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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 8, 511 Seiten

Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism

Weissmann Wortöffnungen

Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-381-11983-7
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans

E-Book, Deutsch, Band 8, 511 Seiten

Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism

ISBN: 978-3-381-11983-7
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie kaum ein anderer Schriftsteller fühlte sich Paul Celan an das Deutsche gebunden. Doch wie selten ein Dichter vor ihm integrierte er eine Vielzahl anderer Sprachen in seine literarische Praxis. Die Bedeutung dieses Schreibens ,zwischen' den Sprachen lässt sich aus seiner Biographie, seinem Werk und seiner Poetik herleiten und anhand vieler Textbeispiele veranschaulichen. Auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Formen sind ein Dutzend Sprachen in Phänomene des Sprachwechsels, der Sprachmischung und der Sprachreflexion involviert. In dieser Studie wird erstmals der Versuch unternommen, Paul Celans Mehrsprachigkeit differenziert in ihrer ganzen Breite und Tiefe darzustellen. Dabei wird sichtbar, dass die translinguale Schreibpraxis des Dichters den Kristallisationspunkt seines distanziert-kritischen, Verhältnisses zur deutschen Muttersprache darstellt. Als Trägersprache der Judenvernichtung wird das Deutsche seiner Lyrik multilingual ,anreichert', verfremdet und dekonstruiert, wodurch eine Poetik der ,Wortöffnungen' sichtbar wird.

Dirk Weissmann, geboren 1973 in Wiesbaden. Studium in Mainz, Lausanne und Paris. Lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Frankreich. Autor zahlreicher Publikationen im Bereich Neuere Deutsche Literatur, Interkulturelle Literaturwissenschaft, literarische Mehrsprachigkeits- und Übersetzungsforschung. Professor für deutsche Sprache und Literatur am Centre de Recherches et d'Études Germaniques der Universität Toulouse und assoziierter Forscher am Institut des Textes et Manuscrits Modernes beim Centre National de la Recherche Scientifique in Paris.
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1.1 Celans Sprache(n)


1.1.1 Celan und das Deutsche


In einem ihrer jüngeren Aufsätze schreibt Barbara Wiedemann: »Sich mit Paul Celan befassen heißt […], sich mit dem Deutschen befassen«. Gemeint ist hiermit die Beziehung von Celans Dichtung zur deutschen Sprache, zu sprachlichen Normen und Traditionen sowie zu bestimmten Vorstellungen von sprachlicher ›Reinheit‹, Regelhaftigkeit und Zugehörigkeit. Mit ihrer Aussage verweist die Celan-Herausgeberin und -Kommentatorin auf die häufig gestellte, jedoch äußerst heikle Frage, wie ›deutsch‹ die Sprache des Dichters eigentlich ist. Diese Frage wird zunächst durch die Exterritorialität von Celans Werk motiviert, dessen polyglotter Autor bekanntlich aus der rumänischen Bukowina stammte und nach Zwischenstationen in Bukarest und Wien seine deutschen Gedichte als französischer Staatsbürger in der Wahlheimat Paris schrieb. Darüber hinaus fußt diese Problematik auf Celans spezifischem und unverwechselbarem poetischem Idiom, seinem »vielschichtige[n], vielstimmige[n] Deutsch«, das als singulärer Idiolekt relativ wenig mit dem »Gesamtdeutsch« (Mikrolithen, 28), d. h. der zum supranationalen Standard erklärten bundesdeutschen Varietät, gemein hat. Das Einzigartige von Celans Deutsch, der Basissprache seiner Dichtung, wurde neben den vielfältigen, biographisch determinierten Sprachkontakten und -einflüssen- nicht zuletzt durch die intensive Übersetzungsarbeit geprägt, die sein Schreiben von Anfang an und durch alle Lebensstationen hindurch begleitet hat.

