Urech | X wie Dictionnaire | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Reihe: Edition Blau

Urech X wie Dictionnaire

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03973-045-2
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Reihe: Edition Blau

ISBN: 978-3-03973-045-2
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Die Sonne wird immer größer, die Stadt immer stiller. Das Wasser steigt, See und Meer verschmelzen zum Seemeer. Jeden Tag zwängen sich mehr Menschen in die Raumfähre, die sie nach Belgador bringen soll, einem Garten Eden, von dem niemand eine Vorstellung hat. Nur Simon und eine Handvoll sympathisch skurriler Gestalten denken nicht im Traum ans Fortgehen, obwohl schon der Fisch zum Sauerkraut fehlt, weil sich inzwischen auch der Fischer davongemacht hat. Simon ist der Laternenanzünder der Stadt, die Stück um Stück vom Urwald überwuchert oder von der Wüste verschluckt wird. Doch eines Tages findet er im Seemeer, angespült in einem Boot, ein stummes Kind. Der Kleine wächst Simon schnell ans Herz, er lehrt ihn den Umgang mit den Menschen und die Sprache. X wie Dictionnaire ist eine Parabel über die Liebe und das Loslassen, über die Funken der Hoffnung in einer Welt, die dem Untergang geweiht scheint.

Marie-Jeanne Urech: »Ich kam am 4. Juni 1976 in Lausanne zur Welt, wog 3,7 kg und maß 48 cm. Im Laufe der Jahre habe ich zugelegt und meine Taschen gefüllt mit einem Legoland-Führerschein, einem orangen Judogürtel, einem Zertifikat in Notenlesen, einem Lizenziat in Sozialwissenschaften der Universität Lausanne und einem Regiediplom der London Film School. Ich habe drei Dokumentarfilme gedreht, viermal so viele Bücher geschrieben, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und rechne Prozente unverdrossen mit dem Dreisatz aus, was mein Gehirn olympisch fit hält.«
Urech X wie Dictionnaire jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Die Raumfähre mit Ziel Belgador sollte sich in Kürze der Erde entreißen. Vor dem Abfertigungsgebäude drängte sich eine Menschenmenge ohne Gepäck. Nur Souvenirs in Form von Schnipseln oder Konfetti waren erlaubt. Wollte man alles hinter sich lassen, musste man schwerelos sein. Auf dem Trottoir gegenüber ging Simon, der Lampist, der Erste, der die Nacht erhellte. Er hatte es eilig. Das Sauerkraut an drei Fischen von Küchenchef Beckenbaum war das beste der Stadt. Mit echtem Schellfisch, Lachs und Kabeljau, keine seichte Brühe. Es flutschte gut durch den Magen, bevor man sich aufmachte, Dutzende von Laternen zu entzünden. Das Restaurant schachtelte sich über vier Etagen hoch. Pro Stockwerk ein Tisch und ein Fenster. Als Stammgast setzte Simon sich stets ins vierte und überließ die unteren Geschosse den Versehrten der kleinen und der großen Kriege. Es gab nur ein Menü im Restaurant. Die Wartezeit war auch konstant. So lange so ein Fisch zum Garen braucht. Beim Ertönen der Klingel stellte sich Simon an die Durchreiche. Er hob die Glocke, und der Teller wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen. Das Sauerkraut war da, auch die Tomate zur Garnitur, nur vom Fisch keine Spur. Plötzlich stand Beckenbaum im Raum. Er absolvierte seine in langen Dienstjahren automatisierte Runde durch die Kundschaft, freundlich seine Kochmütze lüftend. Bevor er wieder durch die Wand entschwand, brachte Simon den Mechanismus zum Stehen. Die Mütze schwebte in der Luft, das Lächeln war verpufft.

