Strayed Wildblumen im Schnee
Erscheinungsjahr 2016
ISBN: 978-3-641-18503-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-18503-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cheryl Strayed, geboren 1968, veröffentlichte nach ihrem Studium der Literatur zahlreiche Beiträge in der New York Times, Washington Post, Vogue und anderen Medien. Ihr biografisches Buch »Wild – Der große Trip« avancierte zu einem beispiellosen Erfolg in den USA und stand auch in Deutschland auf Rang 1 der Bestsellerliste. Von und mit Reese Witherspoon wurde es auch erfolgreich verfilmt. Cheryl Strayed lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Brian Lindstrom, und ihren beiden Kindern in Portland, Oregon.
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1
Sie hatte Schmerzen. Als wäre ihr Rückgrat ein Reißverschluss und jemand wäre hinter sie getreten, hätte ihn aufgezogen, hineingegriffen und ihre Organe zusammengedrückt, als wären sie Butter oder Teig oder Weintrauben, die ausgepresst werden sollten. Bei anderen Gelegenheiten war es, als ob etwas Scharfkantiges wie Diamanten oder Glasscherben ihre Knochen ritzte. Teresa beschrieb, was sie empfand – das mit dem Reißverschluss, den Weintrauben, den Diamanten und Glasscherben –, dem Arzt, der auf einem kleinen Rollhocker saß und in ein Notizbuch schrieb. Er schrieb noch, als sie bereits verstummt war, und lauschte weiter mit schiefem Kopf wie ein Hund, der in der Ferne ein Geräusch gehört hatte. Es war später Nachmittag, das Ende eines langen Untersuchungstages, und er war der letzte Arzt, der richtige Arzt, derjenige, der ihr endlich sagen würde, was ihr fehlte.
Teresa hielt ihre Ohrringe – zwischen zwei Glasplatten gepresste und getrocknete Veilchen – in einer Hand und legte sie an, noch beim Anziehen, nachdem sie stundenlang in einem Krankenhauskittel von Zimmer zu Zimmer gewandert war. Sie untersuchte ihre Bluse auf Fussel, Katzenhaare und verirrte Fadenreste und zupfte pedantisch ab, was sie fand. Sie blickte zu Bruce, der aus dem Fenster schaute und ein Schiff im Hafen beobachtete, das ruhig und elegant über den See glitt, als wäre nicht Januar, als wäre hier nicht Minnesota, als gäbe es kein Eis.
Im Moment hatte sie keine Schmerzen und sagte dies dem Arzt, während er schrieb. »Es gibt lange Phasen, in denen ich mich richtig gut fühle«, sagte sie und lachte, wie sie bei Fremden immer lachte. Es würde sie nicht wundern, fuhr sie fort, wenn sie langsam den Verstand verlöre oder schon in die Wechseljahre käme. Oder wenn sie eine atypische Lungenentzündung hätte. Atypische Lungenentzündung war ihre neueste Theorie und die, die ihr am besten gefiel. Denn sie konnte den Husten und die Schmerzen erklären. Und warum sich ihr Rückgrat wie ein Reißverschluss anfühlte.
»Ich würde gern noch eine Untersuchung vornehmen«, sagte der Arzt und schaute zu ihr auf, als wäre er aus einer Trance erwacht. Er war jung. Jünger. Ob er dreißig war?, fragte sie sich. Er bat sie, sich wieder zu entkleiden, gab ihr einen frischen Kittel und verließ den Raum.
Sie zog sich langsam aus, zögernd zunächst, dann rasch, sich duckend, als hätte Bruce sie noch nie nackt gesehen. Die Sonne schien ins Zimmer und färbte alles zartlila.
