Smith | Naked at Lunch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Smith Naked at Lunch

Ein Nacktforscher in der Welt der Nudisten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-17690-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Nacktforscher in der Welt der Nudisten

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-17690-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mann zieht blank

Worin liegt der Kick, auf einem Kreuzfahrtschiff mitten unter 2.000 Nudisten einen Drink zu nehmen – und sich dann für den textilfreien Yoga-Kurs anzumelden? Wie fühlt es sich an, nackt zu dinieren? Ist die Aufmerksamkeit des Kenners bei der hüllenlosen Weinverkostung schärfer denn je? Und ist es überraschend, dass bei einer Nackt-Trekkingtour in Österreich alle Entgegenkommenden freundlich grüßen? Im Selbstversuch hat Mark Haskell Smith sich ein Jahr lang in die Welt der Nudisten begeben und ihre Undresscodes, ihren Lifestyle und ihre Philosophie erforscht. Stets unbekleidet, versteht sich. Ob nackt oder verhüllt – dieses Buch wird Ihr Leben freier machen ...

Mark Haskell Smith arbeitet als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist und unterrichtet an der University of California Riverside. Neben seinen Romanen ist er in Amerika vor allem mit seinem Sachbuch Heart of Dankness bekannt geworden, für das er sich in die Marihuana-Homegrown-Szene begeben hat. Zu seinen Einflüssen zählt er Richard Brautigan, Pedro Almódovar und The Eels. Smith lebt in Los Angeles und liebt mexikansiches Essen. www.markhaskellsmith.com
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WILLKOMMEN AN BORD

»Wir sind weit genug weg, und Sie können jetzt …«

Eine Pause, so als wüsste der Kreuzfahrtdirektor nicht recht, wie er das nennen sollte, was gleich passieren würde. Dann: »… eine entspannte Atmosphäre genießen.«

Die Ansage hallte noch durchs Schiff, da ging auch schon das große Sacklüften los. Shorts und Shirts fielen zu Boden, und Penisse baumelten in der südfloridianischen Sonne. Die Erlaubnis war erteilt worden. Pobacken durften endlich ungehindert vor sich hin wackeln, und aus dem Joch von Bluse und BH befreite Brüste drängten an die frische Luft, um sich von der sanften Tropenbrise liebkosen zu lassen. Auf einem Schiff. Eintausendachthundertsechsundsechzig Nudisten lebten den Traum von Textilfreiheit auf einem riesengroßen Schiff.

Nicht, dass nicht einige schon vor der Freigabe durch den Kreuzfahrtdirektor praktisch nackt gewesen wären. Viele hatten sich bereits in verschiedensten Stufen der Entkleidung befunden, in ungeduldiger Erwartung, endlich ganz die Hüllen fallen zu lassen. Ein skeletthafter Mann um die achtzig schlenderte in nichts als einem fluoreszierenden Tanga durchs Schiff, wobei die schlaffe Haut ihm in Kaskaden von den Knochen hing wie leberfleckige Zuckerglasur. Ein Hüne mit einem Brustkorb wie ein Fass – er sah wirklich aus, als hätte er ein Fass verschluckt – trampelte mithilfe eines Hochleistungs-Gehstocks in einem läppischen Lendenschurz übers Lido-Deck. Im Whirlpool schlüpften ein paar Leute bereits klammheimlich aus der Badehose, während die weniger rebellischen leicht bedröppelt am Pool rumlungerten und auf grünes Licht warteten. Schließlich waren sie Nudisten. Und sie hatten ordentlich Kohle hingelegt, um sich hier nackt zu vergnügen. Als das OK kam, wurde also nicht lange gefackelt.

Ich war noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen oder hatte mich auch nur für so was interessiert. Aber das war auch nicht irgendeine Kreuzfahrt, sondern die Big Nude Cruise, eine Charterfahrt im Auftrag von Bare Necessities, dem führenden »nakation«-Reiseunternehmen1. Und nicht nur das: Die Fahrt fand auf der Nieuw Amsterdam statt, einem der luxuriösesten Schiffe der Holland America Lines. Das hier war keine im tiefsten Wald gelegene Wohnmobilsiedlung für Nackedeis oder die Hippie-Wiese unten am See, sondern die Deluxe-Version nichtsexueller, gemeinschaftlicher Nackterholung. Also von Nudismus. Oder auch Naturismus. Kommt drauf an, wen man fragt. Es gibt diverse Theorien, was die beiden Begriffe eigentlich genau bedeuten, und historisch gesehen ist es tatsächlich nicht ganz dasselbe. Aber Tatsache war erst mal, dass ich auf einem Schiff mit beinahe zweitausend Menschen steckte, die keinen Fetzen Kleidung am Leib hatten.