»Wo ist der Fisch?«

»Im Wasser, wo denn sonst?«

»Im Topf, meinst du?«

»Im See, im Meer oder im Seemeer, das ist nur eine Frage des Salzes.«

»Das schmeckt nicht mehr wie früher.«

»Freut mich, dass du es bemerkst. Ich wurde heute nicht beliefert.«

»Das schmeckt überhaupt nicht mehr.«

»Bis morgen, Simon.«

Ein Feuerzeug hätte gereicht, um eine Laterne anzufachen, doch die Bevölkerung war gewachsen, und die Laternen waren in die Höhe geschossen. Simon musste eine Stange einsetzen. Seine Muskeln spannen. Genau peilen. Ja nicht zittern. An windstarken Tagen schwankte er wie ein Zirkusakrobat, um die Stange im Gleichgewicht zu halten. Mit entsetzlichem Getöse entriss sich die Fähre nach Belgador der Erde und fegte mit ihrem Feuer der Verheißung die hereingebrochene Nacht hinweg. Simon bog in eine der Avenuen, die er zu erleuchten hatte, und tränkte seine Stange in Brennstoff. Straße für Straße belebte sich die Stadt mit flackernden Lichtern, die da einen Klecks Farbe auf einem stumpfen Verputz, dort ein halb vermummtes Gesicht zum Vorschein brachten. Die Flamme gab ein leichtes Summen von sich, das, schaute man nicht näher hin, an Elektrizität erinnerte. Während er so voranschritt, zählte Simon die Fenster ohne Leben, die immer zahlreicher wurden. Eine Fähre folgte auf die nächste, und sie leerten die Stadt, pumpten ihr die Eingeweide aus, um die grünen Wiesen von Belgador damit zu düngen. Vielleicht war er der Einzige, der das ganze Ausmaß dieser Abreisen erfasste. Hier und da lief ihm, vom plötzlichen Licht aufgescheucht, eine Gestalt über den Weg. Mit seiner Leuchtspur zog Simon der Nacht einen Strich durch die Rechnung. Simon, der nächtliche Wächter. Der Schutzherr der Pflastersteine. Er kam am Bahnhof vorbei, der zur Endstation geworden war, und holte sich ein Getränk am Automaten. Die Luft war mild, obwohl der Herbst schon fortgeschritten war. Sobald sich ins Morgengrau die ersten Ritzen schlichen, pustete er kräftig, um seine Stange auszulöschen. Durch die Rauchschwaden schimmerte eine fette Sonne.

Im Treppenhaus überholte Simon den Lieferanten, nass vor Schweiß. Über der Schulter ein Motorrad. Ein chromblitzendes, funkelneues Stahlross. Novembre, auf der Fußmatte in Stellung, erwartete missgelaunt die Lieferung.

»Wo soll ich nur hin damit, Simon? Sag mir das!«

»Was für eine Glückssträhne. Es ist fast kaum zu glauben!«

»Es gibt kein Benzin mehr. Da können sie mir ruhig ein Motorrad schenken. Ein Glück, dass es kein Auto ist!«

»Im Wohnzimmer ein Motorrad, auf der Toilette eine Gefriertruhe, im Schrank eine Jukebox. Irgendwann wirst du umziehen oder mit dem Spielen aufhören müssen!«

»Ich werde aufhören, wenn ich das Schloss gewonnen habe, in dem ich den ganzen Plunder unterbringen kann.«

Tief in seinem Bett versunken, dachte Simon an Flore. Drei Monate, dass sie fortgegangen war. Sie hatte ihn angefleht, mit ihr nach Belgador zu kommen. Er hatte auf seine Stange verwiesen. Man zählte auf ihn: »Wenn die Nacht sich niederlässt, erlischt alles, was man ist.« – »Und alles, was man liebt, erlischt mit«, hatte sie geantwortet. Als er eines Feiermorgens von der Arbeit nach Hause kam, war sie weg. Simon dachte an Flore, irgendwo dort oben über dem Betthimmel, in Nachbarschaft eines anderen Sterns, der besser, länger scheinen würde. Hatte sie in ihrem Handgepäck ein kleines Stück von ihm dabei?

Unter ihm, auf Höhe der Grundmauern, trug Madeleine das Gebäude auf Händen. In der Mitte des Wohnzimmers, umgeben von ihrer Sammlung Korkenzieher, hielt sie mit ausgestreckten Armen und krummgebogenen Beinen tapfer dem Druck der Decke stand. Madeleine war nicht gerade von athletischer Statur, aber leicht von Begriff und wusste, dass man mit Herz und Verstand Stahlbeton, Ziegelstein und Innenwände aufrechterhalten kann. Jeden Tag kam die Nachbarschaft vorbei, setzte sich zu ihren Füßen aufs Lederkanapee und tauschte das Neueste aus. Madeleine, urgesteinsartiger Monolith, monumental verehrt. Simon säumte nie lange bei diesem täglichen Zusammensein. Stets drängte ihn der Einbruch der Nacht zum Aufbruch.

