E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Vigan Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8321-7080-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8321-7080-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman >No & ich< (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman >Nach einer wahren Geschichte< (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihre Romane >Dankbarkeiten< (2019) und >Das Lächeln meiner Mutter< (2020). Die Autorin lebt mit ihren
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Mathilde hat lange nach dem Ausgangspunkt gesucht, dem Anfang, dem allerersten Anfang, dem ersten Indiz, dem ersten Bruch. Sie nahm es noch einmal in umgekehrter Reihenfolge durch, Schritt für Schritt ging sie zurück und versuchte zu verstehen. Wie es dazu gekommen war, wie es angefangen hatte. Und jedes Mal kam sie zum selben Punkt, zum selben Datum: die Präsentation einer Studie an einem Montagvormittag Ende September.
Am Anfang von allem steht diese Sitzung, so absurd es auch erscheinen mag. Davor ist nichts. Davor war alles normal, ging alles seinen Gang. Davor war sie die Stellvertreterin des Marketingleiters im Haupttochterunternehmen für Ernährung und Gesundheit eines internationalen Nahrungsmittelkonzerns. Seit mehr als acht Jahren. Sie ging mit den Kollegen Mittag essen und zweimal in der Woche zur Gymnastik, nahm keine Schlafmittel, weinte weder in der Metro noch im Supermarkt und brauchte keine drei Minuten, um die Fragen ihrer Kinder zu beantworten. Sie ging zur Arbeit wie alle anderen auch, ohne sich jeden zweiten Tag beim Aussteigen aus dem Zug übergeben zu müssen.
Reicht das schon, eine Sitzung, damit alles kippt?
An jenem Tag hatten Jacques und sie die Mitarbeiter eines renommierten Instituts im Haus, die ihnen die Ergebnisse einer zwei Monate zuvor in Auftrag gegebenen Studie über das Konsumverhalten und die Konsumenteneinstellung auf dem Diätproduktemarkt vorstellen sollten. Über die Methodik hatte es einige interne Diskussionen gegeben, insbesondere was den prospektiven Teil anging, auf dessen Grundlage wichtige Investitionsentscheidungen getroffen werden sollten. Schließlich hatten sie sich für zwei komplementäre Ansätze entschieden, einen qualitativen und einen quantitativen, und mit beiden dasselbe Unternehmen betraut. Mathilde hatte für die Betreuung dieses Projekts nicht jemanden aus dem Team bestimmt, sondern es lieber selbst übernommen. Es war die erste Zusammenarbeit mit diesem Institut, dessen Forschungsmethoden noch relativ neu waren. Sie hatte an den Sitzungen der Gruppe teilgenommen, war hingefahren, um persönlich bei den Gesprächen anwesend zu sein, sie hatte die Online-Fragebögen selbst getestet und verlangt, dass vor der Zusammenfassung der Ergebnisse Kreuzsortierungen vorgenommen wurden. Sie war sehr zufrieden gewesen mit dem Arbeitsverlauf und hatte Jacques laufend informiert, wie sie es bei der Zusammenarbeit mit einem neuen Partner immer schon gemacht hatte. Für die Vorlage der Ergebnisse war ein Termin vereinbart worden, dann noch einer, doch Jacques hatte beide in letzter Sekunde verschoben, weil er zu viel um die Ohren hatte. Er wollte unbedingt dabei sein. Schon allein die Höhe des Budgets rechtfertigte seine Anwesenheit.
Am Tag der Präsentation war Mathilde früher im Büro, um den Raum aufzuschließen und sich zu vergewissern, dass der Projektor funktionierte und die Kaffeetabletts bereitstanden. Der Chef des Instituts kam persönlich, um die Ergebnisse vorzustellen. Mathilde hatte das gesamte Team eingeladen, die vier Produktchefs, die beiden Studienbeauftragten und den Statistiker.
Sie verteilten sich um den Tisch, und Mathilde wechselte ein paar Worte mit dem Leiter des Instituts, Jacques war noch nicht da. Jacques verspätete sich immer. Endlich kam er doch in den Raum, ohne ein Wort der Entschuldigung, nachlässig rasiert und mit angespannten Zügen. Mathilde trug ein dunkles Kostüm und die helle Seidenbluse, die sie so mag, daran erinnert sie sich seltsam genau, auch an die Kleidung des Mannes erinnert sie sich, an die Farbe seines Hemds, an den Ring an seinem kleinen Finger und an den Stift in der Brusttasche seiner Jacke, als hätte ihr Gedächtnis ohne ihr Wissen und noch bevor ihr die Bedeutung dieses Zeitpunkts und der durch nichts wiedergutzumachenden Geschehnisse bewusst wurde, auch noch die unbedeutendsten Einzelheiten gespeichert. Nach dem Vorstellungsritual begann der Leiter des Instituts mit seinem Vortrag. Er war bestens mit der Materie vertraut, er hatte sich nicht, wie so viele, darauf beschränkt, eine halbe Stunde vorher die Ausarbeitungen seiner Mitarbeiter zu überfliegen, er kommentierte die Schaubilder, ohne sich auf irgendwelche Notizen zu stützen, und drückte sich dabei auch noch außerordentlich klar aus. Der Mann war brillant. Und hatte Charisma. Das war selten. Er strahlte eine Art Überzeugung aus und fesselte damit die Aufmerksamkeit der Anwesenden, das spürte man sofort an der Art, wie das Team ihm zuhörte, intensiv und ohne die störenden halblauten Randbemerkungen, die solche Sitzungen sonst gern begleiteten.