Subkulturen faszinieren mich eigentlich immer – die Deadheads oder Juggalos zum Beispiel, die jeweils eine ganz eigene Kultur daraus gemacht haben, ihren Lieblingsbands auf Tour nachzureisen. Aber auch die Hobby-Ingenieure, die in ihren Garagen Roboter basteln, die Heim-Brauer, die in der Küche mit Bier experimentieren, oder die Foodies, die sich in illegalen Restaurants in Privathäusern zum Essen treffen. Menschen machen komische Sachen. Sie sammeln Briefmarken und beobachten Züge, sie ziehen ihre Haustiere an wie berühmte Filmfiguren, sie verkleiden sich selbst wie Anime-Helden, und sie fahren in Tierkostümen auf Conventions und haben Gruppensex in »Plüschhaufen«. Um all diese Aktivitäten bilden sich eigene Kulturen, Gruppen mit speziellem Jargon, den Außenseiter nicht verstehen. Besonders faszinieren mich Subkulturen, die als moralisch zwielichtig oder halblegal gelten; Leute, die ihrer Leidenschaft frönen, obwohl sie dafür in den Knast gehen oder ausgegrenzt werden könnten. Ich kann mir nicht helfen, ich mag sie einfach, diese Überzeugungstäter. Diese Fanatiker.

Mein erstes Sachbuch handelte von der Subkultur der Cannabis-Feinschmecker und Untergrundbotaniker, die sich Marihuana-Zuchtsorten aus der ganzen Welt beschaffen. Um Cannabis rankt sich eine reichhaltige Geschichte voll bunter Gestalten, die gegen erdrückende Drogengesetze rebellieren und fröhlich auf gesellschaftliche Normen scheißen. Von dort war es kein großer Sprung zur Neugier auf die Welt der Nudisten. Oder in den Worten meiner Frau: »Erst bist du ständig bekifft, und jetzt willst du nackt rumlaufen? Kannst du nicht mal ein Buch über Käse schreiben? Du magst doch Käse!«

Der Schiffslautsprecher knackte, und der Kapitän fügte als kleine Einschränkung hinzu: »Bitte denken Sie daran, sich in den Essensbereichen etwas überzuziehen.«

Das hinderte allerdings niemanden daran, auch dort nackt aufzukreuzen. Oder in den Bars. Oder überhaupt irgendwo. Sie waren nackt an Deck, im Bordkino, der Bibliothek, dem Casino und an der Schlange vorm Büfett. In der Pianobar drängten sich Nudisten und wünschten sich Songs von Elton John und Billy Joel. Das große Showtheater war voll von nackten Frauen und Männern. Sie waren in den Aufzügen und auf den Gängen, sie spielten Tischtennis, stemmten Gewichte im Kraftraum und schlürften Cocktails am Pool.

Im Fitnesscenter fragte eine Frau die bordeigene Yoga-Lehrerin, ob man sich für die Yoga-Stunden anziehen müsse. Die Lehrerin musterte sie verständnislos. Dann, als ihr die ganze Bedeutung der Frage aufging – ich schätze mal, sie sah plötzlich einen Raum voller Nackter beim Herabschauenden Hund vor sich –, antwortete sie mit panischem Gesichtsausdruck: »Oh, in der Stunde? Ja, anziehen! Unbedingt anziehen!«

Doch außerhalb der Yoga-Stunden hingen und baumelten Hoden und Brüste, wohin man auch sah, wiegten sich von links nach rechts mit dem Schiff auf den Weiten des Ozeans, und schwabblige Schwarten schwappten Richtung Boden wie dieses Blubberzeug in Lavalampen. Der menschliche Körper in seiner ganzen unverfälschten Pracht, unübersehbar zur Schau gestellt.

Am ersten Abend hörte ich an der sogenannten Ocean Bar mit an, wie ein aalglatter Silberschopf2 sich laut beklagte, es seien zu viele alte Leute an Bord. »Im Mittel fünfundsechzig, schätze ich.« Er war zweiundsechzig.

