E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Swift England und andere Stories
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-423-42946-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-423-42946-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Graham Swift zählt seit seinem Roman >Wasserland< zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. Für >Letzte Runde< erhielt er 1996 den Man-Booker-Preis. Seine Werke erscheinen in über dreißig Sprachen.
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Aufsteigen in der Welt
Charlie Yates ist ein kleiner kompakter Mann, dessen Erscheinung – wie bei solchen Männern oft der Fall – den Eindruck erweckt, dass er sich in seinen mäßigen Proportionen wohlfühlt. Weniger wohl fühlte er sich früher mit seinem Namen. Eigentlich hieß er Charles Yates, das war der Name, den er auf Formularen eintragen musste, ein Name für reiche Pinkel, ein Witz. Was hatten seine Eltern sich dabei gedacht? Und dann Charlie, auch das war zum Lachen, ein Name für einen Witzbold. Ein echter Charlie. Aber davon konnte er sich nicht frei machen. Charlie Yates. Niemanden sonst schien es zu stören.
Jetzt ist er siebenundfünfzig. Wie es so weit gekommen ist, weiß er nicht genau. Er ist 1951 in Wapping zur Welt gekommen. Das Wapping, an das er sich von damals erinnert, war praktisch noch das Wapping, das Hitler mit Bomben in Trümmer gelegt hatte. Und wenn man es heute sieht!
Er kann es jetzt sehen, weil er und Brenda vor über zwanzig Jahren nach Blackheath gezogen sind. Keine große Entfernung entlang der Luftlinie, aber in anderer Hinsicht ein anderes Land. Sie waren dorthin gezogen, weil sie es konnten. Zur selben Zeit waren auch Don Abbot und Marion dorthin gezogen. Don und Charlie waren alte Freunde und Geschäftspartner. Und Bren und Marion verstanden sich ebenfalls gut.
Jetzt, mit siebenundfünfzig, achtet Charlie darauf, dass er sich fit hält. An einem hellen klaren Sonntagmorgen, möglichst früh, geht er gern joggen. Nicht gerade eine kurze Strecke: quer über die Blackheath bis zum Greenwich Park, dann zwischen den Bäumen hindurch zum höchsten Punkt der Erhebung, von dem aus man den besten Blick auf die Stadt hat. Dort setzt er sich auf eine der Bänke und nimmt die Aussicht in sich auf. Meine Stadt, mein London. Auch jetzt sitzt er da.
Seinem Freund Don würde es nicht einfallen, an einem frühen oder überhaupt am Sonntagmorgen joggen zu gehen, selbst an einem strahlend klaren wie diesem nicht, deshalb sind Charlie und Don nie zusammen joggen gewesen. Charlie geht allein. Aber an jedem zweiten Sonntag, auch wenn Charlie vorher joggen war, treffen sich die beiden und spielen eine Runde Golf. In Shooters Hill oder in Eltham, oder manchmal sogar, wenn sie eingeladen werden, in Blackheath selbst – »Royal Blackheath«. Da wäre Charles eher angemessen.
In Wapping gab es nicht viele Golfplätze.
Beim Joggen trägt Charlie einen hellgrauen Trainingsanzug mit einem blauen Streifen, dazu ordentliche Trainer, nichts, was abgetragen oder billig wäre. Die dünne Goldkette, die er, so scheint es ihm, schon sein ganzes Leben getragen hat, hüpft an seinem Hals auf und ab. Er hat kurz geschnittenes Haar, inzwischen eher weiß als grau, aber es ist weich und fein, und manchmal streichelt seine Frau darüber, als streichelte sie über den Kopf eines Hundes.
Er bleibt eine Weile sitzen, ist aber kaum außer Atem. Mit siebenundfünfzig war sein Vater, Frank Yates, schon ziemlich am Ende. Aber er war auch Werftarbeiter – vielmehr, war es gewesen –, so wie Dons Vater auch. Wenn man die Docks jetzt sieht! Francis Yates. Auch so ein Name für reiche Pinkel.
An einem schönen Vormittag in Wapping vor über fünfzig Jahren haben Charlie Yates und Don Abbot sich auf dem Schulhof der Lea Road Infants’ School kennengelernt, und aus einem unerfindlichen Grund wussten sie beide – ein großer, kräftiger Bengel und ein kleiner Knirps –, dass es eine Sache fürs Leben war. Auch die Lea Roads Infants’ School ist später in Trümmer gelegt worden, allerdings nicht von Bomben.
Für jemanden seiner Größe hat Charlie ziemlich breite Schultern. Wenn er die Ärmel seiner Trainingsjacke (oder die seines roten Kaschmirpullovers beim Golf) nach oben schiebt, sieht man die Tätowierungen an seinen Unterarmen, außerdem fällt auf, dass er für jemanden seiner Größe kräftige Handgelenke und Hände hat. Auch hat er, gemessen an den Ausmaßen seines Gesichts, eine ziemlich große, aber wohlgeformte Nase. Das und seine tiefliegenden Augen geben ihm, besonders wenn er grinst, ein etwas wölfisches Aussehen, womit er früher bei einer bestimmten Sorte Mädchen gut ankam.
Aber Charlie ist der Meinung – und das Joggen, manchmal eher ein leichtes, fließendes Laufen, bestätigt das nur –, dass die Füße am wichtigsten sind. Das Gleichgewicht und die Füße.
Früher einmal, drei oder vier Jahre lang, ist Charlie Boxer gewesen. Große Hände, aber im Grunde kam es auf die Füße an. Bantamgewicht. Er gewann ein paar Boxkämpfe und ist noch heute stolz darauf, dass ihm seine wohlgeformte Nase nie zertrümmert wurde. Einmal hat er auch auf einer Bohrinsel gearbeitet, wo er sich in seiner Blödheit hat tätowieren lassen. Aber jetzt sind Tätowierungen wieder Mode – er geht also mit dem Trend. Und dann ist er Dachdecker geworden. Das war das, was ihm lag. Auf keinen Fall würde er je auf einer Werft arbeiten. Auch besser so.