Das Deutsch der Gedichte Paul Celans gilt allgemein als »merkwürdig«, wenn nicht gar befremdlich. Stellvertretend für viele deutschsprachige Leser nicht nur seiner Generation hat Klaus Reichert, Lektor des Autors beim Suhrkamp Verlag und späterer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seine erste Begegnung mit dieser Lyrik wie folgt charakterisiert: »[H]ier [war] eine Sprache gefunden, die an nichts anknüpfte, was ich kannte, die wie aus einer anderen Welt kam, obwohl sie deutsch war«. Dieser frühe Leseeindruck sollte sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte immer wieder bestätigen – im deutschsprachigen Raum wie auch im Ausland. Für die Gegenwart könnte als prominentes Beispiel die Tatsache angeführt werden, dass ein so begnadeter Schauspieler wie Jens Harzer beim Rezitieren mancher Celan-Texte deutlich an seine Grenzen stößt, wie er es bei der Aufnahme seiner Lesung ausgewählter Gedichte immer wieder freimütig signalisiert.

Auch aus der Sicht geübter, ja professioneller Leser, so wird hier deutlich, erscheinen diese Gedichte als sprachlich durchaus ›widerständig‹. In Anlehnung an Oskar Pastiors berühmtes Hölderlin-Diktum liegt es daher nahe zu sagen, das Idiom namens ›Celan‹ sei »eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache«. Der mehrsprachige Lyriker und Celan-Kenner Peter Waterhouse spricht in dieser Hinsicht von dem »andersalsdeutschem Deutsch« des Dichters. Und der amerikanische Poet und Celan-Übersetzer Charles Bernstein, von dem weiter unten ausführlicher die Rede sein wird, merkt seinerseits an: »Celan’s poems are not so much in German as German.« Distanz zur Muttersprache und Verwandlung des Deutschen sind der gemeinsame Nenner dieser Aussagen. Die Vorstellung einer solchen speziellen ›Arbeit‹ des Dichters an der deutschen Sprache bildet einen der Leitfäden der vorliegenden Studie. In der Forschungsgeschichte taucht sie zuvorderst unter solchen Begriffen wie »Meta-Deutsch« oder »Gegensprache« auf. Im Extremfall gipfelt sie in der latent esoterischen Konzeption vom ›Celanischen‹ als eigener (Fremd-)Sprache, die der Leser erst erlernen müsse, womit der Zugang zu den Gedichten prinzipiell den Spezialisten vorbehalten sei. Häufiger trifft man sie jedoch in Gestalt von Stichwörtern wie ›Wortschöpfung‹, ›Neologismus‹, ›Sprachspiel‹ und ›Hermetik‹ an. Dieser Diskurs durchzieht die Aufnahme von Celans Werk von ihren Anfängen bis heute.

Als ›heikel‹ ist die Frage nach Celans Deutsch insofern zu bezeichnen, als sie nicht nur auf das vom Dichter hervorgehobene »schicksalhaft Einmalige der Sprache« (GW III, 175) und die im Umfeld seiner Büchner-Preis-Rede (1960) entwickelte Vorstellung vom Gedicht als »Sichrealisieren der Sprache durch radikale Individuation« (Mikrolithen, 148) verweist. Vielmehr war ihre Formulierung in der Rezeptionsgeschichte von Anfang an mit Ausgrenzungsstrategien verbunden, deren ideologische, ja antisemitische Untertöne kaum zu übersehen sind. Gerade in Dokumenten der frühen Aufnahme seines Werks wurde über den Topos von Celans ›fremd‹ wirkenden sprachlichen Idiosynkrasien immer wieder suggeriert, der jüdische Dichter und Holocaust-Überlebende sei nicht wirklich Teil der deutschen Literatur und Kultur. Für solche diffamierende Zurückweisungen seitens des bundesdeutschen Literaturbetriebs der 1950er und -60er Jahre gibt es eine große Zahl von Beispielen, die erstmals in der umfangreichen Dokumentation zur sogenannten Goll-Affäre zusammengestellt wurden.

