E-Book, Deutsch, Band 4, 464 Seiten
Reihe: Ein Hartmut-und-ich-Roman
Uschmann Murp!
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-402522-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hartmut und ich verzetteln sich Roman
E-Book, Deutsch, Band 4, 464 Seiten
Reihe: Ein Hartmut-und-ich-Roman
ISBN: 978-3-10-402522-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oliver Uschmann wurde geboren, als seine Eltern es für angebracht hielten und wuchs in Wesel am Niederrhein auf. In Bochum studierte er Literatur und in Berlin das Leben. Mit seiner Frau Sylvia Witt veröffentlicht er Jugendromane, Erwachsenenromane sowie lustige und ernste Sachbücher. Ihre bekannte Romanserie 'Hartmut und ich' haben die beiden als 'Hui-Welt' im Internet sowie 2010 als bewohnbare Ausstellung namens 'Ab ins Buch!' aufgebaut. Auf der Videospielkonsole stellt sich Oliver Uschmann regelmäßig den schwersten Gegnern. Zu seinen Hobbies außerhalb des Hauses gehören das Barfußlaufen und das Guerilla-Gärtnern. Außerdem begrüßt er jedes natürliche Gewässer, indem er vollständig seinen Schädel hineinsteckt. Uschmann lebt mit seiner Frau sowie zwei Katern auf einem Dorf im Münsterland. Literaturpreise: Förderpreis NRW 2008
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Cassia fistula
»Kann man damit malen?«, fragt der kleine Junge mit dem runden Gesicht und zeigt auf mein Stück Mohn-Apfel-Streuselkuchen. Besser gesagt: Er zeigt auf die Mohnkörner, die davon auf den Teller und den Tisch gerieselt sind. Die Tischkante ist auf Höhe seines Kinns, ich sehe seinen Körper nicht, sondern nur ein fragendes, rundes Gesicht und die dazugehörige Hand, die auf mein Essen zeigt.
»Man kann mit allem malen«, sagt Caterina, die hinter dem Jungen steht und zulässt, dass er die eine Hand wie eine Schale aufhält und mit der anderen Hand Mohnkrümel von Tisch und Teller hineinstreicht. Dann dreht er sich um und rennt wieder in die Ecke mit den Leinwänden, Kartonfetzen, Pappmascheebergen und Fingermalfarben. Ein Lokaljournalist sitzt am Nebentisch vor seinem Becher Kaffee, hält sein Ohr an das Diktiergerät, auf dem er gerade sein Interview mit Caterina aufgezeichnet hat, kneift die Augen zusammen, hält sich das Gerät vor die Brille wie ein Feinmechaniker, dann wieder ans Ohr, schüttelt es, wird rot, blickt sich um und steckt es schnell in die Innentasche seiner Jacke.
»Die Kinder sind das Schönste daran«, sagt Caterina und pickt eine Gabel in mein Restkuchenstück. »Die Kinder entschädigen für alles.«
Ich schaue rüber zu den malenden, klecksenden und bastelnden Lümmeln. Einige von ihnen sind schon seit zwei Stunden hier, ihre Eltern bescheren dem Rasthof guten Umsatz. Gestern erst hat ein Reporter die Begeisterung der Kleinen für die Malerei als Rettung des Abendlandes gefeiert, der Artikel liegt ausgeschnitten im VW-Bus: »Wo unsere Kinder sonst vor hektisch flimmernden Bildschirmen hocken, fesseln sie hier unbewegte Bilder und die Möglichkeit, diese selbst zu erschaffen – und alle Ungeduld ist vergessen.« Ich freue mich für Caterina über solche Berichte. Ich freue mich für uns über solche Berichte. Aber ich hätte dem Mann am liebsten geschrieben, er solle erst mal selber knacken, bevor er von Videospielen als Drogen der Ungeduld spricht. Aber nun, man muss froh sein über jede Art von Presse. So viel haben wir bereits gelernt.
»Frau …«, sagt der Journalist, der nichts auf dem Diktiergerät hat, und Caterina unterbricht ihn: »Caterina, wir waren doch schon beim Du.«
»Ja, äh, gut. Ich bin dann mal weg.«
»Hast du alles, was du brauchst?«, fragt Caterina.
Der Mann lächelt. »Ja. Auf jeden Fall.«
»Dann mach’s gut. Und schick uns den Beleg!«
»Mach ich.«
»Tschüss.«
»Tschüss.«
»Ihr seid schon beim Du?«, frage ich und esse schnell das letzte Apfel-Mohn-Stück, bevor das nächste Kind kommt.