Wenn alte Leute sich darüber beschweren, dass zu viele alte Leute da sind, kann man davon ausgehen, dass wirklich zu viele alte Leute da sind.

Die meisten Passagiere waren Rentner, größtenteils aus Amerika. Ergo stolzierten auf dem Schiff eine ganze Menge übergewichtige Menschen herum, wie Gott sie geschaffen hatte. Dass sie das so unbefangen taten, ohne jeden Anflug der neurotischen Körperfixiertheit, der wir ganze Generationen diätverrückter, bulimischer, anorektischer oder einfach nur hundeelender Menschen verdanken, fand ich geradezu inspirierend. Sie schämten sich nicht für ihre Körper, akzeptierten sich und die anderen so, wie sie waren, und hatten offensichtlich Spaß dabei.

Doch nicht alle an Bord waren in Rente. Ich habe einen Mathelehrer kennengelernt, eine Radiologin, einen Werkzeugverkäufer und ein paar Leute aus dem Militär. Es gab Pharmavertreter, Fotografinnen, Wissenschaftlerinnen, Ärzte, Wirtschaftsbosse, Lehrer, Anwältinnen, Anwaltsgehilfen, einen Harvard-Professor und einige Leute, die im Urlaub schlicht nicht über ihren Job sprechen wollten.

Und natürlich waren nicht alle fett und schwabbelig. Es gab ein großes LGBT-Kontingent, das sich eher am gesunden Ende des Body-Mass-Index bewegte, und ein paar waschechte junge Leute: trainierte, tätowierte Mittzwanziger, die zusammengluckten, als wären die nackten Rentner die Vorboten einer grausigen Apokalypse. Die nackten Mittzwanziger betrachteten die nackten Mittsiebziger, als könnten sie plötzlich in die Zukunft sehen, als hätte sich ein Portal im Raum-Zeit-Kontinuum aufgetan und den Blick auf eine dystopische Welt eröffnet, in der Schwerkraft und sesshafter Lebensstil sich verschworen hatten, alle Menschen aufgehen und in sich zusammensinken zu lassen wie ein misslungenes Soufflé. Herzzerreißend unvermeidlich. Möglicherweise erklärte dieser Blick in den Abgrund zumindest teilweise den ungezügelten Alkoholkonsum der Jüngeren.

Die meisten Kreuzfahrtgäste waren weiß, aber auch ein paar asiatische und afroamerikanische Textilfeinde waren darunter. Von überall waren sie gekommen. Manche waren dem Polarwirbel entflohen, der eisigen Wind und Rekordschneefälle nach Chicago, Milwaukee, Cincinnati, Philadelphia, Boston und in andere Städte gebracht hatte; andere stammten aus wärmeren Gefilden wie Tampa, Phoenix, Los Angeles oder San Diego; Nudisten aus Kansas, Iowa, Oklahoma und Texas vertraten das Kernland. Nackte aus dem Ausland gab es auch: Kanadier aus Toronto und Québec sowie echte Ausreißer aus so exotischen Ländern wie Finnland, Australien, Deutschland und den Niederlanden. All diese Menschen waren den weiten Weg gekommen, nur um auf dem Lido-Deck eines Kreuzfahrtschiffs die Seele baumeln zu lassen – und alles andere gleich mit.

Einige klammerten sich an Cocktails-des-Tages in leuchtenden Plastikgläsern, andere räkelten sich auf Liegen. Manche tanzten zur Stampfmusik aus der Stereoanlage, manche vergnügten sich im Whirlpool. Aber die meisten unterhielten sich einfach miteinander, lachten und wirkten unglaublich nett.

Und niemand hatte auch nur den kleinsten Fetzen am Leib.

Wie kommen scheinbar ganz normale Menschen...


Smith, Mark Haskell
Mark Haskell Smith arbeitet als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist und unterrichtet an der University of California Riverside. Neben seinen Romanen ist er in Amerika vor allem mit seinem Sachbuch Heart of Dankness bekannt geworden, für das er sich in die Marihuana-Homegrown-Szene begeben hat. Zu seinen Einflüssen zählt er Richard Brautigan, Pedro Almódovar und The Eels. Smith lebt in Los Angeles und liebt mexikansiches Essen. www.markhaskellsmith.com

Schönherr, Jan
Jan Schönherr, geboren 1979 in Weingarten, lebt in München und übersetzt aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Für seine Übersetzungen wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur.



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