Tschukowskaja | Untertauchen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Tschukowskaja Untertauchen

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-908778-63-9
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nina Sergejewna verbringt winterliche Wochen im Jahr 1949 in einem Sanatorium für Künstler auf dem Lande. Hier ist alles auf Vergessen gestimmt. Doch sie will mehr über die Vergangenheit, über ihr eigenes Leid und das ihrer Mitmenschen erfahren. Als sie Bilibin kennenlernt, der im gleichen Arbeitslager wie ihr Mann war, sucht sie seine Nähe. Es entspinnt sich eine zarte Zuneigung, doch enttäuscht wendet sie sich ab, als auch Bilibin nicht die Wahrheit, sondern das Verdrängen und Vergessen sucht.

LYDIA TSCHUKOWSKAJA, geboren 1907 in St. Petersburg, musste mitansehen, wie ihr Mann und viele ihrer Kollegen während des Stalin-Terrors verhaftet und umgebracht wurden. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie literarisch unter anderem in 'Untertauchen' (1947). 1974 wurde sie aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Erst 1988 konnten in Moskau 'Untertauchen' und in Leningrad 'Sofia Petrowna' erscheinen. Lydia Tschukowskaja starb 1996 in Peredelkino. SWETLANA GEIER, die 'Grande Dame der russisch-deutschen Kulturvermittlung', geboren 1923 in Kiew, wurde vor allem bekannt durch ihre Übertragungen der großen Romane von Fjodor Dostojewskij. Für ihre zahlreichen Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Im Dörlemann Verlag erschienen in ihrer Übersetzung 'Ein unbekannter Freund' von Iwan Bunin und Valentin Katajews 'Kubik'. Swetlana Geier starb am 7. November 2010 in Freiburg im Breisgau. HANS JÜRGEN BALMES, geboren 1958, lebt als Lektor in Frankfurt am Main. Er übersetzte unter anderen Robert Hass und John Berger und ist Mitherausgeber der 'Neuen Rundschau'.
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… 2. 49 Ich bin gestern früh zu Bett gegangen und habe geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuwachen, tief, bis das Licht durch die Vorhänge sickerte. Ich sprang sofort auf, da ich fürchtete, ich hätte mich zum Frühstück verspätet. Tatsächlich, es war schon acht vorbei. Ich beeilte mich mit dem Waschen, lief hinunter ins Speisezimmer – aber das Speisezimmer war noch leer. Ein länglicher Raum mit blanken Fenstern und runden Tischen. Das harte Weiß der frisch gestärkten Tischtücher setzte sich hinter den Fenstern in der Schneekruste der Schlucht fort. Auf den Tischen funkelndes Geschirr und die Pyramiden der Servietten, aber im ganzen Zimmer kein Mensch. Ich glaube, ich war die Erste. Nein, ganz in der Ecke saß eine junge, sehr schlanke dunkeläugige Dame und klopfte mit einem Löffelchen graziös das Ei auf. Ein beneidenswert rotwangiges und blühend aussehendes Mädchen wies mir meinen Platz an, fragte sehr aufmerksam nach meinen Wünschen und brachte schnell das Frühstück. Ich schaute durch das blitzblanke Fenster: Das alles gehörte mir! Meine Tanne stand auf dem Hang, so rührend in ihrem Ernst – unmöglich, dass sie es nicht ahnte, wie reizend sie war! Die Hausdächer, wie von Kinderhand über den Hang verteilt, waren über Nacht weiß geworden und schmiegten sich enger an die Erde. Auf meinem Tisch lagen zwei weitere Gedecke, aber ich wollte nicht auf meine unbekannten Tischgenossen warten, beendete rasch mein Frühstück und beeilte mich hinauszukommen, an die Luft, die ich mindestens hundert Jahre nicht mehr geatmet hatte. Ich zog mich ganz schnell an, trat vors Haus und ging geradeaus, immer weiter, ohne Ziel. Um das Haus herum Schneematsch, weiterhin schwammiger, kranker Schnee und erst noch weiter, auf den Feldern, lag eine glatte Schneedecke. Das Häuschen des Direktors, blau, wie in der Ukraine, eine Scheune, ein Hund an der Kette. Alles öde, feucht, unscheinbar. Weiter! Graue Wolken, graue Ferne, und hinter schwarzem Geäst – ein gelber Himmel. Wie unheimlich und unheilverkündend wäre das in Leningrad – solch ein gelber Himmel hinter schwarzem Astwerk, hier aber ist es kein böses Zeichen, sondern einfach ein gelber Morgenhimmel. Ich ging immer weiter, ohne auf den Weg zu achten, vorbei an Hühnern und Wäsche, die an der Leine fror … Ah, da! Ein Birkenwald! Hier ist es so, als könnte es den Matsch um das Haus gar nicht geben. Hier ist der Schnee üppig und fest wie in der Schlucht unter meinem Fenster. Und aus dem tiefen Schnee recken sich Birken zu den Wolken empor … Ich stieg über eine Schneewehe und konnte auf einem Fußpfad weitergehen. Alles um mich her war grau, schwankend, von Feuchtigkeit durchtränkt. Die Birken wuchsen in Familien – zu zweit, zu dritt aus einer Wurzel, sie strebten empor und lehnten sich, je höher sie wurden, immer weiter zurück, wie in einem stürmischen Walzer. Ich blieb stehen, warf den Kopf zurück: Mir schwindelte, als ich in diese gleichmäßig schwankenden Wipfel und die langsam kriechenden grauen aufgequollenen Wolken blickte. Die Wolken hatten sich so dicht zusammengezogen, als wären es dort oben, auf der himmlischen Erde, ganz hohe Schneewehen. Ich ging den Fußpfad immer weiter, trunken von den vorbeiziehenden schwingenden grauweißen schlanken Stämmen, und ich empfand eine nagende Trauer, wie immer in den Augenblicken des entschiedenen Glücks … All das wird mir wieder genommen werden. All das werde ich wieder hergeben müssen. Niemand Bestimmter wird es zurückverlangen, nur etwas Ungreifbares wird dann vorübergegangen sein, jenes Etwas, das wir ›Zeit‹ nennen, auf dem Kalenderblatt wird eine Vier oder eine Neun auftauchen, und auf ihren Befehl hin wird vor der Eingangstür ein Auto vorfahren, und ich werde meinen Koffer packen, und dieses Wäldchen wird mir nicht mehr gehören, und dann wird es heißen: »Betreten verboten« … In dem ruhigen, gemütlichen Haus wird man genauso in der Stille das Tuckern des Generators auf dem Hang hören, die Lampen werden genauso das pulsierende, schwächer und stärker werdende Licht verströmen, die Birken werden sich genauso aus dem Schnee nach den Wolken recken – aber all das wird mir nicht mehr gehören. Vorbei! Aus! Eine Vier auf dem Kalenderblatt. Ende. Kaum hatte ich den Birkenwald kennengelernt, schon trauerte ich um den unvermeidlichen Abschied. Der Pfad wandte sich und machte viele Schleifen. Die Birken wichen gefügig auseinander, aber das war nur Schein, um in die Tiefe zu locken, in Wirklichkeit drängten sie sich enger und enger an mich heran, und der Pfad musste sich listig, in Schleifen, an den runden Birkenfamilien vorbeiwinden. Ganz oben rauschte der Wind. An den Zweigen rollten und funkelten die glänzenden Kügelchen der Knospen. Knospen? Im Winter? … Ich sah genau hin. Es waren Wassertropfen. »Ein kleiner Spaziergang?« Eine stattliche Dame in langen Hosen unter dem Pelz und mit einer großen Handtasche mit Metallbeschlägen kam mir entgegen. Das starkgepuderte Gesicht war in der Kälte violett, an den Stellen, wo die Augenbrauen ausgezupft waren, spannte sich die Haut. Ihr folgte ein brünetter Mann im Skianzug. Er bewegte sich sehr lässig, sein schöner, gepflegter Bart wirkte irgendwie exotisch. »Nun, wie steht’s in Moskau?«, fragte er mich, nach einer flüchtigen Verbeugung. »Alles an seinem alten Platz hoffentlich? Sie sind wohl erst heute angekommen? Hier ist es stinklangweilig …« »Aber Lado! Wie kannst du nur?«, sagte die Dame und schloss geräuschvoll ihre Handtasche. Es klang beinahe wie ein Schuss. Da wusste ich, dass ich den berühmten Filmregisseur vor mir hatte, der erst vor kurzem mit dem Stalinpreis für einen Film über Stalins Geburtsort Gori ausgezeichnet wurde – Lado Kantscheli. Wir standen auf dem schmalen Pfad, dicht nebeneinander, um nicht in dem hohen Schnee zu versinken. Es war mir peinlich, dass der eine Ärmel meines Pelzmantels kahlgescheuert war. Sie fragten mich, wie es mir hier gefalle, wer mit mir angekommen sei – dieser breitschultrige Mann in dem schweren Pelz –, welches Zimmer ich bekommen habe – und gingen schließlich weiter. Zufriedene, gutangezogene Menschen! Sofort dachte ich an meinen alten Pelz, die fehlende Dauerwelle und das nicht getönte, offen ergrauende Haar. Nun stellte sich heraus, dass ich hier durchaus nicht mit meinen Erinnerungen und meiner Arbeit allein, nicht nur in Gesellschaft des Himmels, des Waldes und der Bücher war, sondern mit fremden Menschen zusammen sein würde, dazu noch Menschen, die sich hier langweilen und sich