Wekwerth | Mitternachtsmädchen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 383 Seiten

Wekwerth Mitternachtsmädchen

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95520-652-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 383 Seiten

ISBN: 978-3-95520-652-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Sie suchen einander schon ein Leben lang: Der Familiengeheimnis-Roman »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« von Tanja Wekwerth als eBook bei dotbooks. Das Band, das uns für alle Zeit verbindet ... England in den 20er Jahren: In einer abgelegenen Pension an der Küste bringt eine junge Frau Zwillinge zur Welt - und verschwindet bald darauf. Die kleine April wird zur Adoption freigegeben, während ihre Schwester May in der Obhut der liebevollen Pensionswirtin aufwächst. Ohne voneinander zu wissen, haben die beiden Zwillinge ihr Leben lang das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Selbst die Wirren des zweiten Weltkriegs und die Zeit des Neubeginns vermögen es nicht, diese Sehnsucht verblassen zu lassen. Aber gibt es für die Schwestern nach Jahrzehnten der Trennung wirklich noch die Chance auf ein Wiedersehen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: der gefühlvolle Roman »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« von Tanja Wekwerth. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks - der eBook-Verlag.

Tanja Wekwerth lebt und arbeitet in Berlin. Neben dem Schreiben widmet sie sich der Fotografie. Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Wekwerth ihre Romane »Die Zeit der Magnolien«, »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« und »Das Haus der Hebamme«.
Wekwerth Mitternachtsmädchen jetzt bestellen!

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ERSTER TEIL


Kristall


Der sogenannte Speisesaal des Old Inn war bekannt für seinen atemberaubenden Ausblick aufs Meer, weniger für seine Küche, in der viel mit Mayonnaise und Frittiertes hergestellt wurde. Doch jeder Gast, der durch die schmalen, knarrenden Korridore des uralten Gemäuers in den strahlend hellen Raum gelangte, sollte im Voraus für versalzenes Mischgemüse und nicht steif genug geschlagene Sahne entschädigt werden.

Es grenzte an einen Augenblick wahren Zaubers, den Saal zu betreten, der einige Gäste an ein Stück vom Crystal Palace erinnerte, phantasievollere Menschen jedoch an eine Raumkapsel, über blauer Unendlichkeit schwebend.

Das strahlende Weiß von Tischdecken und Geschirr, das Leuchten von Silberbesteck, Wein- und Wassergläsern, das Funkeln eines mächtigen Kristall-Lüsters, der wie eine glimmende Qualle über allem hockte, bei stürmischem Wetter sacht hin und her schwankte und bei Sonnenschein Prisma-Funken wie Giftpfeile durch die Luft schoss, und dahinter das Blau des rauschenden Meeres, so nah wie eine majestätische Allmacht – für manch eine eintretende Seele war es einfach zu viel unerwartete Schönheit am Rande des Abgrunds.

Einmal, Molly konnte sich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen, war eine junge Frau in Ohnmacht gefallen, nachdem sie aus dem dunklen Flur in dieses Gleißen gekommen war. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass die Sonne genau in dem Moment aus den Wolken gebrochen war, als sie ahnungslos den Raum betreten hatte, und als hätte jemand einen Schalter betätigt, begann alles gleichzeitig zu leuchten – das Geschirr, die Tischdecken, die Gläser. Der Kristall-Lüster schien geradezu in weißen Flammen zu stehen, während das tiefe Blau der Nordsee, einer Welle von Licht gleich, in den Speisesaal flutete und die junge Frau nur noch »O mein Gott!« rief und dann zu Boden sank.

Dort hatte sie einen Moment gelegen, um ihren Kopf ein Wirrwarr von Perlenketten und blonden Locken. Auf ihrer Stirn prangte wie ein Triumph des Kristalls ein zitternder, in allen Regenbogenfarben schillernder Abdruck eines vom Lüster abgeschossenen Pfeils. Dann war schon der Ehemann herangeeilt, mit erschrockenem Gesicht, und Molly hinterher, ein Glas Wasser in der Hand. Die junge Frau hatte sich aufrichten lassen und einen Schluck Wasser genommen, verlegen gelächelt, sich durch das Haar gestrichen und die Perlen geordnet. Alles war wieder gut, doch Molly war seit diesem Tag fest davon überzeugt, dass der Speisesaal des Old Inn tatsächlich ein ganz besonderer Ort war, an sonnigen Tagen sogar ein magischer.

