E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Stamm Wir fliegen
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-401022-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-10-401022-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Literaturpreise: Rheingau Literatur Preis 2000 Bodensee-Literaturpreis 2012 Friedrich-Hölderlin-Preis 2014 Cotta Literaturpreis 2017 ZKB-Schillerpreis 2017 Solothurner Literaturpreis 2018 Schweizer Buchpreis 2018
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Die Erwartung
Es ist seltsam, dass man durch den größten Lärm hindurch ein ganz leises Geräusch hört, wenn man darauf gewartet hat. Die anderen haben es bestimmt nicht gehört. Sie kennen das Geräusch ja nicht, das leise Knarren des Fußbodens der Wohnung über mir. Sie reden weiter, als sei nichts. Sie reden und lachen und trinken meinen Wein und essen, was ich für sie gekocht habe, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Vermutlich glauben sie, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie mich besuchen. Die meisten Frauen lernen ihre Partner bei der Arbeit kennen, heißt es. Aber wir haben es bei der Arbeit nur mit Fünf- und Sechsjährigen zu tun. Und mit ihren Eltern, mit Paaren oder alleinerziehenden Müttern. Karin und Pim kennen sich von den Pfadfindern, Janneke und Stefan sind sich in den Ferien begegnet, in Australien. Die Geschichte habe ich schon hundertmal gehört. Dass sich zwei Holländer ausgerechnet in Australien kennenlernen. Das finden sie lustig. Sie sprechen über gute Vorsätze, die sie gefasst haben zum Jahreswechsel. Die Brille runterklappen, nachdem du auf der Toilette warst, sagt Karin zu Pim. Machst du das nicht?, fragt Janneke mit angewidertem Gesicht. Sie sagt, sie habe Stefan beigebracht, im Sitzen zu pinkeln. Karin sagt, Männer hätten einen anderen Hygienebegriff. Und Frauen, die ihre benutzten Tampons in den Papierkorb werfen?, sagt Pim. Sie reden immer so. Den ganzen Abend hat keiner ein vernünftiges Wort gesagt.
Kriegen wir Kaffee?, fragt Stefan, als sei ich die Serviererin. Nein, sage ich. Erst haben sie es gar nicht gehört. Ich muss es noch einmal laut und deutlich sagen. Ich bin müde. Ich wäre froh, wenn ihr jetzt geht. Sie lachen nur und sagen, dann trinken wir den Kaffee halt anderswo. Beim Hinausgehen fragt Janneke noch, ob es mir gutgeht. Sie macht ein mitleidiges Gesicht, wie wenn eines der Kinder stürzt und sich das Knie aufschürft. Man könnte meinen, sie fange selbst gleich an zu weinen, aber sie hört gar nicht hin, als ich sage, alles in Ordnung, ich will einfach allein sein. Ich glaube nicht, dass sie noch in ein Restaurant gehen. Ich glaube nicht, dass sie über mich reden werden. Es gibt nichts zu reden über mich, und das ist gut so.
Ich gehe ganz leise zurück ins Wohnzimmer und lausche. Erst ist es lange still, dann ist wieder das Knarren zu hören. Es klingt, als gebe sich jemand Mühe, keinen Lärm zu machen, als schleiche jemand in der Wohnung über mir herum. Ich folge den Schritten von der Tür bis zum Fenster und zurück in die Mitte des Raums. Ein Stuhl oder sonst ein leichtes Möbelstück wird verschoben, und dann ist da noch ein anderes Geräusch, von dem ich nicht weiß, woher es stammt. Es klingt, als sei etwas heruntergefallen, etwas Schweres, Weiches.
