Sterling Inseln im Netz
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13494-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 0 Seiten
ISBN: 978-3-641-13494-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Man schreibt das Jahr 2020: Die Nationalstaaten haben ihren politischen Einfluss weitgehend verloren, Multis beherrschen mithilfe einer perfekt vernetzten Informationstechnik die Welt. Laura und David Webster arbeiten als PR-Berater für eine dieser Firmen, Rizome. Grenada, Singapur und Luxembourg sind Datenoasen – hier wird mit jeder Sorte von Informationen gehandelt. Der Konkurrenzkampf zwischen ihnen ist groß und hat die Ausmaße eines Kleinkriegs angenommen. Rizome schickt Laura und David nach Grenada, um ein Abkommen auszuhandeln. Als Singapur Grenada angreift, kann David entkommen, doch Laura wird gefangen genommen. In den folgenden drei Jahren wird sie immer tiefer in die Machenschaften von Firmen, Staaten und Terrororganisationen verstrickt, die sie unmöglich durchschauen kann …
Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman „Involution Ocean“, dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter „Schismatrix“ (1989) und „Schwere Wetter“ (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.
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1. Kapitel
Die See lag in siedender Stille, eine schieferig-grüne Suppe, gewürzt mit warmem Schlamm. Garnelenkutter zogen am Horizont dahin.
Pfähle erhoben sich in Gruppen wie geschwärzte Finger meterhoch aus der sanft auslaufenden Brandung. Früher hatten auf diesen teerfleckigen Stelzen die Strandhäuser von Galveston gestanden. Jetzt siedelten dort Entenmuscheln, kreisten Möwen und kreischten. Er war ein großer Erzeuger von Wirbelstürmen, dieser ruhige Golf von Mexiko.
Laura las mit einem schnellen Blick zu ihren Füßen Zeit und Entfernung ab. Grüne Anzeigen blinkten auf den Spitzen ihrer Schuhe, veränderten sich mit jedem Schritt und zählten die zurückgelegte Entfernung. Laura trabte schneller. Licht und Schatten des frühen Morgens huschten über die Gestalt der Läuferin hin.
Sie brachte die letzten Pfeilerbündel hinter sich und machte weit voraus am Strand ihr Heim aus. Ihre Müdigkeit verflog in einem Ausbruch neuerlicher Energie.
Sie grinste. Die Mühe hatte sich gelohnt. Nun, da sie eingelaufen war, hatte sie das Gefühl, noch stundenlang laufen zu können, eine Verheißung unzerstörbarer Zuversicht, die aus dem tiefsten Innern kam. Sie lief mit tierhafter Leichtigkeit, wie eine Antilope.
Der Strand sprang hoch und schlug gegen sie.
Laura lag einen Augenblick benommen. Dann hob sie den Kopf, hielt den Atem an und ächzte. Ihre Wange war mit Sand verklebt, beide Ellbogen vom Aufprall betäubt. Ihre Arme zitterten, als sie sich aufstützte und auf die Knie kam. Sie blickte hinter sich.
Ihr Fuß hatte sich in etwas verfangen. Es war ein Stück schwarzes Elektrokabel. Treibgut vom letzten Wirbelsturm, im Sand begraben. Das Kabel hatte sich um ihren linken Knöchel geschlungen und sie wie ein Lasso zu Boden geworfen.
Sie drehte sich um und saß schnaufend im Sand, stieß das gelockerte Kabel von ihrem Schuh. Die Aufschürfung über der Socke begann zu bluten und meldete sich mit brennendem Schmerz.
Laura stand auf, wischte Sand von der Wange und den Unterarmen und schüttelte die Wackligkeit ab. Der Sand hatte das Plexiglas ihres Uhrtelefons zerkratzt. Das Armband war mit Schmutz verklebt.
»Wunderbar«, murmelte Laura, und eine verspätete Aufwallung von Zorn ließ ihre Kräfte zurückkehren. Sie bückte sich und zog kräftig an dem Kabel. Anderthalb Meter nassen Sandes hoben sich mit einem scharfen Ruck.
Sie hielt Umschau nach einem Stock oder einem Stück Treibholz, das sich zum Graben eignete. Der Strand war wie gewöhnlich auffallend sauber. Aber Laura war nicht gewillt, dieses schmutzige Kabel zurückzulassen, dass es andere Strandläufer zu Fall bringen konnte. Das sollte nicht sein – nicht an ihrem Strand. Sie kniete nieder und grub mit den Händen.
