Spuren seiner eigenen schmerzhaften Familiengeschichte und zeigt auf, wie Traumata zu Literatur werden können.

Walitzek, Brigitte
Brigitte Walitzek geboren 1952, lebt in Berlin. Seit 1986 ist sie Übersetzerin, u. a. von Margaret Atwood, Peter Behrens, Jane Bowles, Jennifer Egan, Margaret Forster, Germaine Greer, Katherine Mansfield, Carson McCullers, Neil Smith, Jean Rhys, Amy Waldman, Jeanette Winterson und Virginia Woolf.

"Neil Smith lebt als Autor und Übersetzer in Montreal, Kanada. Sein Debüt "Bang Crunch" wurde von der Washington Post zum Buch des Jahres gewählt. Der Erzählungsband war außerdem nominiert für den Commonwealth Writers Prize und gewann den Debütpreis der Quebec Writers" Federation. Für seinen Roman "Das Leben nach Boo", der in sieben Sprachen übersetzt ist, wurde für den Young Adult Book Award, den Sunburst Award und den Prix des libraires nominiert und mit dem Hugh MacLennan Prize for Fiction ausgezeichnet."



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