Taha | Beschreibung einer Krabbenwanderung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Taha Beschreibung einer Krabbenwanderung

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8321-8999-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8999-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sanaa ist zweiundzwanzig. Sie studiert, hat einen Freund und einen Liebhaber, und sie hat Träume. Alles könnte gut sein, wäre da nicht die Realität, die sie immer wieder kneift, während sie träumt – kneift wie die Krabbe damals im Irak, als sie im Fluss badete. Die Realität, das sind: Sanaas Mutter Asija, die unter Depressionen leidet. Ihr Vater Nasser, der sich von seiner Familie entfremdet hat. Ihre Schwester Helin, wütend, orientierungslos. Und ihre Tante Khalida, die Tag für Tag Tabak rauchend auf dem Sofa der Familie sitzt und über alles wacht. Sanaa rebelliert gegen die Enge ihres Umfelds, ringt um Luft zum Atmen, um Freiheit. Doch sie kann der Verantwortung für ihre Familie nicht entfliehen. Also kümmert sie sich und versucht ihrer aller Wunden zu heilen. Bis plötzlich alles, was sie sich an Freiheit erkämpft hat, auf dem Spiel steht.

Rauschhaft und kraftvoll, dann wieder unbeschwert und komisch erzählt Karosh Taha von einem Leben im Dazwischen: zwischen Freiheit und Verantwortung, Erinnerung und Zukunft, Mythos und Wirklichkeit. ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹ entwirft dabei Figuren, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen und denen man nichts mehr wünscht, als dass sie nach langer Reise endlich ankommen.

