Weihs Das grenzenlose Und
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-627-02230-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Reihe: Debütromane in der FVA
ISBN: 978-3-627-02230-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sandra Weihs, 1983 in Klagenfurt geboren, studierte Sozialarbeit im städtischen Raum und lebt in Oberösterreich und Wien. Sie arbeitet mit sozial benachteiligten Kindern, Jugendlichen und Familien. Außerdem engagiert sie sich politisch in ihrer Heimatgemeinde im oberösterreichischen Vöcklamarkt. »Das grenzenlose Und« ist ihr Romandebüt. »Ein erstaunliches Debüt einer Dreißigjährigen: eine packende, ja beklemmend realistische, harte Erzählung über junge Menschen heute, in sehr direkter Sprache - es geht darin um den Tod, also auch und vor allem um das Leben.« (Aus der Jury-Begründung zum Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung) »Sandra Weihs ist eine Erscheinung. Einer dieser Rilke'schen Engel. Das Schreckliche und das Schöne in totaler gegenseitiger Bedingung. Vor ihr kann man sich nur verneigen.« (Andreas Maier) »Ein kluger, erfahrungsgesättigter Roman über die Identitätsfindung einer jungen Frau.« (Der Tagesspiegel)
Autoren/Hrsg.
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Mit nassen Haaren, ohne Unterwäsche und wilden Augen stehe ich vor Jonnys Tür und klingle. Gähnend, mit zerzaustem Haar und nur mit Boxershorts bekleidet, öffnet er die Tür zur verdunkelten Einzimmerwohnung. Ich spähe über seine Schulter zu seinem Bett und prüfe, ob er Damenbesuch hat. Ich kann niemanden entdecken.
»Ich brauche ein Versteck. Kann ich reinkommen?«
Widerstandslos tritt er aus der Tür, und ich folge ihm in das verrauchte, sauer riechende Zimmer.
»Lass mich raten: Hunderte von Männern laufen dir hinterher, und du flüchtest dich zu dem, der es am besten kann.«
Er setzt sich auf die Bettkante, auf einem kleinen Tisch stehen leere Bier- und Coladosen und ein voller Aschenbecher. Asche und Tabak sind auf der gesamten Tischplatte verteilt, und ich entdecke eine Mischschale. Auf dem Boden liegen Kleider, und eine bräunlich angetrocknete Klopapierrolle steht in einem dunklen, vertrockneten Fleck. Mein Telefon läutet. Ich krame es aus der Tasche. »WG« erscheint auf dem Display. Ich würge den Anruf ab und schalte das Handy aus.
»So ähnlich«, lenke ich ab.
»Hast du auf den Boden gepisst?«
Jonny folgt meinem Blick und lacht.
»Nein, das war Cola.«
Er klaubt den halb aufgerauchten Joint aus dem Aschenbecher, zündet ihn an und nimmt zwei tiefe Züge. Dann klopft er neben sich auf die Matratze, und ich setze mich zu ihm. Jonny streckt mir den Joint entgegen, und ich rauche. Er legt die Hand auf meine Hüfte, zieht mich zu sich, und ich werde ruhig. Es ist, als ob die Wärme seiner Hand von der Hüfte in mein Hirn fahren würde, um dort die kalten, rasenden Gedanken zu beschwichtigen. Er küsst mich. Ich drücke ihn nach hinten aufs Bett und setze mich auf ihn. Dann vögeln wir lange und laut. Bekifft kann Jonny länger als betrunken.
Als Jonny am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kommt, staunt er über das saubere Zimmer.
»Hier riecht es nach … Weihnachten?«
»Ich habe nur Tannenöl für die Duftlampe gefunden.«
»Ich wusste nicht, dass ich so etwas überhaupt habe.«
Langsam wandert er durch das Zimmer, begutachtet das frisch bezogene Bett, das aufgeräumte und abgestaubte Regal, das abgewaschene Geschirr in der Küchenzeile. Der Glastisch ist poliert, die Müllsäcke bereits entsorgt.