Ich habe Frau de Groot nie getroffen, weiß nur vom Klingelschild, wie sie heißt. Trotzdem ist es mir, als kenne ich sie besser als irgendjemanden sonst. Ich habe ihr Radio gehört und den Staubsauger und das Klappern von Geschirr, so laut, als spüle jemand in meiner Küche ab. Ich habe sie aufstehen gehört in der Nacht und herumschlurfen, habe gehört, wenn sie das Wasser laufen ließ im Bad oder die Toilettenspülung zog oder das Fenster öffnete. Manchmal tropfte Wasser auf meinen Balkon, wenn sie oben die Blumen goss, aber wenn ich mich hinauslehnte und nach oben schaute, sah ich niemanden. Ich glaube, sie hat die Wohnung überhaupt nie verlassen. Ich mochte die Geräusche. Es war mir, als lebte ich mit einem Geist zusammen, einem unsichtbaren freundlichen Wesen, das über mir wacht. Vor ungefähr zwei Wochen wurde es plötzlich still. Seither habe ich nichts mehr gehört. Und jetzt dieses Knarren.
Erst habe ich gedacht, es ist ein Einbrecher. Während ich mich ausziehe und ins Bad gehe, überlege ich, ob ich die Polizei anrufen soll oder den Hausmeister. Ich bin schon im Nachthemd, als ich mich entschließe, selbst nachzuschauen. Ich bin erstaunt, dass ich keine Angst habe. Aber Angst habe ich eigentlich nie, vor nichts. Das muss man lernen als alleinstehende Frau. Ich ziehe den Morgenrock über und schlüpfe in meine Schuhe. Ich schaue auf die Uhr. Es ist elf.
Ich muss zweimal klingeln, dann sehe ich durch den Spion das Licht angehen, und ein junger Mann, viel jünger als ich, öffnet die Tür und sagt sehr freundlich Guten Abend. Da denke ich schon, es war ein Fehler heraufzukommen, und warum ich mich immer in fremde Angelegenheiten mischen muss, statt mich um meine eigenen zu kümmern. Aber wenn man dann hört, dass Menschen sterben und wochenlang in ihren Wohnungen liegen, ohne dass jemand es merkt. Der Junge trägt schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem »Iron Maiden« steht, der Name einer Rockgruppe, glaube ich. Er hat keine Schuhe an, in seinen Socken sind Löcher.
Ich sage, ich wohne einen Stock tiefer und habe Schritte gehört. Und weil Frau de Groot ja offenbar ausgezogen ist, habe ich gedacht, es ist vielleicht ein Einbrecher. Der Junge lacht und sagt, ich sei mutig, einfach raufzukommen. An meiner Stelle hätte er die Polizei gerufen. Woher ich wisse, dass eine Frau hier wohne? Er hat recht. Auf dem Klingelschild steht nur »P. de Groot«. Aber ich war mir vom ersten Moment an sicher, dass es eine Frau sein muss, eine alte Frau. Ich sage, ich habe nie jemanden gesehen, nur gehört. Er fragt, ob Frauen anders klingen als Männer. Erst glaube ich, er macht sich über mich lustig, aber er scheint die Frage ernst zu meinen. Ich weiß nicht, sage ich. Er mustert mich mit einem Kinderblick, einer Mischung aus Neugier und Scheu. Ich entschuldige mich und sage, ich sei schon im Bett gewesen. Ich habe keine Ahnung, warum ich lüge. Er hat mich vom ersten Moment an dazu gebracht, Dinge zu sagen, die ich nicht sagen will. Wir schauen uns schweigend an, und ich denke, ich sollte jetzt gehen. Da fragt er, ob ich einen Kaffee mit ihm trinke. Ich sage sofort ja, obwohl ich um diese Zeit nie Kaffee trinke und obwohl ich im Morgenrock bin. Ich folge ihm in die Wohnung. Als er die Tür hinter mir abschließt, denke ich noch einmal kurz, er könnte ein Einbrecher sein und mich in die Wohnung locken, um mich zum Schweigen zu bringen. Er ist schmal und ziemlich bleich, aber er ist einen Kopf größer als ich, und seine Arme sind muskulös. Ich stelle mir vor, wie er sich auf mich wirft, mich packt und auf den Boden schleudert, wie er auf meinem Bauch sitzt und meine Arme festhält, dass es wehtut, und mir etwas in den Mund stopft, damit ich nicht schreien kann. Aber er geht in die Küche und füllt einen Topf mit Wasser und stellt den Herd an. Dann öffnet er scheinbar wahllos die Schränke. Kanne, Kaffeepulver, Filter, murmelt er vor sich hin, als habe er es auswendig gelernt, Zucker, Süßstoff, Milch. Als er den Kaffee nicht findet, biete ich ihm an, unten welchen zu holen. Nein, sagt er so bestimmt, dass ich zusammenzucke. Er denkt einen Moment lang nach.