Sie folgte dem zerfaserten Kabel zwei Meter weit und dreißig Zentimeter tief zur verchromten Kante eines Haushaltgerätes. Die mit Holzmaserung bedruckte Kunststoffoberfläche zerbröselte unter Lauras Fingern wie altes Linoleum. Sie bearbeitete das Ding mit mehreren Fußtritten, um es zu lockern, dann zog sie es schnaubend vor Anstrengung aus seiner nassen Höhlung im Sand. Nach anfänglichem Widerstand kam es plötzlich heraus, wie ein fauler Zahn.
Es war ein Videorecorder. Zwanzig Jahre Sand und Salzwasser hatten ihn zu einer festen, korrodierten Masse werden lassen. Ein dünner Schleim aus wässerigem Sand tropfte aus dem leeren Kassettenschlitz.
Es war ein altmodisches Gerät, schwer und ungefüge. Laura zog es hinkend am Kabel hinter sich drein und hielt Ausschau nach der örtlichen Abfalltonne.
Sie trieb sich bei zwei Anglern herum, die mit hüfthohen Gummistiefeln im Wasser standen. Laura legte beide Hände an den Mund und rief: »Abfall!«
Die Tonne drehte auf breiten Gummireifen und rollte in ihre Richtung. Sie schnüffelte den Strand entlang und suchte sich den Weg mit Infraschall. So behielt sie Laura im Visier und hielt knarrend neben ihr.
Laura hob den toten Recorder und warf ihn in die offene Tonne. Es gab ein lautes, dröhnendes Geräusch. »Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Strände sauber halten«, sagte die Abfalltonne. »Galveston weiß Bürgertugenden zu schätzen. Möchten Sie an der Verlosung eines wertvollen Geldpreises teilnehmen?«
»Spart es für die Touristen«, sagte Laura. Sie joggte weiter, bemüht, den verletzten Knöchel zu schonen.
Ein Stück jenseits der Hochwasserlinie ragte das Ferienheim auf, gestützt von zwanzig sandfarbenen Strebepfeilern. Es war ein glatter Halbzylinder aus Sandbeton und hatte mehr oder weniger Farbe und Form eines angebrannten Brotlaibes. In der Mitte erhob sich ein runder, zweistöckiger Turm aus dem ebenerdigen Hauptbau. Die tragenden Strebepfeiler waren durch massive Betonbogen miteinander verbunden.
Eine breite, bonbonrosa und weiß gestreifte Markise beschattete die Wände und eine schmale, umlaufende Veranda aus sonnengebleichtem Holz. Hinter dem Verandageländer glänzte die Morgensonne auf den Glastüren eines halben Dutzends Gästezimmer, die nach Osten zur See lagen.
Drei Kinder von Feriengästen waren bereits draußen am Strand. Ihre Eltern waren in einer kanadischen Tochtergesellschaft von Rizome beschäftigt und machten Urlaub auf Firmenkosten. Die Kinder trugen dunkelblaue Matrosenanzüge und flache Strohhüte mit wehenden Bändern, im Stil des neunzehnten Jahrhunderts. Die Kleider waren Souvenirs aus Galvestons historischem Stadtkern.
Der größte Junge, ein Zehnjähriger, rannte auf Laura zu und hielt einen langen Holzstock über den Kopf. Hinter ihm sprang ein moderner Windskulptur-Flugdrachen aus den Armen der kleineren Kinder in die Höhe und entfaltete seine gestaffelten, in blauen und grünen Pastelltönen gehaltenen Flügel im Wind. Der Zehnjährige verlangsamte seinen Lauf, wandte sich um und hatte Mühe, der Zugwirkung des Drachens standzuhalten. Der lange Drachen bewegte sich im Wind hin und her und machte unheimlich schlängelnde Bewegungen. Die Kinder kreischten vor Vergnügen.
Laura blickte zum Dach des Turmes hinauf. Am Fahnenmast wurden die Flaggen von Texas und Rizome Industries aufgezogen. Der alte Mr. Rodriguez winkte ihr kurz zu, verschwand dann hinter der Satellitenantenne. Mit der Flaggenhissung begann für den alten Mann der Tag.
