E-Book, Deutsch, 117 Seiten
Tolstoi Eheglück
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-2449-1
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 117 Seiten
ISBN: 978-3-8496-2449-1
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
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Eine Novelle des großen russischen Schriftstellers. Die junge Mascha heiratet den deutlich älteren Sergej, ihren Vormund. Die beiden führen eine glückliche Beziehung bis es Mascha immer mehr weg vom Landleben und in die Stadt drängt ...
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Die Fasten der Himmelfahrt Mariä hatten begonnen, und alle im Hause fanden es natürlich, daß ich mich in dieser Zeit zur Abendmahlfeier vorbereitete. Sergej Michailowitsch kam diese ganze Woche nicht einmal zu uns, und ich wunderte mich nicht darüber, ängstigte mich nicht, zürnte ihm nicht; im Gegenteil, es freute mich, daß er nicht kam, und ich erwartete ihn erst zu meinem Geburtstag. Die ganze Woche hindurch stand ich früh auf und ging, bis angespannt war, allein in den Garten, nahm in Gedanken alle Sünden des vergangenen Tages durch und überlegte, wie ich es anfangen könnte, um mit dem heutigen Tag zufriedener zu sein und nicht wieder zu fehlen. Damals schien es mir leicht, sich rein von Sünden zu erhalten, ich glaubte, daß man nur ernstlich zu wollen brauche. Dann fuhr der Wagen vor; Katja oder eines der Dienstmädchen setzte sich zu mir, und wir fuhren die drei Werst weit nach der Kirche. Sobald ich in die Kirche kam, erinnerte ich mich, daß für alle gebetet wird, die »mit Gottesfurcht eintreten«, und ich gab mir ernstlich Mühe, mit dieser Empfindung die zwei mit Gras bewachsenen Stufen der Vorhalle zu überschreiten.
In der Kirche pflegten um diese Zeit nicht mehr als etwa zehn Personen anwesend zu sein: fastende Bäuerinnen und Hofleute. Ich ließ es mir angelegen sein, ihre Grüße mit freundlicher Demut zu erwidern, und ging – was mir wie eine Heldentat vorkam – an die Kerzenschublade, ließ mir von dem Küster, einem alten Soldaten, eine Kerze anzünden und stellte sie vor die Heiligenbilder. Durch die Haupttür des Allerheiligsten sah man die Altardecke, die Mama gestickt hatte. Über der Heiligenwand standen die beiden Engel mit Sternen, die mir so groß erschienen waren, als ich noch klein war, und über ihnen schwebte die Taube mit dem gelben Heiligenschein, die ich immer so sehr bewundert hatte. Hinter dem Chorgitter zeigte sich das verbogene Taufbecken, an dem ich so viele Kinder unserer Hofleute hatte taufen sehen und an dem ich selbst getauft worden war. Und dann erschien der alte Priester in der aus des Vaters Sargdecke verfertigten Stola und las die Messe mit derselben Stimme, mit der er, solange ich mich erinnern konnte, den Gottesdienst in unserem Haus gehalten, Sonja getauft und die Leichenmessen für den Vater und die Mutter gelesen hatte; und dieselbe klapperige Stimme des Psalmensängers erscholl vom Chor; und dasselbe alte Weib, das ich bei jedem Gottesdienst gesehen hatte, stand gebückt an der Wand, sah mit tränenden Augen auf das Heiligenbild über dem Chor, drückte die zusammengelegten Finger an das verschossene Kopftuch und murmelte mit zahnlosem Munde vor sich hin. Das alles war nichts Neues für mich, war mir aber nicht allein wegen der damit verknüpften Erinnerung heilig, sondern schien mir an sich voll tiefer Bedeutung zu sein. Ich lauschte auf jedes Wort der vorgelesenen Gebete, suchte andächtig zu antworten, und wenn ich etwas nicht verstand, bat ich in Gedanken, Gott möge mich erleuchten, oder ersetzte das nicht Gehörte durch eigene Worte. Wenn die Bußgebete gelesen wurden, rief ich mir meine Vergangenheit ins Gedächtnis, und diese kindlich-unschuldige Vergangenheit erschien mir so schwarz im Vergleich mit dem jetzigen lichtvollen Zustand meiner Seele, daß ich in Tränen ausbrach und vor mir selber schauderte; dabei fühlte ich aber, daß das alles vergehen würde, auch wenn ich noch schwerere Sünden auf der Seele hätte – daß meine Reue dann sogar noch süßer wäre. Zu Ende des Gottesdienstes, wenn der Priester sagte: »Gottes Segen über euch!«, hatte ich jedesmal ein körperliches Gefühl des Wohlbehagens, als ob bei diesen Worten Licht und Wärme in mein Herz drängen.
Nach Schluß des Gottesdienstes pflegte der Priester zu mir herauszukommen und zu fragen, ob und wann er sich bei uns einfinden solle, um die Vesper zu lesen; aber dann dankte ich ihm gerührt für die Mühe, die er sich meinetwegen geben wolle, und sagte, daß ich wieder in die Kirche käme. »Sie wollen sich selbst bemühen?« fragte er dann. Und ich wußte nicht, was ich antworten sollte, ohne mich durch Stolz zu versündigen.
Wenn mich Katja nicht begleitete, schickte ich immer vor der Messe die Pferde zurück und ging allein zu Fuß nach Hause. Demütig grüßte ich alle, die mir begegneten; ich suchte jeder Gelegenheit zu helfen, zu raten, ein Opfer zu bringen, einem Wagen mit aufzuhelfen, ein Kind zu wiegen, aus dem Wege zu gehen und mich dabei schmutzig zu machen.