Mit einem Einkaufsnetz in der Hand betrat er die Straße, die er seit jeher kannte, in der er geboren, gehegt, geliebt und dann verlassen worden war. Die Straße, Dekor eines Lebens, das ihm behagte, selbst wenn ihn das Gespenst der Pflicht gelegentlich etwas plagte. Er ging vorbei an den Gärten, die wegen der Familien, die eine nach der anderen aufbrachen, brach lagen. Die Vegetation begann auf die Fliesen überzugreifen. Bald würde nicht mehr auszumachen sein, ob dort Spalierstangen oder Kreuze standen. Auf dem Weg, von maroden Läden gesäumt, unter Mangel und Demineralisation leidend, bemerkte er den Wagen von Georgette, seiner Nachbarin. Sie saß keuchend daneben:

»Ich habe meinen Stock verloren.«

»Wo denn?«

»Wenn ich das wüsste, würde ich nicht hier herumhocken! Ohne meinen Stock kann ich nicht durch die Gegend streifen. Und wenn ich nicht trainiere, bin ich geliefert. Dann kann ich die Fähre nicht besteigen.«

»Warum willst du denn unbedingt dorthin?«

»Hier würde ich umkommen.«

Er hakte sie unter und brachte sie nach Hause, seltsame Beute in seinem Einkaufsnetz.

Am Nachmittag klopfte es an seine Tür. Obwohl er wusste, dass es fast kaum wahrscheinlich war, dachte er an Flore. Sie hätte nicht geklopft. Sie hatte einen Schlüssel. Und außerdem schloss er nie mit dem Schlüssel ab. Und es war auch nie eine Fähre aus Belgador zurückgekehrt. Es war die Eierfrau. Leicht verlegen der gelegten Eier wegen. Die Kunden ließen sie drauf sitzen. Sie hatte einen ganzen Korb voll zu verschenken. Als Gegenleistung versprach Simon, ihre Straße als erste zu erleuchten, und auch den Hühnerstall, falls ihr das gelegen kam. Sie schien ihm etwas wackelig zu sein, die Füße nicht mehr so gut im Boden verankert. Sie war wohl auch bald weg. Weihnachten ein Huhn im Topf wär top.

Endlich ließ Beckenbaum, der Küchenchef, sich blicken. Die Mütze torkelte, das Kinn tropfte, der Mechanismus stoppte. Simon hielt ihm das Sauerkraut unter die Nase.

»Das schmeckt nicht mehr wie früher, habe ich gesagt.«

»Der Fischer ist fort, habe ich gesagt.«

»Nach Belgador? Ich frage mich wirklich, was ein Fischer auf grünen Wiesen verloren hat.«

»Vielleicht wächst der Fisch dort wie Gras. Kommt jedenfalls nicht infrage, dass ich auf Räucherfisch umsattle. Echter Schellfisch, Lachs und Kabeljau! Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, ich muss den Laden dichtmachen.«

»Wenn du willst, kann ich dein Schild weiterhin beleuchten.«

Am Anfang hatte Simon, der Lampist, einen Traum. Diesen Traum, der uns alle nachts heimzusuchen scheint: der Traum von Veränderung. Ein anderes Bett, die Straße wechseln, die Freunde, das Profil, die Tapeten, die Figur und die Kontur der doch so vollendeten...


Marie-Jeanne Urech: »Ich kam am 4. Juni 1976 in Lausanne zur Welt, wog 3,7 kg und maß 48 cm. Im Laufe der Jahre habe ich zugelegt und meine Taschen gefüllt mit einem Legoland-Führerschein, einem orangen Judogürtel, einem Zertifikat in Notenlesen, einem Lizenziat in Sozialwissenschaften der Universität Lausanne und einem Regiediplom der London Film School. Ich habe drei Dokumentarfilme gedreht, viermal so viele Bücher geschrieben, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und rechne Prozente unverdrossen mit dem Dreisatz aus, was mein Gehirn olympisch fit hält.«



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.