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Kemal, Mammut und ich gehen in den Keller, die Kassette suchen. Genervt von der Sucherei fange ich irgendwann an, die beiden zu beobachten, und wundere mich über ihren Eifer bei der Suche. Vielleicht ist das Kamel, wie Helin Kemal nennt, gar nicht so faul. Er braucht nur eine Aufgabe. Es ist Montagmorgen, und traurigerweise haben sie nichts Sinnvolleres zu tun, als nach der Hochzeitskassette von Nasser und Asija zu suchen. Mammut folgt allen Anweisungen Kemals. Mahmut sieht auch aus wie ein Mammut, die Haare platt gedrückt, das Gesicht in Trauer gelegt, als wäre er der Letzte seiner Art. Kemal hat mir viel von Mammut erzählt, ohne zu wissen, dass ich ihn schon kannte. Mammut ist in meinem Alter, aber er steckte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in der neunten Klasse fest, und als Kemal ihn überholte und letztes Jahr seinen Realschulabschluss machte, verließ auch Mammut die Schule, als würde eine Schnur ihn an Kemal binden. Mammut wirkt loyal. Zumindest folgt er Kemal gehorsam, obwohl er vier, fünf Jahre älter ist. Kennengelernt habe ich Mammut, als ich Marihuana für meine Tante besorgen wollte. Daniel, ein Typ aus meiner Klasse, war ein übler Kiffer. Doch die Menge Gras, die ich mir von Daniel in der neunten Klasse erschnorrte, konnte man in einem Fingerhut verstecken. Er sagte, das würde reichen, um entspannter zu werden. Tante Khalida aber bemerkte lediglich einen eigenartigen Geruch, woraufhin sie die Tabakmarke wechselte. Ich musste Tante Khalida zudröhnen, das war nicht Daniels Tante, die von einem Likörchen beschwipst war. Das war Tante Khalida, die verträgt ähnliche Mengen an Drogen wie ein Rhinozeros, sie hatte Erde gegessen wie andere Leute Schokolade. Ich musste ihr so viel geben, dass sie nicht einmal wusste, ob sie zehn Zehen hatte oder vielleicht nur acht, und dass ihr dies letztlich scheißegal war, weil andere Dinge viel wichtiger waren, wie zum Beispiel sich eine ganze Stunde lang mit Baqqe an ihrem Tabak berauschen. Daniel schickte mich zur Quelle, die aus drei gierigen Libanesen bestand. Einer von ihnen war Mammut, den ich als Kiffer kannte. Damals war er das Alphatier, weswegen ich nur noch mit ihm verhandelte und die zwei anderen ignorierte, während sie hyänenartig um uns herum strolchten und ab und zu wagten, einige Worte in die Runde zu werfen. Ein Gramm würde mich fünf Euro kosten. »Ich brauche eigentlich hundert Gramm.« Sie lachten mich aus. »Ich habe gerade mal zwanzig Gramm dabei, und wenn du alles willst, dann macht das hundert Euro, und weil du einen geilen Mund hast, kriegst du es für neunzig Euro.« Die anderen schauten Mammut skeptisch an. »Ich habe zwanzig Euro. Kann ich den Rest in Raten zahlen?« Sie lachten wieder. »Wie bei Poco, oder was?« Sie kriegten sich nicht mehr ein. Mammut beruhigte sich als Erster. »Was willst du mit dem Zeug?« Ich zuckte mit den Schultern. »Meine Sache.« »Außerdem kann ich es dir sowieso nicht verkaufen. Mädchen sollten nicht kiffen.« Ich überredete Mammut zu einem Privatgespräch. Ich war mir sicher, dass Mammut mit dem verpickelten Gesicht nicht so viele Mädchen hatte, wie er es gern wollte. Wir verhandelten und einigten uns nach einem zehnminütigen Gespräch darauf, dass er mir für das fehlende Geld einmal die Woche zwei Minuten und dreißig Sekunden lang die Brüste kneten dürfe – einen ganzen Monat. Wir verabredeten uns auf der Mädchentoilette, immer zur siebten Stunde, wenn alle in den Klassen waren. Manchmal wurde er gierig und wollte auch sehen, was er da anfasste. Ich erinnerte ihn an die Abmachung. »Deine Titten sind so geil. Ich würde sie auch gerne mal lecken. Oder meinen Schwanz zwischen sie stecken. Meinst du, ich darf das irgendwann?« Ich schaute auf mein Handy, um die Zeit zu stoppen. »He, ich rede mit dir, antworte mir. Ich will mal meinen Schwanz zwischen deine Brüste stecken und abspritzen.« Das ist der Grund, warum ich keine Pornos gucken kann, ohne an Mammut zu denken. Mammut und Kemal sagen, sie machen morgen weiter. Für heute würde es reichen. Mammut schwitzt im Gesicht, deswegen sage ich nichts, bleibe stumm, und er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie gehen hoch zu den Fahrradständern, setzen sich zu ein paar anderen Jungs in ihrem Alter. Bis heute Abend werden sie auf diesen Fahrradständern sitzen und quatschen und Cola trinken und Sonnenblumenkerne knacken. Ich will aus dem Viertel fliehen; ich brauche eine Auszeit von den Gesichtern und ihren Geschichten, deswegen steige ich in den nächsten Bus und will so schnell wie möglich zu Adnan. Während der Fahrt verjage ich die Gedanken an Mammut und seinen Schwanz zwischen meinen Brüsten und Sonnenblumenkernen zwischen seinen Zähnen. Ich liege mit Adnan im Bett und lasse mich von ihm umarmen. Er fragt mich, was los sei, weil ich mich an ihm festkralle. »Nichts«, sage ich und drücke ihn fester an mich. Er lacht. »Hey, du erdrückst mich ja.