»Wie schön das Licht ist«, sagte sie, ging zum Untersuchungstisch und setzte sich darauf. Der Kittel klaffte über ihrem Bauch, sodass rosige Haut hervorschaute, und sie drückte den Spalt mit den Händen zu. Sie war durstig, durfte aber keinen Tropfen trinken. Und hungrig, denn sie hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Das ist gut«, sagte Bruce. »Appetit bedeutet, dass du gesund bist.« Sein Gesicht sah rot und trocken aus, seine Haut rissig, als hätte er gerade in der Auffahrt Schnee geschippt, obwohl er sie den ganzen Tag von einer Abteilung des Krankenhauses zur nächsten begleitet und alles gelesen hatte, was er in den Wartezimmern fand. Zeitschriften wie Reader’s Digest, Newsweek und Self, die er nur widerwillig in die Hand nahm und trotzdem von vorn bis hinten gierig verschlang. Den ganzen Tag über hatte er ihr in den kurzen Spannen, in denen auch sie warten musste, von den Artikeln erzählt. Von einer alten Frau, die von einem Jungen, der ihr eine Hundehütte bauen sollte, zu Tode geprügelt worden war. Von einem Filmstar, der scheidungsbedingt seine Jacht verkaufen musste. Von einem Mann aus Kentucky, der einen Marathon gelaufen war, obwohl er nur einen Fuß hatte und anstelle des anderen eine komplizierte, robuste Metallfeder, die in einen Schuh montiert war.
Der Arzt klopfte an und stürmte herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wusch sich die Hände, zückte sein kleines schwarzes Instrument, das mit der kleinen Lampe, und leuchtete ihr in Augen, Ohren und Mund. Sie roch das Zimtkaugummi, das er kaute, und die Seife, die er benutzt hatte, bevor er sie anfasste. Ohne zu blinzeln, starrte sie in den Lichtstrahl und folgte, als er sie dazu aufforderte, mit den Augen mühelos dem Stift, den er vor ihr hin und her bewegte.
»Ich bin keine kranke Frau«, erklärte sie.
Niemand stimmte zu. Niemand widersprach. Aber Bruce trat hinter sie und rieb ihr den Rücken.
Seine Hände erzeugten ein kratzendes Geräusch auf dem Stoff des Kittels, so rau und rissig waren sie, wie Baumrinde. Abends schnitt er sich immer mit einem Taschenmesser die Schwielen ab.
Der Arzt sprach das Wort Krebs nicht aus – zumindest hörte sie es ihn nicht sagen. Er sprach von Orangen, Erbsen und Radieschen, von Eierstöcken, Lunge und Leber. Er sagte, dass entlang ihrer Wirbelsäule Tumore wucherten.
»Was ist mit meinem Gehirn?«, fragte sie, die Tränen zurückhaltend.
Er antwortete, er habe auf eine Untersuchung des Gehirns verzichtet, da es in Anbetracht ihrer Eierstöcke, Lunge und Leber irrelevant sei. »Ihre Brüste sind in Ordnung«, sagte er, an das Waschbecken gelehnt.
Sie errötete, als sie das hörte. Ihre Brüste sind in Ordnung.
»Danke«, sagte sie und beugte sich im Stuhl etwas vor. Einmal war sie aus Solidarität mit Frauen, deren Brüste nicht in Ordnung waren, sechs Meilen durch die Straßen von Duluth marschiert und hatte dafür ein rosa T-Shirt und einen Teller Spaghetti bekommen.
»Was bedeutet das genau?« Ihre Stimme klang vernünftig jenseits der Vernunft. Sie spürte jeden Muskel in ihrem Gesicht. Manche waren wie gelähmt, andere zuckten. Sie drückte sich die kalten Hände gegen die Wangen.
»Ich möchte Ihnen keine Angst machen«, sagte der Arzt und erklärte ihr dann sehr ruhig, dass sie nicht erwarten könne, in einem Jahr noch zu leben. Er sprach lange und in einfachen Worten, aber sie verstand nicht, was er sagte. Als sie Bruce kennengelernt hatte, hatte sie ihn einmal gebeten, ihr zu erklären, wie ein Automotor funktionierte. Sie tat es, weil sie ihn liebte, und wollte ihre Liebe dadurch beweisen, dass sie Interesse an seinem Wissen zeigte. Er zeichnete die Bauteile eines Motors auf eine Serviette und erklärte ihr, was wie zusammengehörte und welche Teile andere antrieben, wobei er mehrmals abschweifte und schilderte, was voraussichtlich passierte, wenn bestimmte Dinge nicht funktionierten, und sie lächelte und setzte ein intelligentes Gesicht auf, als hätte sie verstanden, doch am Ende hatte sie überhaupt nichts begriffen. So wie jetzt.