Dachdecker. Klettern konnte er wie ein Affe. Er hatte den Körperbau dafür. Dann schien es, dass die Dächer immer höher wurden und er mehr als nur Dachdecker war, ohne wirklich damit gerechnet zu haben und ohne zu wissen, wo die Grenze war, wie hoch er gehen konnte.
Er stieg auf in der Welt. Er entdeckte, dass er keine Höhenangst hatte.
Wäre er früher zur Welt gekommen, hätte er Turmarbeiter werden können, aber das war ein Handwerk, und auch ein Wort – wie Werftarbeiter –, das kaum noch im Umlauf war. Wo waren die Kirchtürme? Wo die hohen Schornsteine? Stattdessen waren da plötzlich die anderen Türme, die in die Höhe sprossen, als ginge es um die Wette, und Charlie arbeitete ganz oben, auf den freiliegenden Trägern, ohne jedes Schwindelgefühl, ohne jede Angst. Ein Kopf für Höhen, hieß es, aber Charlie behauptete, es seien die Füße. Man steht einfach da, wo man steht.
Er verdiente gut, Arbeit gab es genug. Manche nannten es Gefahrenzulage. Charlie mochte es nicht Gefahrenzulage nennen, weil das unterstellte, dass die Arbeit gefährlich war, aber er akzeptierte das Grundprinzip: ohne Risiko kein Gewinn. Macht man etwas Besonderes – wie Boxen –, dann kriegt man etwas mehr und kann davon etwas beiseitelegen, statt sich bis Freitag durchhangeln zu müssen. Werde auf keinen Fall Werftarbeiter.
Manche Menschen – eigentlich ziemlich viele der Menschen aus Charlies Bekanntenkreis – wetten gern und setzen ihre Hoffnungen auf Hunde oder Pferde. Charlie hat in seinem ganzen Leben nie gewettet. Stattdessen wurde er ein Vogelmensch und half beim Erbauen von Türmen.
Und da stehen sie und glitzern in der Sonne des frühen Septembertages, die Türme, an denen Charlie Yates mitgebaut hat. Da, hinter den verborgenen Windungen des Flusses, liegt Wapping. Und da ist Stepney, da Limehouse. Die Gegend, die Docklands heißt.
Eines Abends, als es zwischen ihm und Brenda gerade erst anfing, als es noch ungewiss war, hatte Brenda gesagt: »Charlie, du hast schöne Füße.« Das gab den Ausschlag. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Das ging ihm unmittelbar – nein, nicht in die Füße – es ging ihm ins Herz, nicht nur, weil niemand es je zuvor gesagt hatte, sondern auch, weil es die Wahrheit war. Er sagte: »Brenda, an dir ist alles schön.« Und damit war alles besiegelt.
Jetzt gehen Marion und Brenda zusammen auf Einkaufstour. Jetzt fahren sie zweimal im Jahr zu viert in die Ferien, in ferne Gegenden. Letztes Jahr waren es die Malediven. Charlie könnte nicht genau sagen, wo die Malediven sind, aber er ist da gewesen. Man steigt aus dem Flugzeug. Die anderen wollten diesen Winter wieder hin, aber Charlie hatte Bedenken. Irgendwo hatte er gehört, dass die Malediven als eine der ersten Regionen überflutet würden, wenn der Meeresspiegel stieg. Es war unwahrscheinlich, dass es während ihrer Ferien dort passierte. Aber er hatte Bedenken.
Komisch, was für Gefühle man haben konnte. Er hatte keine Angst vor Höhen, aber mit dem Meer war er nie gut klargekommen. Das hatte er begriffen, als er auf der Bohrinsel war. Einmal war genug. Dasselbe traf vielleicht auch auf die Malediven zu, obwohl es eine ganz andere Geschichte war. Aber wenn er ehrlich sein sollte, dann war es ihm genauso recht, mit Don auf ihrem gewohnten Golfplatz eine Runde zu spielen, wie auf den Malediven zu sitzen. Oder sonst wo. Es wäre ihm genauso recht hierzubleiben. Es ist überall das Gleiche, man ist immer in seinem eigenen Körper.
Zu Brenda hatte er gesagt: »Mach dir keine Sorgen, Brenda, bei diesen Füßen.« Als hätten seine Füße kleine Flügel. Aber jeden Abend war er wieder da, an Leib und Seele unversehrt, und schmiegte sich an sie. Ein dreißig Stockwerke hoher Turm auf der Isle of Dogs war – in dieser Hinsicht wie in jeder anderen – nicht dasselbe, wie auf einer Bohrinsel in der Nordsee zu hocken.
Er sagte: »Bist du nicht froh, Bren?«
»Froh, weshalb?«
»Froh, dass ich nicht auf einer Bohrinsel bin.«
Aber ihr gegenüber war es nicht fair, die Aussicht, dass er auf unabsehbare Zeit jeden Tag losging, um im Himmel herumzuklettern, das wusste er selbst. Er sagte, wenn er genug auf die hohe Kante gelegt hätte, würde er sich nach etwas anderem umsehen. Er hatte keine Ahnung, was das sein würde. Er würde zur Erde zurückkommen.
Irgendwann begriff er, das Risiko beherrschte nicht nur den Bau der Türme, es beherrschte auch das Innere der Türme. Es war Risiko, drinnen wie draußen. Sie wurden gebaut, die meisten wenigstens, für Leute, die mit ihren eigenen geheimnisvollen Gefahrenzulagen handelten. Gut, das war ihre Sache....