Buch, Deutsch, Polish, 128 Seiten, ENGLBR, Format (B × H): 156 mm x 215 mm, Gewicht: 200 g
Buch, Deutsch, Polish, 128 Seiten, ENGLBR, Format (B × H): 156 mm x 215 mm, Gewicht: 200 g
ISBN: 978-3-9524642-4-3
Verlag: Edition Haus am Gern
Eine Serie von Selbstportraits vor der Kulisse Warschaus.
Zielgruppe
Kunst- und Fotografie Interessierte
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Lieber Paul,
W. hat aufgehört zu saufen, von einem Augenblick zum nächsten. Eine Flasche Wodka täglich, meistens fünf Bier und wenn erhältlich auch Wein, das war sein Mass zum Schluss. Später ist W. aufs Land gezogen, in ein feuchtes Gutshaus zwei Autostunden östlich der Stadt. Als ich ihn das letzte Mal sah, schon einige Jahre nach der Wende, handelte er mit alten Lautsprechern und Plattenspielern, die er im Westen ein- und im Osten weiterverkaufte. Die Ware lagerte in jenem Zimmer, das von der aufsteigenden Nässe am wenigsten betroffen war. Wir tranken Tee aus Tassen und verglichen den Klang alter Schallplatten aus den verschiedenen Boxen, während draussen die Weiden im Karpfenteich versanken.
Ich hatte W. vor rund zwanzig Jahren aus den Augen verloren, als mein Visum ablief und ich die Stadt verlassen musste. Nicht, dass wir je viel gemeinsam unternommen oder gesprochen hätten, ich war fremd und wollte nicht die falschen Fragen stellen. Einmal nahm er mich mit in die Beskiden, es war Februar und sehr kalt, die im verregneten Herbst aufgeweichten Wege beinhart gefroren. Nach vier Stunden Marsch über die vernarbten Pfade humpelte ich ihm nur noch unter Schmerzen hinterher.
Seine Freunde, ein junges Paar, die er in dieser Einsamkeit hatte besuchen wollen, waren erst kürzlich aus der Stadt hierher gezogen. Am nächsten Morgen gaben mir W.’s Freunde ein Gemisch aus Zucker und zu Pulver zerriebenen Pilzen gegen die Schmerzen. Auf dem Weg zurück passierten wir einen noch jungen Fichtenbestand mit dürren kahlen Stämmen, auf welche jemand paarweise weisse Punkte angebracht hatte, welche uns beim Vorübergehen wie Augenpaare folgten.
W. erklärte mir später, dieses Trugbild müsse wohl unter dem Einfluss der Pilze entstanden sein. Er selbst, sagte W., habe damals zum Abschied von der jungen Frau auf der Schwelle des Holzhauses ein Foto gemacht, oder er glaube wenigstens, diese Foto macht zu haben, weil das Bild, das er, W., damals vor sich gesehen habe, ihn so sehr an eine Fotografie aus der Zeit der grossen Depression in den USA erinnert habe. «Ich habe kürzlich mein Archiv nach diesem Bild durchforstet», sagte W., «aber ohne Erfolg. Es gibt wohl Fotos, die ich zwar gesehen, aber nicht gemacht habe. Diese verpassten Fotos kann ich jederzeit aus meiner Erinnerung abrufen. All jene Fotos hingegen, die ich wirklich gemacht habe, sind längst aus meinem Kopf verschwunden.» Weder der vermeintlich an jenem Wintermorgen in den Beskiden gemachten Fotografie noch dem imaginierten Original sei er je wieder begegnet.
Ich lege Dir, lieber Paul, diesen kleinen Fotoband bei, denn die Stadt, die darin abgebildet ist, gehört in die Kategorie der verpassten Fotos: Die Erinnerungen wiegen hier tatsächlich schwerer als die gemachten (fast hätte ich geschrieben: die «geschossenen») Bilder.
Dein Trmasan




