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E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Vanderbeke Das Muschelessen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86789-550-7
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-86789-550-7
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angespannt wartet die Familie am gedeckten Tisch auf den Vater. Mutter, Tochter und Sohn sitzen vor einem Berg Muscheln, die allein das Oberhaupt der Familie gerne isst. Um die zähe Wartezeit zu überbrücken, beginnen sie miteinander zu reden. Je mehr sich der Vater verspätet, desto offener wird das Gespräch, desto umbarmherziger der Blick auf den autoritären Patriarchen und desto tiefer der Riss, der die scheinbare Familienidylle schließlich zu zerstören droht.
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DASS ES AN DIESEM ABEND zum Essen Muscheln geben sollte, war weder ein Zeichen noch ein Zufall, ein wenig ungewöhnlich war es, aber es ist natürlich kein Zeichen gewesen, wie wir hinterher manchmal gesagt haben, es ist ein ungutes Omen gewesen, haben wir hinterher manchmal gesagt, aber das ist es sicherlich nicht gewesen, und auch kein Zufall. Gerade an diesem Tag wollten wir Muscheln essen, ausgerechnet an diesem Abend, haben wir gesagt, aber so ist es wiederum auch nicht gewesen, keinesfalls kann man von Zufall sprechen, wir haben nachträglich nur versucht, dieses Muschelessen als Zeichen oder als Zufall zu nehmen, weil das, was auf dieses ausgefallene Muschelessen dann folgte, tatsächlich von solcher Ungeheuerlichkeit gewesen ist, daß sich am Ende keiner von uns mehr davon erholt hat, und schließlich haben wir immer Muscheln gegessen, wenn es etwas Besonderes sein sollte, und dies ist etwas Besonderes gewesen, allerdings in einem ganz anderen Sinne, als wir uns vorgestellt hatten. Im Grunde ist das, was wir uns vorgestellt hatten, als wir das Muschelessen geplant hatten, im Verhältnis zu dem, was dann daraus geworden ist, von ziemlich geringfügiger Besonderheit, von einer untergeordneten jedenfalls, während das, was dann geworden ist, von erheblicher, ja, gewaltiger und außerordentlicher Besonderheit ist, aber keinesfalls kann man sagen, es ist ein Zeichen oder ein Zufall gewesen, daß es an dem Abend Muscheln hat geben sollen, was die Lieblingsspeise von meinem Vater gewesen ist, unsere ist es eigentlich nicht gewesen, nur mein Bruder hat Muscheln auch gern gegessen, die Mutter und ich haben uns nicht viel daraus gemacht. Ich mache mir nicht viel daraus, hat meine Mutter immer gesagt, während sie über die Badewanne gebeugt stand und abwechselnd ein kleines Küchenmesser und die rote Wurzelbürste in der Hand hatte, beide Hände sind knallrot gewesen, weil sie sie beim Muschelputzen unters fließende kalte Wasser gehalten hat, und dann hat sie gründlich kratzen, schrubben, bürsten und mehrfach spülen müssen, weil mein Vater nichts mehr gehaßt hat, als wenn er beim Essen auf Sand in den Muscheln gebissen hat, daß es ihm zwischen den Zähnen geknirscht hat, das hat ihn förmlich gequält. Ich mache mir eigentlich gar nicht so viel daraus, hat meine Mutter auch an dem Nachmittag gesagt und sich die eiskalten Hände gepustet, aber es ist eben doch etwas Besonderes gewesen, deshalb hat sie die vier Kilo Muscheln am Mittag auch eingekauft und gedacht, daß der Vater, wenn er am Abend von seiner Dienstreise heimkommen würde, seine Freude an einem Muschelessen haben würde, weil er das Kurzgebratene und Gegrillte, die Fleischklumpen, die es auf Dienstreisen gab, meistens satt hatte, und dann hat er sich etwas Anständiges von meiner Mutter bestellt, jedenfalls etwas Hausgemachtes, was es in diesen Tagungshotels nicht gab. Wenn mein Vater dann heimgekommen ist, hat er von diesen Tagungshotels sowieso die Nase voll gehabt, sie sind komfortabel, aber doch ungemütlich, hat er gesagt, mein Vater ist überhaupt nicht gern auf Dienstreise gefahren, er ist am liebsten bei seiner Familie geblieben, und es ist immer etwas Besonderes gewesen, wenn er hernach wieder heimgekommen ist, traditionell hat es bei uns dann Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl gegeben, manchmal auch Erbsensuppe, und mein Vater ist wegen seiner Jugend, in der es das auch gegeben hat statt der kurzgebratenen und gegrillten Fleischklumpen, wehmütig gewesen und hat es sich oft bestellt, aber Muscheln hat er sich eigentlich nie bestellt, weil sie Muscheln immer gemeinsam gemacht haben, mein Vater und meine Mutter, und es ist also von vornherein an diesem Tag eine besondere Ausnahme gewesen, daß meine Mutter allein, beide Hände knallrot unter dem fließenden kalten Wasser, die Muscheln geputzt hat, völlig normal dagegen ist es gewesen, daß sie dabei gesagt hat, ich mache mir nicht viel daraus, was sie immer gesagt hat, wenn meine Eltern zum Muschelputzen im Bad verschwunden sind, sie haben sich abgewechselt mit dem Überdie-Wanne-Beugen, damit sie nicht steif davon würden, und aus dem Badezimmer ist eine gute Stunde lang das