Fragwürdiger Berühmtheit erfreut sich in dieser Hinsicht insbesondere Günther Blöckers Rezension des Gedichtbandes , die am 11. Oktober 1959 im Berliner erschien. In dieser Besprechung von Celans aus heutiger Sicht »wichtigste[r] Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache« bezeichnet der Journalist, der es später immerhin bis zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bringen sollte, Celans Gedichte als »graphische Gebilde« und »kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier«, wobei er die ihnen unterstellte Beliebigkeit, ja Sinnlosigkeit insbesondere auf die »Herkunft« ihres Autors zurückführt:

Celan hat der deutschen Sprache gegenüber größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade deshalb oft verführt, im Leeren zu agieren.

Dieser in der heutigen Forschung berüchtigte Artikel hatte verheerende Auswirkungen auf Celans Psyche und darf als eine der tiefsten Kränkungen und seelischen Verletzungen bezeichnet werden, die dem Dichter je zugefügt wurden. Dass man Texte wie »Engführung« (GW I, 195ff.) als artistische Sprachexperimente mit fehlendem Realitätsbezug (»im Leeren […] agieren«) abqualifizieren konnte, empfand er als regelrechten Anschlag auf seine Existenz als Dichter und Überlebender. Im Nachlassgedicht »Wolfsbohne« (GW VII, 45ff.), das der Lyriker unter dem direkten Eindruck der Rezension schrieb, wird Blöckers Kritik über das Motiv des Mordanschlags auf seine Person und sein Werk sowie des Versuchs der nochmaligen Tötung seiner während der Judenvernichtung ermordeten Eltern verarbeitet. Für einen jüdischen Autor, der »Todesfuge« (GW I, 41f.) als »Grabschrift« für seine eigene Mutter bezeichnet und die meisten seiner Gedichte als »Textgräber« zur nachträglichen Bestattung der als Asche spurlos verschwundenen Opfer konzipiert hat, glich der Vorwurf formalistischer Beliebigkeit (vgl. »Exerzitien«) schlicht einer symbolische Grabschändung infamster Art.

Die von Blöcker verwendeten Argumente, die teilweise an frühere Rezensionen von Kritikerkollegen anschließen, wurden von Celan als antisemitisch wahrgenommen, was viele Zeitgenossen – darunter selbst enge Freunde – damals als übertrieben und ungerechtfertigt ansahen. Dieser Umstand führte zu zahlreichen irreversiblen Zerwürfnissen und Brüchen, insofern der Dichter angesichts der von ihm empfundenen existenziellen Bedrohung keinerlei Relativierung der Angriffe ertragen oder zulassen konnte. In Briefen dieser Zeit an Bekannte und Vertraute wie Max Frisch und Rudolf Hirsch ging er so weit, die Rezension Blöckers mit den Positionen von Hitler und Goebbels (Briefe, 391 u. 389) zu vergleichen. Im Nachlass finden sich darüber hinaus zahlreiche weitere Äußerungen Celans, deren extreme Virulenz die verheerende Wirkung der Blöcker-Rezension eindrucksvoll vermittelt.

Auch wenn diese in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter überzogen wirkenden Reaktionen des Dichters zweifellos auf eine psychische Notsituation zurückzuführen sind, wird der Ansicht, der Journalist kolportiere in seiner Rezension antisemitisches Gedankengut, heute in der Forschung weitestgehend zugestimmt. In der Tat erinnern Blöckers Worte an ein altes judenfeindliches Vorurteil, wonach jüdische Bürger, denen die deutsche Zunge im Grunde fremd sei, eine weniger organische, authentische Beziehung zur Sprache hätten als ›echte‹ Deutsche. Ihnen fehle die tiefe Verwurzelung in der ›Volksgemeinschaft‹, und der Zugang zur höchsten Dichtkunst der Sprache sei ihnen im Gegensatz zu den ›einheimischen‹ Dichtern versagt. Richard Wagners Schrift (1850/1869), in der dieses Vorurteil wirkmächtig kolportiert wird, stellt nur eines der zahlreichen Dokumente einer langen...



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