»Das macht man so mit Journalisten, weißt du doch mittlerweile. Wer die Kunst auf die Rasthöfe bringt, siezt nicht mehr. Der Journalist schreibt dann als Headline ›die nahbare Künstlerin‹, und schon wird der Rest positiv.«
Ich kaue und zeige mit der Gabel zum Tisch, an dem er gesessen hat. »Sein Gerät hat nichts aufgezeichnet.«
»Das weiß ich, mein Schatz«, sagt Caterina.
Ich unterbreche das Kauen.
Caterina lächelt. »So bringt es sogar noch mehr. Er sitzt jetzt draußen im Auto und schreibt aus dem Gedächtnis das Wichtigste auf, bevor er es vergisst. Er freut sich selbst über sein Erinnerungsvermögen, ist erleichtert, hat den Artikel schon im Kopf vorformuliert und fährt zu seiner Frau. Die Diktiergeräte sind sowieso nur Placebos.«
Ich kaue zu Ende. Meine Freundin ist ziemlich professionell geworden. Oder besser, sie beobachtet gut. Professionell kann man uns alle nicht nennen. Wir touren mit einem VW-Bus und einem alten Renault-Kastenwagen über die Autobahn-Raststätten und machen dort »Kunstpause«, Caterinas Wanderausstellung für ganz normale Menschen und ihre Kinder. Pierre hat die Genehmigungen eingeholt und die Pächter von dem Event überzeugt. Sein Bruder ist Mitinhaber eines Gastronomiezulieferers, der fast alle Rasthöfe dieses Landes bestückt. Pierre, der Pianist aus Hohenlohe, bei dem unsere Frauen Unterschlupf fanden, während wir ein altes Fachwerkhaus zu bändigen versuchten. Ein Haus, das am Ende nur Herr Leuchtenberg bändigen konnte, der überirdische Restaurateur.
Pierre, mit dem die Frauen die örtliche grüne Kunstszene erkundeten, während wir mit Wandelgermanen und Waldfrontsoldaten durch die Büsche robbten. Das ist erst ein paar Wochen her? Es kommt mir vor, als wären es Monate.
Der kleine Junge verarbeitet in der Malecke meinen Mohn. Ich beneide ihn ein wenig, denn er wird heute nach Hause fahren, an einen Ort, an dem ihm jede Ecke vertraut ist, einen Ort, bei dem er genau weiß, wie weit die Teppichkante unter den Wohnzimmersessel ragt, wenn er dahinter liegt, Frontsoldat spielt und unter dem alten Möbelstück hervorspäht, bis die Füße des Vaters auftauchen oder der Kater seine Schnauze in den Hohlraum steckt.
Wir hatten auch mal ein Zuhause, ein echtes Zuhause in Bochum, vor unserem Fachwerkabenteuer. Hartmut und ich. Hartmut studierte Philosophie und sabotierte die Nachbarschaft, um den Gemeinsinn auf die Probe zu stellen. Ich malochte bei UPS und lag in meiner geliebten Badewanne. Hartmut richtete mitten in unserer Wohnung ein Institut zur Dequalifikation von Akademikern ein, durch das ich Caterina kennenlernte, und machte Internet-Lebensberatung. Jeden dritten Samstag gingen wir zu unserem Freund Jochen und schauten uns von seinem Balkon aus die Demos unten auf der Straße an.
Das wiederum kommt mir vor, als wäre es Jahre her. Manchmal habe ich das Gefühl, als lebten wir dort auf einer anderen Ebene weiter, als stünde Hartmut am Wannenrand und diskutierte mit mir über Musik. Wahrscheinlich vermisse ich die Sesshaftigkeit. Sie gab uns Halt. Jetzt sind wir Nomaden. Nomaden auf Wanderausstellung, ohne Wohnsitz, ohne Ziel, ohne Einkommen. Wir sind im Limbo.