« Manchmal vergesse ich, dass Adnan nicht Omer ist. Omer ist da anders, er kann mich auf einem Arm tragen und hochheben, als wäre ich eine Ballerina aus einer Musikkiste. Aber ich will auf keinen Fall an Omer denken, während ich mit Adnan im Bett liege. Adnan erzählt mir von seiner Schwester, die übernächste Woche Geburtstag hat. Sie ist in meinem Alter, und er möchte, dass wir uns gut verstehen. Ich lächle, ja, wäre schön, jemanden in meinem Alter zu kennen, mit dem ich mich verstehe, sage ich ihm. Ich denke dabei an das Hochzeitsvideo meiner Eltern und will Adnan davon erzählen, stattdessen erzähle ich ihm die Episode mit Tante Khalida und Baqqe, die mir das Auge ausleckte, eine Haarsträhne abschnitt und verzauberte. Nach Wochen wuchs die Haarsträhne zu alter Länge, als hätte ich mir alles eingebildet. Ich dachte darüber nach, was Baqqe prophezeit hatte. Vier Männer hatte sie gesehen, die mich umzingelten. Einer war sogar in mir, vor dem fürchtete ich mich am meisten. Ich rasierte mir regelmäßig die Schamhaare, damit kein Mann sich einen Weg zu mir bahnen könnte. Tante Khalida hatte das Wachsen von Schamhaaren und das Heiraten miteinander verknüpft. Das Rasieren war die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern. Aber die vier Männer in Baqqes Prophezeiung waren schon in mir; genährt von meiner Furcht machten sie es sich gemütlich in meinem Kopf. Sie stellten Dinge an, von denen ich damals glaubte, nur Männer seien zu solchen Taten fähig. Die Zeit schrumpfte die Männer zu winzigen Figuren und verbannte sie in die hintersten Winkel meines Kopfes. Da diese Männer in Wirklichkeit fernblieben, glaubte ich, die Strähne hätte ihre Kraft entfaltet, um mich zu schützen. Ich gab die Suche nach der Haarsträhne auf. Adnan grinst, unterdrückt wahrscheinlich ein lautes Lachen, vielleicht wird er es heute Abend tun, wenn ich gegangen bin. Dann wird er sich die Verrücktheit vor Augen führen und es irre finden, mit mir abzuhängen, mit jemandem, der vor einigen Jahren noch glaubte, eine verzauberte Strähne könne sein Schicksal besiegeln. »Und diese Frau, diese Baqqe, die dein Auge geleckt hat, sie besucht euch jeden Tag?« »Nein, nicht uns, sie kommt einfach mit meiner Tante.« »Redet ihr darüber, was damals vorgefallen ist?« »Nein, ich denke nur manchmal daran.« Dann umarmt er mich, diesmal lässt er mich nicht mehr los. Bevor ich zu weinen anfange, stoße ich ihn leicht von mir. »He, keine Umarmungen aus Mitleid.« Vielleicht wird er heute Abend doch nicht über mich lachen, sondern nachdenken, grübeln, Adnan grübelt, und diese Erinnerung, die ich an ihn weitergereicht habe, wird irgendwo in seinem Gedächtnis darauf warten, ausgegraben zu werden, um ihm einen Stich zu versetzen. Er erzählt von einer Tante, die ihr ganzes Leben nach ihrem Aberglauben richtet, dann möchte er mit mir über die Bedeutung von Aberglauben in der Gesellschaft diskutieren, hält aber stattdessen einen Monolog, was mir gelegen kommt. Während ich mich bei dem Klang seiner Stimme entspanne, stolziert eine fette, rot glühende Krabbe an einem einsamen Strand von rechts nach links nach rechts und krabbelt ohne Ziel. Wenn es stürmt, wenn das graue Wasser gegen die weißen Felsen peitscht, krabbelt die Krabbe hastig von einem Stein auf den nächsten, schützt sich unter den Brocken gegen das schmutzige Meerwasser. Doch an einem sonnigen Tag wie heute stakst sie mit stolzgeschwellter Brust auf den Steinen umher oder wetzt die Scheren, wetzt so lange, bis ich aufwache. »Ich wollte dich nicht wecken«, sagt Adnan und zieht sich um. »Ich muss los.« »Jetzt schon?« Ich schaue auf mein Handy, es ist achtzehn Uhr. »Zwei Minuten habe ich noch«, sagt er und legt sich auf mich. »Später habe ich mehr Zeit für dich, versprochen.« Ich denke, ja, morgen muss er nicht arbeiten oder erst sehr spät. Oder was meint er mit »später«? »Was meinst du mit ›später‹?« »Na später eben.« »Meinst du morgen?« Er lacht. »Ja, morgen.« Er küsst mich, und noch bevor ich den Kuss erwidere, lässt er mich auf dem großen Bett allein zurück, zieht sich eine leichte Jacke über und will weg. Dann bleibt er stehen und schaut noch einmal zu mir rüber. Ich rolle mich im Bett zusammen. »Es wäre super, wenn du heute Nacht hierbleiben könntest. Dann hätten wir morgen den ganzen Tag für uns und die Nacht natürlich. Klingt das nicht verlockend?« »Doch«, sage ich, »aber ich kann nicht.« »Wegen deiner Mom?« »Sag nicht ›Mom‹.« »Ja, deiner Mutter.« »Ja.« Adnan weiß das mit Asija, aber nicht das mit Mammut. Omer weiß das mit Mammut, aber nicht das mit Asija. Nachdem ich von Mammut erzählt hatte, sagte Omer als...


Taha, Karosh
Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo/Irak geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Ihr Debütroman ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹ erschien 2018 bei DuMont. Die Hörspielfassung ihres Romans wird 2021 bei WDR3 und COSMO ausgestrahlt. Karosh Taha erhielt für ihr Werk bereits zahlreiche Stipendien und Preise, darunter das Stipendium Deutscher Literaturfonds, den Hohenemser Literaturpreis und die Alfred-Döblin-Medaille.



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