Mathilde betrachtete die Hände dieses Mannes, daran erinnert sie sich, die ausholenden Bewegungen, mit denen er seine Worte begleitete. Sie fragte sich, woher er diesen leichten, kaum wahrnehmbaren Akzent hatte, diesen einzigartigen Beiklang, den sie einfach nicht zuordnen konnte. Sie spürte sehr bald, dass Jacques gereizt auf den Mann reagierte, wahrscheinlich weil dieser jünger war, größer und mindestens ebenso redegewandt wie er. Sie spürte sehr bald, dass Jacques sich versteifte.
Mitten im Vortrag zeigte Jacques die ersten Zeichen von Ungeduld, er seufzte demonstrativ auf und deutete durch lautes »Ja, ja« an, es gehe zu langsam voran und das Gesagte sei längst bekannt. Dann fing er an, so konzentriert auf seine Armbanduhr zu starren, dass seine Ungeduld nicht mehr zu übersehen war. Das Team ließ sich nichts anmerken, es kannte seine Launen. Später, als der Leiter die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung vorlegte, äußerte sich Jacques erstaunt darüber, dass deren Signifikanz nicht in den bereits gezeigten Grafiken dargelegt worden sei. Darauf hatte der Leiter mit ein wenig affektierter Höflichkeit erklärt, in den Grafiken seien nur die Ergebnisse mit einer Signifikanz von mehr als 95Prozent abgebildet worden. Nach dem Vortrag ergriff Mathilde in ihrer Eigenschaft als Auftraggeberin das Wort und dankte dem Institut für seine Arbeit. Auch Jacques hätte etwas sagen müssen. Sie drehte sich zu ihm um, begegnete seinem Blick und begriff sofort, dass er kein Dankeswort verlieren würde. Zu anderen Zeiten hatte er ihr eingeschärft, wie wichtig es sei, ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Vertrauensverhältnis zu den externen Leistungserbringern aufzubauen.
Mathilde stellte die ersten Fragen, die nur ein paar Einzelheiten betrafen, und eröffnete dann die allgemeine Diskussion.
Jacques meldete sich als Letzter zu Wort, schmallippig und mit dieser extremen Selbstsicherheit, die sie gut an ihm kannte, um die in der Studie enthaltenen Empfehlungen eine nach der anderen zu zerpflücken. Die Verlässlichkeit der Ergebnisse stellte er keineswegs in Frage, wohl aber die Schlüsse, die das Institut daraus gezogen hatte. Das war geschickt. Jacques war bestens mit dem Markt, der Markenidentität und der Firmengeschichte vertraut. Dennoch hatte er unrecht.
Mathilde hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, einer Meinung mit ihm zu sein. Vor allem, weil sie eine ganze Reihe von Überzeugungen teilten, aber auch, weil sie schon in den ersten Monaten ihrer Zusammenarbeit zu dem Schluss gekommen war, dass es sowohl bequemer als auch effizienter war, wenn sie seiner Meinung zustimmte. Sich ihm entgegenzustellen war völlig nutzlos. Allerdings gelang es Mathilde immer, ihre Gründe und eigenen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen, was ihn manchmal bewogen hatte, seine Meinung zu ändern. Doch an jenem Tag erschien ihr Jacques’ Haltung derart ungerecht, dass sie einfach noch einmal das Wort ergreifen musste. Wie als Hypothese und ohne ihm direkt zu widersprechen, legte sie dar, inwiefern die vorgeschlagenen Maßnahmen in Anbetracht der Marktentwicklung und der anderen, konzernintern durchgeführten Studien ihrer persönlichen Ansicht nach eine genauere Betrachtung verdienen könnten.
Jacques sah sie lange an.
In seinen Augen las sie nur Erstaunen.
Er beharrte nicht auf seinem Standpunkt.
Daraus folgerte sie, er habe sich ihren Argumenten angeschlossen. Sie begleitete den Leiter des Instituts zum Fahrstuhl.
Es war nichts geschehen.
Nichts Schlimmes.
Sie brauchte mehrere Wochen, um auf diese Szene zurückzukommen, sie sich vollständig ins Gedächtnis zu rufen, sich klarzumachen, wie sehr jedes Detail in ihr Gedächtnis eingebrannt war, die Hände des Mannes, die Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, wenn er sich vorbeugte, Jacques’ Gesicht, was er gesagt hatte, was ungesagt geblieben war, die letzten Minuten der Sitzung, die Art, wie der Mann ihr zugelächelt hatte, der Ausdruck von Dankbarkeit auf seinem Gesicht, die Art, wie er seine Sachen eingepackt hatte, ohne Eile. Jacques hatte den Sitzungssaal grußlos verlassen.
Später fragte Mathilde Éric, wie er diese Situation wahrgenommen habe: Sei sie verletzend gewesen oder kränkend, habe sie Grenzen überschritten? Leise antwortete Éric, an jenem Tag habe sie sich so verhalten, wie es sonst niemand aus dem Team gewagt hätte, und das sei gut so.
Mathilde kam auf diese Szene zurück, weil sich Jacques’ Haltung ihr gegenüber verändert hatte, weil danach nichts mehr so war wie vorher, weil danach ein langsamer Zerstörungsprozess begonnen hatte, den sie erst nach Monaten in Worte fassen konnte.
Doch jedes Mal stellte sie sich wieder diese Frage: Reichte das aus, damit alles kippte?
Reichte das schon aus, damit ihr gesamtes Leben von einem unsichtbaren, absurden und von vornherein verlorenen Kampf verschlungen wurde?
Der Grund dafür, dass sie so lange brauchte, um sich einzugestehen, was da geschah, welches Räderwerk sie in Gang gesetzt hatte, war die Tatsache, dass Jacques sie bis dahin immer unterstützt hatte. Von Anfang an arbeiteten sie zusammen, vertraten sie gemeinsame Standpunkte, waren sie sich einig in ihrem Wagemut, einer...