Sie sah Bruce nicht an, sie brachte es nicht über sich. Sie vernahm ein kurzes Aufstöhnen aus seiner Richtung, dann ein langes grässliches Husten.
»Danke«, sagte sie, als der Arzt ausgeredet hatte. »Ich meine dafür, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun.« Und dann fügte sie kraftlos hinzu: »Nur eins noch – Sie sind sich sicher? Denn … eigentlich … fühle ich mich gar nicht so krank.« Sie glaubte, sie würde es spüren, wenn Orangen in ihr wuchsen. Sie hatte beide Male sofort gewusst, dass sie schwanger war.
»Das kommt noch. Ich würde sehr bald damit rechnen«, erwiderte der Arzt. Er hatte ein Grübchenkinn, ein Milchgesicht. »Es kommt selten vor, dass man ihn so spät entdeckt. Tatsächlich spricht der Umstand, dass wir ihn so spät entdeckt haben, für Ihren guten Allgemeinzustand. Ansonsten sind Sie nämlich in blendender gesundheitlicher Verfassung.«
Er stemmte sich hoch, setzte sich auf den Tisch und ließ die Beine baumeln.
»Danke«, sagte sie noch einmal und griff nach ihrem Mantel.
Langsam und wortlos gingen sie zum Aufzug, drückten den durchscheinenden Knopf und warteten, bis er kam. Taumelnd stiegen sie ein und atmeten erleichtert auf. Endlich allein.
»Teresa«, sagte Bruce und sah ihr in die Augen. Er roch nach den Mandarinen und Trauben, die sie für ihn in ihrer famosen großen Strohtasche mitgebracht und von denen er den ganzen Tag genascht hatte.
Sie strich behutsam über sein Gesicht, und dann packte er sie und zog sie an sich. Er befühlte ihre Wirbelsäule, einen Wirbel, dann einen anderen, als wollte er sie zählen und Bestandsaufnahme machen. Sie schob eine Hand in eine Gürtelschlaufe hinten an seiner Jeans, und mit der anderen griff sie nach der Muschel, die sie an einem Lederband um den Hals trug. Ein Geschenk ihrer Kinder. Die Schale glänzte bei jeder Bewegung in wechselnden Farben, schillerte wie ein tropischer Fisch im Aquarium und war so dünn, dass sie sie mit Leichtigkeit zerbrechen könnte. Sie spielte mit dem Gedanken, es zu tun. Als Teenager hatte sie einmal in einem Anfall stiller Wut eine ganze Flasche Kokoslotion über ihren Schenkeln ausgedrückt, weil ihr etwas verwehrt worden war: der Besuch einer Party, eine Schallplatte oder ein Paar Stiefel. Daran dachte sie jetzt. Sie dachte: Ausgerechnet daran denke ich jetzt. Sie versuchte, an nichts zu denken, aber dann dachte sie an Krebs. Krebs, sagte sie zu sich. Krebs, Krebs, Krebs. Das Wort fauchte in ihr wie ein anfahrender Zug. Und dann schloss sie die Augen, und es verwandelte sich in etwas anderes, das sich schlingernd entfernte, eine Quecksilberperle oder ein Mädchen auf Rollerskates.
Sie gingen in ein China-Restaurant. Essen konnten sie noch. Sie bestellten grüne Bohnen in Knoblauchsauce und kalte Sesamnudeln, dann lasen sie sich gegenseitig die Horoskope auf ihren Tischsets vor. Sie waren...