Zwei Gastspiele auf Raststätten haben wir jetzt schon gehabt, alle gut besucht. Regionale Zeitungen und Radiostationen beachten uns, das Feuilleton noch nicht. Bald soll allerdings das Fernsehen kommen. Es macht Spaß, ist aber kein leicht verdientes Brot. Kunst und Kinder sind nicht jedermanns Sache, schon gar nicht beides zusammen. Wir müssen uns einiges anhören. Die meiste Zeit des Tages fühlen wir uns nicht wie Künstler, sondern wie Aktivisten, die in der Fußgängerzone mittels Pantomime die Ausbeutung auf Kaffeeplantagen in Ecuador anklagen, während die Passanten denken, es handele sich um eine Therapiegruppe.
»Hier«, sagt der kleine Junge, »Mohngesicht.« Er hält Caterina eine Pappe vor die Nase, auf der ein Abdruck zu sehen ist. In seinem Gesicht klebt Fingermalfarbe. Der Abdruck auf der Pappe hat einen Stoppelbart aus Mohnstreuseln, es sieht plastisch aus. Er lacht.
»Nicht schlecht«, sagt Caterina. »Soll ich dir mal zeigen, wie man es hinkriegt, dass die Streusel wirklich kleben bleiben?«
Der Junge nickt. Caterina sieht mich an, küsst mich und steht auf. Die Kinder retten es raus.
Ich kaufe mir ein Bier und gehe nach draußen. Hinter dem Restaurant schließt ein kleines Motel an, unsere Schlafstatt der letzten zwei Tage. In solchen Etablissements leben wir jetzt. Der VW-Bus parkt vor dem kleinen Gebäude, abgewetzt, aber zuverlässig wie ein Panzer. Daneben der Kastenwagen, in dessen Motorraum Susanne gerade herumstochert. Hartmut steht dabei, ohne Aufgabe, mit hängenden Armen und krummem Rücken. Er winkt, indem er einen der hängenden Arme halb anwinkelt und auf Hosenbundhöhe mit der Hand wedelt. Dabei schielt er zu seiner bastelnden Frau. Hinter einem der Motelfenster steht ein bärtiger Mann und beobachtet die Szene. Die Türen der Zimmer führen direkt auf den Hof, wie bei Tarantino.
Ich erreiche die beiden, es riecht nach Öl.
»Auch das noch!«, sagt Susanne im Motorraum. Es klingt hohl und erinnert mich daran, wie sie damals mit dem Kopf in der Bochumer Spülmaschine steckte.
»Was?«, frage ich.
»Die Klammer vom Gaszug sieht nicht gut aus. Wenn die reißt, treten wir auf der Bahn ins Leere.«
»Aber ich denke, es geht um die Ölleitung?«, sagt Hartmut.
Susanne zieht den Kopf ein Stück heraus und sieht ihn an. »Denkst du, ein Auto kann nur ein Problem gleichzeitig haben?«
»Ich mein ja nur …« Hartmut, der sich ein wenig aufgerichtet hatte, fällt wieder in die Haltung des Mannes ohne Ahnung zurück, Arme hängend, Rücken krumm, Blick stumpf auf einen beliebigen Punkt gerichtet.
»Wo kriegen wir hier eine Gaszugklammer für einen so alten Renault her?«, fragt Susanne rhetorisch, denn an Hartmut kann die Frage nicht gerichtet sein, und ich habe zwar ein bisschen Ahnung, weiß aber auch, dass das Fahren solch alter Autos heutzutage durch das Fehlen von Ersatzteilen schwer sanktioniert wird. »Die haben hier keine Werkstatt«, sagt Susanne und legt den Finger ans Kinn, den anderen Arm auf die Karosserie aufgestützt. Sie klopft mit einem Schraubenschlüssel gegen die Ölleitung. »Und das kann auch nicht so bleiben.«
Hartmut stiert weiter stumpf, aber ich kann in seinen Pupillen sehen, dass ihn das alles nervt.
»Wir müssen in die Stadt fahren«, sagt Susanne. »Eine Werkstatt finden. Oder eine Autoverwertung.«
Ich nippe an meinem Bier und sehe im Augenwinkel, wie der bärtige Mann hinterm Fenster verschwindet. Ich rülpse.
Hartmut sagt: »Heute noch?«
Susanne zieht den Kopf aus dem Motorraum und sieht ihn an wie einen Abiturienten, der eine Sechs geschrieben hat und »Ist das schlecht?« fragt. Dann seufzt sie. »Nein, komm, ist gut. Dann eben morgen.«
Hartmut rollt mit den Augen, Susanne nimmt mir die Flasche aus der Hand und trinkt sie halb leer.
»Ich meinte doch nur«, sagt Hartmut, doch Susanne hebt die...