Eines Abends, als unser Verwalter mit Katja über die Vorgänge im Dorfe sprach, hörte ich ihn sagen, daß der Bauer Simon gekommen sei, um Bretter für den Sarg seiner Tochter und einen Rubel für Totenmessen zu erbitten, und daß er ihm beides gegeben habe.
»Sind die Leute so arm?« fragte ich.
»Sehr arm, gnädiges Fräulein; sie haben nicht das Salz zum Brote«, antwortete der Verwalter. Mir war, als ob mir etwas das Herz zusammenschnürte, und dabei empfand ich doch eine gewisse Freude. Ich sagte Katja, daß ich Spazierengehen wollte, lief hinauf, suchte mein Geld zusammen – es war nicht viel, aber alles, was ich besaß–, und nachdem ich mich bekreuzt hatte, ging ich allein über die Terrasse und durch den Garten nach dem Dorfe zu Simons Hütte. Sie lag am Rande des Dorfes. Von niemand bemerkt, näherte ich mich dem Fenster, legte Geld ins Fenster und klopfte an. Es trat jemand aus der Hütte heraus, und eine Stimme rief, wer da sei. Ich aber erschrak und lief, zitternd vor Furcht wie eine Verbrecherin, so schnell ich konnte, nach Hause zurück.
Katja fragte mich, wo ich gewesen und was mir geschehen sei; aber ich verstand kaum, was sie sagte, und gab ihr keine Antwort; alles schien mir plötzlich so nichtig und klein. Ich schloß mich in mein Zimmer ein, ging dort lange hin und her und war nicht imstande, etwas zu tun, zu denken, mir über meine eigenen Gefühle Rechenschaft zu geben.
Nachdem ich ruhiger war, dachte ich an die Freude der armen Familie, an die Dankbarkeit, mit der sie den Geber des Geldes nennen würden, und es tat mir leid, daß ich es ihnen nicht selbst gegeben hatte. Ich stellte mir auch vor, was Sergej Michailowitsch sagen würde, wenn er von dieser Handlung erfahren würde; und es kam eine so große Freudigkeit über mich, und alles – auch ich selbst – erschien mir in so mildem Lichte, daß der Gedanke an den Tod zu einem Traum des Glücks für mich wurde. Ich lächelte, betete, weinte und empfand für alle Menschen, und auch für mich selbst, eine leidenschaftliche Zuneigung. In den Zwischenzeiten von einem Gottesdienst zum andern las ich das Evangelium; und immer verständlicher wurde mir dieses Buch, immer rührender und einfacher erschien mir die Geschichte dieses göttlichen Lebens, immer erhabener und unergründlicher die Tiefe des Gefühls und der Gedanken, die ich in Jesu Lehre fand. Wie klar und einfach stellte sich mir alles dar, wenn ich dann von diesem Buche aufstand und das Leben um mich her betrachtete! Es schien so schwer, nicht gut zu sein, und so einfach, alle zu lieben und geliebt zu werden.
Alle waren gut und sanft gegen mich; Sonja sogar, die ich weiterhin unterrichtete, war anders als sonst, sie war eifrig bemüht, mich zu verstehen, suchte mir gefällig zu sein und gab sich Mühe, mich nicht zu ärgern. Wie ich gegen die Menschen war, so waren sie gegen mich.
Als ich mich auf die zu besinnen suchte, die ich gekränkt hatte und die ich vor dem Abendmahl um Verzeihung bitten mußte, fiel mir nur eine Dame in der Nachbarschaft ein, über die ich ein Jahr vorher in Gegenwart anderer gelacht hatte und die seitdem aufgehört hatte, uns zu besuchen. Ich schrieb ihr, bekannte meine Schuld und bat um Verzeihung. Sie antwortete in einem Brief, in dem sie sich selbst anklagte und mir verzieh. Ich weinte vor Freude, als ich diese einfachen Zeilen las, in denen mir damals ein tiefes, rührendes Gefühl zu liegen schien.
Die Kinderfrau weinte, als ich sie um Verzeihung bat.
Warum sind alle Menschen so gut gegen mich? Womit habe ich soviel Liebe verdient? fragte ich mich selbst, und unwillkürlich dachte ich an Sergej Michailowitsch, und meine Gedanken blieben lange mit ihm beschäftigt.
Ich konnte nicht anders und hielt es auch nicht für Sünde, aber ich dachte jetzt anders an ihn als in jener Nacht, da ich zuerst erkannte, daß ich ihn liebte. Ich dachte an ihn wie an mich selbst und zog ihn unwillkürlich in jeden Gedanken an meine Zukunft hinein. Der drückende Einfluß, den ich bisher in seiner Gegenwart empfunden hatte, verschwand völlig in meiner Vorstellung. Ich fühlte mich ihm gleich, und auf der Höhe der heiligen Stimmung, in der ich mich jetzt befand, verstand ich ihn ganz. Alles, was mir früher in seinem Wesen seltsam erschienen war, wurde mir begreiflich. Erst jetzt verstand ich, warum er sagte, das wahre Glück bestehe nur darin, für andere zu leben, und stimmte aus tiefstem Herzen mit ihm überein. Ich war überzeugt, daß wir beide ein ruhiges, unendliches Glück ineinander finden würden. Ich dachte nicht an Reisen ins Ausland, nicht an Gesellschaften, nicht an äußeren Glanz, sondern nur an ein stilles Familienleben auf dem Lande, unablässige Selbstaufopferung, unwandelbare Liebe und dankbares Erkennen der Güte des Geschickes.
Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich an meinem Geburtstage zum Abendmahl und war, als ich aus der Kirche kam, von einem so tiefen Glücksgefühl erfüllt, daß ich die Rückkehr ins Leben fürchtete,...