– Wir können ja Tee trinken.
Die Wohnung sieht ganz so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe, wie die Wohnung einer alten Frau. Auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer liegt eine Fernsehzeitschrift, auf dem Sofa Strickzeug, überall bestickte Kissen und gehäkelte Decken und Krimskrams, Bastelarbeiten und kleine Wechselrahmen mit Fotos von hässlichen Menschen in altmodischen Kleidern. Wir setzen uns, ich auf das Sofa, er auf einen riesigen Sessel. Auf der Armlehne liegt ein kleines Kästchen mit ein paar Knöpfen. Er drückt auf einen der Knöpfe, und aus dem Sockel des Sessels hebt sich langsam eine Fußstütze. Mit einem Schalter lässt er die Lehne nach hinten kippen und wieder nach vorn. Eine Weile lang drückt er auf den Knöpfen herum wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat und es voller Stolz herumzeigt. Wir haben uns gar nicht vorgestellt, sagt er plötzlich und springt auf und reicht mir die Hand. Daphne, sage ich, und er lacht wieder und sagt, ach so, Patrick. Seltsam, dass wir uns nie begegnet sind. Die ganze Zeit hält er meine Hand fest. Er fragt, ob ich allein wohne. Er siezt mich, was mich irritiert, obwohl ich ziemlich viel älter bin als er. Er fragt mich nach meinem Leben, meiner Arbeit, meiner Familie. Er stellt so viele Fragen, dass ich gar nicht dazu komme, ihn etwas zu fragen. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand sich für mich interessiert. Vermutlich rede ich viel zu viel. Ich erzähle ihm von meiner Kindheit, von meinem kleinen Bruder, der vor vier Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist, von meinen Eltern und meiner Arbeit als Kindergärtnerin. Das ist ja beileibe nicht spannend, aber er hört aufmerksam zu. Seine Augen leuchten wie die der Kinder, wenn ich ihnen eine Geschichte erzähle.
Der Tee ist alle, und Patrick steht auf und öffnet das Buffet. Er findet eine verstaubte Flasche Grand Marnier, die noch fast voll ist. Er stellt zwei kleine Gläser auf den Tisch, füllt sie und hebt eines in die Höhe.
– Auf den unverhofften Besuch.
Ich trinke mein Glas leer, obwohl ich Likör eigentlich nicht mag. Auch er macht beim Trinken ein Gesicht, als sei er starke Getränke nicht gewohnt. Ich hatte Besuch, sage ich, zwei Arbeitskolleginnen und ihre Männer. Wir treffen uns immer am ersten Freitag des Monats. Ich weiß nicht, weshalb ich ihm das erzähle. Es gibt nichts weiter dazu zu sagen. Er sagt, der Januar sei sein liebster Monat. Er hat Geburtstag im Januar, in zwei Wochen. Und er mag die Kälte.
– Was ist Ihr Lieblingsmonat?
– Darüber habe ich nie nachgedacht. November hasse ich.
Er hat einen Lieblingsmonat, eine Lieblingsjahreszeit, eine Lieblingsblume, ein Lieblingstier, ein Lieblingsbuch und so weiter. Sonst erzählt er nichts von sich. Ich glaube, er hat einfach nichts zu erzählen. Wie meine Kinder. Wenn ich sie frage, was habt ihr in den Ferien gemacht, sagen sie, gespielt. Er ist wirklich...