unterhalten wollen. Ich hatte damit nicht im mindesten gerechnet, damals, als ich die Reise hierher antrat – in die Einsamkeit. Ich war auf die Menschen hier nicht eingestellt. Ich ging weiter und weiter, und die Birken tanzten im Reigen mit. Ich hatte die Empfindung, sie könnten mich jeden Augenblick mitreißen. Dichte, sichtbare Luft lag zwischen den Stämmen. Dieser Birkenwald erinnerte mich an Holland, das ich selbst nicht kannte. Alles von Feuchtigkeit gequollen, trübe, schwer und verschwommen. In der Ausstellung von Ostroumowa-Lebedewa habe ich auf ihren Bildern dieses Holland gesehen – schwer, verwaschen, feucht. Auch in Leningrad gibt es solche Tage: vom Universitätsquai ist die goldene Isaakij-Kathedrale am anderen Ufer nicht mehr zu sehen. Ich kehrte um. Ich hatte ein Ziel: Jetzt konnte ich arbeiten – ohne das Klingeln des Telefons, ohne die Stimmen hinter der Wand, ohne schlechtes Gewissen vor Katja, der ich den Platz wegnahm. Ich war nicht da – und jetzt konnte sie nach der Schule ihre Aufgaben am Tisch machen, ohne auf mich Rücksicht nehmen zu müssen. Da war schon die Wäscheleine und die verrenkten Hemden. Und hinter der Wäsche die Tannen und der beleuchtete Hauseingang. Ich blieb einen Augenblick stehen und lauschte: Lebt die Sorge noch? Ja, die Sorgen einer Mutter lassen nie nach: Sogar jetzt, in diesem gütigen runden Rauschen, kann ich den Finger ganz genau auf die Stelle über dem Herzen legen, wo diese Sorgen leben. Ist Katjuscha gesund? Ist sie auf dem Heimweg nach der Schule auch nicht ausgerutscht? Hat die Lehrerin sie auch nicht zum Weinen gebracht, diese Lehrerin, die von den Kindern verlangt, alles auswendig zu lernen: »So, dass es von selbst zwischen den Zähnen hervorsprudelt!« Und hat Elisaweta Nikolajewna … Aber an Elisaweta Nikolajewna will ich erst gar nicht denken … Das Haus strahlte mir mit vielen Lichtern entgegen, die Garderobe war mollig warm, das Mädchen legte ihr Buch beiseite und half mir aus dem Mantel. Ich fühlte mich von der frischen Luft vom Scheitel bis zur Sohle durchtränkt. Nein, nicht bloß die Mütze, die Überschuhe, der Pelz, sondern auch die Backen, die Brust, die Beine – alles. Das Haus empfing mich mit der städtisch gleichmäßigen Wärme, mit dem Glanz der Parkettböden und medizinischer Fürsorge. Ich wurde zum Arzt bestellt. Anschließend musste ich ein Tannennadelbad nehmen. Und dann wurde mir meine Medizin gebracht. Der Arzt, die Krankenschwester, das blonde stupsnasige Mädchen, das ich in meinem Zimmer beim Aufräumen überraschte – alle kümmerten sich um meine Krankheiten, die medizinischen Anwendungen, um die Diät, um den Kleiderbügel für mein einziges Kleid, um die Farbe der Tinte, die ich beim Schreiben bevorzugte … Natürlich war ihnen das alles in Wirklichkeit ziemlich gleichgültig, aber diese freundliche Heuchelei, die zu ihren Dienstpflichten gehörte, war außerordentlich wohltuend. Ganz anders in der Welt draußen. Man steht im Büro der Hausverwaltung und wartet auf eine Bescheinigung. Es gibt keinen Stuhl,...


LYDIA TSCHUKOWSKAJA, geboren 1907 in St. Petersburg, musste mitansehen, wie ihr Mann und viele ihrer Kollegen während des Stalin-Terrors verhaftet und umgebracht wurden. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie literarisch unter anderem in "Untertauchen" (1947). 1974 wurde sie aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Erst 1988 konnten in Moskau "Untertauchen" und in Leningrad "Sofia Petrowna" erscheinen. Lydia Tschukowskaja starb 1996 in Peredelkino.

SWETLANA GEIER, die "Grande Dame der russisch-deutschen Kulturvermittlung", geboren 1923 in Kiew, wurde vor allem bekannt durch ihre Übertragungen der großen Romane von Fjodor Dostojewskij. Für ihre zahlreichen Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Im Dörlemann Verlag erschienen in ihrer Übersetzung "Ein unbekannter Freund" von Iwan Bunin und Valentin Katajews "Kubik". Swetlana Geier starb am 7. November 2010 in Freiburg im Breisgau.

HANS JÜRGEN BALMES, geboren 1958, lebt als Lektor in Frankfurt am Main. Er übersetzte unter anderen Robert Hass und John Berger und ist Mitherausgeber der "Neuen Rundschau".


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