»Wo ist mein Zeug?«
Ich zeige auf eine Lade, in der ich das in einer Plastikdose verschlossene Gras verstaut habe, stehe dann auf, hole den fertig gedrehten Joint aus dem Regal und halte ihm die Tüte vor die Nase. Er grinst, schnuppert daran, streift sich die Schuhe von den Füßen, zieht sich den Pullover über den Kopf und lässt ihn auf den Boden fallen. Ich hole zwei Bier aus dem Kühlschrank, während er sich schwungvoll aufs Bett wirft und den Joint anraucht. Wenn er inhaliert, wird sein Brustkorb weit und seine Muskeln zeichnen sich unter dem Shirt ab. Es gibt Menschen, die sehen gut aus, einfach nur, weil sie es in die Wiege gelegt bekommen haben.
»Willst du hier einziehen? Wenn du mir jetzt auch noch ein Schnitzel zauberst, darfst du das gerne«, sagt er beim Ausatmen.
Ich ziehe ihm ein Kissen über den Schädel. Er schreit dramatisch und laut, um mir eine Freude zu machen. Ich lege mich an seine Seite.
»Wie wäre es mit einem einfachen Danke?«
Da rollt er sich auf mich, sein Körper lastet mit all seinem Gewicht auf mir. Unter ihm zu liegen, seine Schwere zu spüren, ist ein angenehmes Gefühl. Es ist, als wäre ich am richtigen Platz, als würde er wollen, dass ich hier liege, und als würde er mich nie wieder weglassen.
»Lass mich dir danken.«
Er öffnet meine Hose, reißt sie wild herunter und dringt hart in mich ein.
»Vor wem versteckst du dich eigentlich?«
»Vor allen.«
»Musst du nicht Bescheid geben, in der WG?«
»Scheiß drauf.«
»Soll ich anrufen?«
»Wehe dir!«
»Was willst du denn eigentlich von mir?«
»Dass du den Mund hältst und mich hin und wieder fickst.«
Wohin soll ich gehen? In die Welt. Was ist die Welt? Die Welt ist alles, was ich sehe, fühle, denke, erfahre. Die Welt ist schlecht und will gut sein, die Welt ist klar und konkret, ich kann sie anfassen, sie spüren, in ihr leben, in sie hineinleben, aber sie sagt nichts, sagt mir nicht, was sie von mir will. Die Menschen in der Welt sprechen mit mir, sagen mir, das ist gut, das ist schlecht, aber ich glaube ihnen nicht. Niemandem glaube ich. Ich glaube mir auch nicht. Ich glaube nicht an gut und schlecht. Ich glaube, es gibt ein Dazwischen. Es gibt gut UND schlecht. Vor allem das UND gibt es. Und das ist grenzenlos, weil es verbindet, und immer alles ist, weil es das Dazwischen ist und in das Gute und das Schlechte eindringt und deren Grenzen sprengt, deswegen ist die Welt das grenzenlose Und. Wenn der eine meint, etwas ist gut, kann der andere meinen, dasselbe ist schlecht. Wie soll man sich da auskennen? Die Welt ist ein Dazwischen. Mich zerreißt dieses Dazwischen. Für sich selbst muss man wissen, was gut und was schlecht ist, um zu erkennen, wo man steht, und um ein Ganzes zu bleiben. Aber ich weiß das nicht. Ich bin nicht gut und nicht schlecht, ich bin das Und. Ich könnte überall sein. Aber nirgends passe ich wirklich hin. Die Welt ist zu groß und die Plätze auf ihr sind zu klein. Ich will doch nur gut sein. Und sonst nichts.