Lachen von meinem Vater und ein Quietschen von meiner Mutter herausgeschallt, ganz früher haben sie manchmal »Brüder zur Sonne zur Freiheit« gesungen, was sie drüben gelernt hatten und immer haben singen müssen, »Völker hört die Signale« und all das, meine Mutter mit ihrem Sopran und mein Vater mit seinem Bariton, aber später dann, in der Firmensiedlung, haben sie nicht mehr gesungen. Wenn sie beide mit hochroten Händen herausgekommen sind, ist ihnen wegen der übermütigen Laune, die sie dort drinnen gehabt hatten, etwas schamig zumute gewesen, aber in der Küche ist das Herumgealbere weitergegangen, und nach und nach haben wir herausbekommen, daß mein Onkel, zu dem sie ihre verspätete Hochzeitsreise gemacht hatten, ein Muschelessen für sie gekocht hatte, was sie nicht gekannt haben, weil es natürlich im Osten keine Miesmuscheln gab, daß das also etwas Fremdartiges für sie gewesen sein muß, und dann haben sie daran auch eine gewisse Anzüglichkeit entdeckt, etwas Frivoles, und immer geschäkert, wenn es Muscheln gab, wegen dieser verspäteten Hochzeitsreise ans Meer ist das Schäkern beim Muschelessen bei uns normal gewesen. Und zwar bis zu diesem Tag, von dem es von vornherein feststand, daß er ein besonderer, sozusagen historischer Tag würde in der Familiengeschichte, weil die diesmalige Dienstreise meines Vaters der letzte Meilenstein auf dem Weg zur Beförderung gewesen sein sollte, keiner von uns hat daran gezweifelt, daß mein Vater Erfolg haben würde, wochenlang sind wir am Wochenende mucksmäuschenstill gewesen, weil mein Vater den Vortrag geschrieben und eigenhändig mehrfarbige Folien dazu gemalt hat, wir haben immer gesagt, wie schön diese Folien geworden sind, nun, wie findet ihr sie, hat mein Vater gefragt, und wir haben immer wieder gesagt, wie besonders schön wir sie finden, außerdem haben wir alle gewußt, daß mein Vater im Vorträgehalten brillant und stets außergewöhnlich erfolgreich gewesen ist, mein Vater hat bekanntermaßen außergewöhnliche didaktische Fähigkeiten in diesen Vorträgen entwickelt, auf die er sehr stolz gewesen ist, und dann hat er vor Publikum eine gewinnende und einnehmende Art gehabt, einen Charme, das ist zu seiner Kompetenz hinzugekommen, die er auf einem der schwierigsten und heikelsten Gebiete der Naturwissenschaften vorweisen konnte, aber durch diese einnehmende Art vor dem Publikum hat die Kompetenz nicht so streng gewirkt, und die Leute sind regelmäßig begeistert von seinen Vorträgen und meinem Vater im allgemeinen gewesen. Daß mein Vater an dem Abend so gut wie befördert die Wohnung betreten würde – natürlich noch nicht offiziell, aber man hätte ihm das sofort von oben her signalisiert –, das war der besondere Anlaß, für den meine Mutter, das kleine Küchenmesser und die Wurzelbürste abwechselnd in der knallroten Hand, vier Kilo Muscheln Stück für Stück unter eiskaltes Wasser hielt und kratzte und schrubbte und mehrfach spülte, weil mein Vater es nicht gut leiden konnte, wenn ihm der Sand zwischen den Zähnen knirschte. Dabei hat sie lustig geschimpft, daß sie sich nicht so viel daraus macht, und über ihr krummes Kreuz gejammert, aber helfen haben wir nicht dürfen, laßt nur, wenn hinterher Sand drin ist, seid jedenfalls ihr nicht schuld, hat meine Mutter gesagt, aber wir haben dafür die Pommes Frites schneiden dürfen, die immer zu Muscheln dazugehören und woraus nun wiederum ich mir nicht viel gemacht habe, obwohl meine Mutter die beste Pommes-Frites-Macherin ist, die ich kenne, mein Bruder mag für sein Leben gerne Pommes Frites, und er hat auch immer gesagt, die sind unübertroffen, einmal hat er sogar alle Freunde, die das bezweifelt und ihn deswegen verspottet haben, zu uns nach Hause eingeladen, was bei uns sonst nicht üblich war, und meine Mutter hat Pommes Frites für sie alle gemacht, sie haben begeistert und überzeugt alles aufgegessen, und mein Bruder ist sehr stolz auf meine Mutter gewesen; seitdem haben wir ihr manchmal schnippeln geholfen, und an dem Abend haben wir also Kartoffeln geschält und in Stäbchen geschnitten, und dabei sind wir allmählich aufgeregt geworden. Hinterher haben wir gesagt, von da an sind wir unruhig gewesen, von da an haben wir etwas geahnt, man weiß ja hinterher erst, was kam; aber es kann genausogut sein, daß wir nur einfach aufgeregt waren, weil wir gewartet haben, wir sind immer aufgeregt gewesen, wenn wir auf meinen Vater gewartet haben, es ist immer eine Spannung dabei gewesen, im nachhinein übertreibt man vielleicht, vielleicht haben wir nichts geahnt, meinem Bruder zum Beispiel ist nichts davon aufgefallen, während uns beiden anderen mindestens unruhig zumute war, nun sind aber wir, meine Mutter und ich, sowieso die unruhigen, während mein Bruder immer erst unruhig wird, wenn es gar nicht mehr anders geht, bis dahin kann er gelassen alle Indizien und alles Beunruhigende übersehen. Ich jedenfalls kann mich genau erinnern, wann bei mir die unruhige Erwartungsstimmung umgeschlagen ist, ich habe nämlich in dem Moment auf die Uhr...