Laura hinkte die Holztreppe zur Veranda hinauf und stieß sich durch die schweren Glastüren der Eingangshalle. Im Innern hielten die massiven Wände des Ferienheimes noch die Nachtkühle fest. Und den erfreulichen Geruch texanisch-mexikanischer Küche: Pfeffer, Maismehl und Käse.
Mrs. Rodriguez war noch nicht am Empfangsschalter; sie war eine Spätaufsteherin, nicht so flink wie ihr Mann. Laura ging durch den leeren Speiseraum und die Treppe hinauf zum Turm.
Bei ihrer Annäherung öffnete sich die Tür, und sie kam durch das Obergeschoss in einen runden Konferenzraum mit moderner Büroeinrichtung und gepolsterten Drehsesseln. Hinter ihr schloss sich die Falttür selbsttätig.
David, ihr Mann, lag ausgestreckt auf einem Sofa aus Korbgeflecht und hatte das Baby auf der Brust. Beide schliefen. Eine von Davids Händen lag mit gespreizten Fingern auf dem nachthemdbekleideten Rücken der kleinen Loretta.
Das Morgenlicht strömte durch die dicken runden Fenster des Turmes und schnitt Bahnen durch die Luft. Es verlieh den Gesichtern der Schlafenden eine seltsame Renaissancetönung. Davids Kopf lag auf einem Kissen, und sein ausdrucksvolles Profil erinnerte an eine Münze der Medici. Das entspannte und friedliche Gesicht des Säuglings, dessen Haut wie Damast war, wirkte zauberhaft frisch und neu.
David hatte eine Wolldecke am Fuß des Sofas zusammengedrückt. Laura breitete sie sorgsam über seine Beine und das Baby. Sie zog einen Korbstuhl heran und setzte sich zu ihnen, streckte die Beine von sich. Angenehme Müdigkeit überkam sie. Sie überließ sich ihr eine Weile, dann stieß sie Davids Schulter an. »Morgen.«
Er regte sich, richtete sich auf und nahm Loretta in die Arme; sie schlief in kindlicher Unbekümmertheit weiter. »Jetzt schläft sie«, sagte er. »Aber nicht um drei Uhr früh. Zur Mitternacht der menschlichen Seele.«
»Nächstes Mal stehe ich auf«, sagte Laura. »Bestimmt.«
»Wir sollten sie zu deiner Mutter ins Zimmer tun.« David strich sich langes schwarzes Haar aus den Augen und gähnte in die Knöchel. »Mir träumte, ich sah meine Optima Persona.«
»Ach?«, sagte Laura überrascht. »Wie war es?«
»Ich weiß nicht. Ungefähr, was ich nach dem Zeug, das ich darüber gelesen hatte, erwartete. Erhebend und dunstig und kosmisch. Ich stand am Strand. Nackt, glaube ich. Die Sonne ging auf. Es war hypnotisch. Ich spürte dieses ungeheuere Gefühl totaler Begeisterung. Als hätte ich ein reines Element der Seele entdeckt.«
Laura runzelte die Stirn. »Du glaubst doch nicht an diesen Scheiß?«
»Nein. Deine O.P. zu sehen – das ist eine Modeerscheinung. Wie früher die Leute sich einbildeten, UFOs zu sehen, weißt du? Irgendein Exzentriker in Oregon sagt, er habe eine Begegnung mit seinem persönlichen Archetyp gehabt. Bald hat jeder Knallkopf Visionen. Massenhysterie, kollektive Bewusstlosigkeit. Dummes Zeug. Aber wenigstens modern. Es ist das neue Jahrtausend.« Er schien auf eine unklare Weise erfreut.
»Es ist mystischer Unsinn«, sagte Laura. »Wenn es wirklich deine Optima Persona gewesen wäre, hättest du etwas bauen sollen, nicht? Und nicht Reklame für ein FKK-Nirwana machen.«
David machte ein einfältiges Gesicht. »Es war bloß ein Traum. Erinnerst du dich dieser Dokumentation am letzten Freitag? Der Mann, der seine O.P. die Straße entlanggehen sah, in seinen Kleidern, mit seiner Kreditkarte? Um es dahin zu bringen, habe ich noch viel vor mir.« Er bemerkte ihren Knöchel und...