»Was machst du da? Schneidest du dich?«
»Wieso bist du schon da?«
»Sag, spinnst du, tu die Rasierklinge weg!«
»Ist nicht tief.«
»Leck mich am Arsch. Du bist ja total irre.«
»Das magst du doch an mir. Komm, heute bin ich wieder oben.«
Was könnte man an mir lieben? Bin ich schön? Wenn man mich ansieht, was sieht man dann? Ich bin lustig und zornig. Ich bin dünn und gering. Ich kann flirten. Ich kann jemandem das Gefühl geben, dass er wichtig ist. Dass er gut ist. Dass er gebraucht wird, wenn ich das will. Aber ich will keinem zeigen, dass ich ihn brauche. Ich brauche niemanden. Das einzig Gute an mir ist doch gerade, dass ich niemanden brauche. Jeder kann mit mir sein, wenn er will, und gehen, wann er mag. Warum sollte jemand bei mir bleiben? Weil ich lustig bin? Das ist zu wenig. Lustiges sieht man auch im Fernsehen. Lustig ist sowieso jeder, auf seine eigene komische Art. Warum könnte mich jemand lieben? Ich bin nicht schön. Sex mit mir ist sicher gut. Ich mag Sex. Sex mit Jonny ist gut. Dann will er bei mir sein. Aber will er bei mir bleiben? Was kann ich ihm geben, was braucht er, damit er bei mir bleibt? Ich muss das finden in mir, was er braucht. Ich kann die Frau werden, die er braucht. Will ich gebraucht werden? Wenn dich jemand braucht, ist er abhängig von dir. Ich will nicht, dass jemand abhängig ist von mir. Ich will meine Ruhe haben, ich will nicht für jemanden werden, was ich nicht bin. Aber wer bin ich? Bin ich denn nicht immer nur das, was andere in mir sehen? Eine lustige, aber zornige Frau, eine schmale, eine geringe Person, eine, die niemanden braucht und nicht gebraucht werden will, eine, die so vieles ist und die alles sein könnte, sogar jemand, der braucht und gebraucht wird. Ich bin alles und doch nichts. Man kann nicht alles lieben. Man kann nicht nichts lieben.
»Rede mit mir. Du kannst mir vertrauen! Wovor läufst du weg?«
»Vor Leuten, die mir sagen wollen, was ich zu tun habe.«
»Aber Weglaufen ist doch keine Lösung. Solltest du nicht mit denen reden?«
»Sagst du mir jetzt auch noch, was ich tun soll?«
»Ich will nur mit dir reden.«
»Nein, du willst mir sagen, was ich tun soll!«
Was soll ich tun? Wenn ich etwas tue, muss das doch irgendeinen Sinn haben. Aber was hat Sinn? Außerdem, wer weiß schon, was in letzter Instanz tatsächlich zählt. Was der letzte Sinn ist. Niemand kann sagen, ob es tatsächlich überhaupt irgendeinen Sinn gibt. Es kann sein, dass der Sinn darin liegt, nichts zu tun. Damit man leer wird. Oder alles zu tun. Damit man voll wird. Vielleicht liegt der Sinn auch in etwas Abstraktem, etwas, das man mit dem Hirn gar nicht erfassen kann. Oder in etwas Absurdem, was man nicht erklären kann. Vielleicht liegt der Sinn in einem Apfel. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und wenn man stirbt, denkt man, jetzt begreife ich, der Sinn ist Apfel. Aber wenn man stirbt, denkt man nicht mehr. Also kann man nicht mehr Apfel denken oder Apfel fühlen, und vielleicht ist dann nur noch Sinn und immer noch alles unklar und überhaupt, wie soll man jemals begreifen, wenn vor dem Sterben nichts vom Sinn erfahren werden kann und im Tod dann nur noch Sinn ist und nichts anderes mehr, womit man ihn vergleichen kann.
Als Jonny kommt, brate ich gerade das letzte Schnitzel.
Mein Timing ist nicht perfekt, die Pommes sind schon wieder kalt, aber der Tisch ist gedeckt und Jonny kann sofort essen.
»Guten Abend, Schatz!«, sage ich mit der Stimme einer liebenden Ehe- und Hausfrau aus den Fünfzigern.
»Wie war dein Tag, Schatz? Das Essen steht auf dem Tisch, Schatz! Was möchtest du trinken, Schatz?«
»Mein Bier, Weib!«, grölt er im Stil eines furchtbaren Ehemannes und Alkoholikers und macht damit unser Rollenspiel perfekt. Ich lache ihn an und er lacht zurück, aber seine Augen lachen nicht mit.
Ich lege ihm ein Schnitzel auf den Teller und stelle das Bier daneben. Er setzt sich und starrt das Fleisch an.
»Mahlzeit«, sage ich mit vollem Mund und versuche, ihn noch einmal mit einem Lächeln zu erreichen. Aber Jonny scheint weit weg zu sein.
»So geht das nicht weiter, Marie«, sagt er plötzlich...