Vornehmlich Kinder schienen empfänglich dafür. Wie Bienen brummten sie über den honigfarbenen Parkettboden und blieben immer wieder an den hohen Fenstern hängen und starrten sekundenlang aufs Meer hinaus, als wollten sie diesen Anblick niemals vergessen, als würden sie Kraft für den Rest ihres Lebens tanken. Dann lösten sie sich lachend von den blitzenden Scheiben, hinter denen Möwen kreischten, und hinterließen klebrige Fingerabdrücke, die Molly am Ende des Tages abwischen würde.

Etwas Originelleres als Old Inn hätten sich die Inhaber vor über zweihundertfünfzig Jahre wohl einfallen lassen können, dachte sie oft, und während sie fettige Spuren von plattgedrückten Nasen und toffeeverschmierten Händen mit Essiglauge entfernte, kamen ihr Namen wie Pension am Meer und Meeresjuwel in den Sinn (und einmal, nachdem sie mit Paul, dem Koch, den Rest einer übrig gebliebenen Sektflasche getrunken hatte, sogar Blaues Paradies), doch nichts schien das zu treffen, was Molly eigentlich ausdrücken wollte. Einen letzten Blick auf das dunkel gewordene Wasser werfend, musste sie zugeben, dass es den Begründern des Old Inn wohl genauso gegangen war und dass der Name aus diesem Grund auch der richtige war.

An einem sonnigen Vormittag im Spätsommer 1920 betrat ohne eine erkennbare Reaktion zu zeigen ein junger Mann den Speisesaal, kniff die Augen zusammen, sah sich kurz um und setzte sich dann mit dem Rücken zur Fensterfront an einen Tisch, der für eine Person gedeckt war.

»Bedienung!«, rief er, und Molly, die ihn beobachtend hinter einer Säule gestanden hatte, deren Nutzen sich keiner im Old Inn erklären konnte, trat hervor, strich sich die leicht gerüschte weiße Schürze glatt und brachte ihm voller Verachtung die Speisekarte.

»Guten Tag, Sir«, sagte sie ohne ein Lächeln. »Es ist noch ein wenig früh.«

Ohne sie anzusehen nahm er ihr die Karte ab. Molly spürte, wie sie rot vor Ärger wurde. Dieser Mann, Mr. Stocks, bewohnte seit einigen Tagen eines der vier Gästezimmer des Old Inn. Er hatte sich bereits mehrfach beschwert – über das zu harte Bett, einen Fleck an der Wand, die Zugluft und vor allem über die fehlende Aussicht.

»Ein Hotel am Meer und ein Blick in den mickrigen Garten!«, hatte er geschimpft und sich gar nicht vor Molly geniert, als er im Unterhemd, das Gesicht voller Rasierschaum, vor ihr stand, nachdem er ohne Unterlass geläutet hatte und sie deswegen die Frühstücksgäste vernachlässigen musste.

»Es gibt im Old Inn nur einen Raum mit Blick aufs Meer«, hatte sie mit vor Empörung zitternder Stimme gesagt und an ihm vorbei auf den Fleck an der Wand gesehen, »und das, Mr. Stocks, ist der Speisesaal.«

»Das sollten Sie dann aber auch in Ihren Katalog schreiben«, entgegnete er aufgebracht und deutete mit dem Rasierpinsel zum Fenster.

Es kam vor, dass sich Gäste über die fehlende Aussicht beschwerten.

»Es ist doch nicht so, dass die Aussicht fehlt«, sagte Molly dann jedes Mal sanft. »Sie haben einen wundervollen Blick in den Garten.«

Tatsächlich gingen alle Zimmer des Old Inn nach hinten in einen Garten hinaus, der von einer niedrigen Mauer aus Schiefersteinen umgeben war. Rosen und Wicken blühten im Sommer darin, und eine Holzbank stand unter einem Maulbeerbaum. Dahinter erstreckten sich grüne Weiden mit weißen Schafen und karamellfarbenen Kühen darauf, und ein Teil des Friedhofs war zu sehen und in seiner Mitte eine winzige graue Kirche, die Molly an eine versteinerte Muschel erinnerte.

Es war durchaus kein schlechter oder gar ein fehlender Ausblick. Es war lediglich nicht das Meer, das jeder, sobald er es gewittert hatte, für sich zu beanspruchen schien. Allerdings beruhigten sich die unzufriedenen Gäste in dem Moment, in dem sie den Speisesaal entdeckt hatten. Mit verträumtem Blick löffelten sie dann friedfertig ihre Suppen, verspeisten Konservengemüse und trockenes Rindfleisch und ließen sich nach dem Essen ein abschließendes Glas Portwein bringen, um noch ein wenig bleiben zu können und um, wie Molly es hinter der Säule stehend bezeichnete, die blaue Stunde willkommen zu heißen. Wenn der Tag in die Nacht floss und auch sonst alles zu fließen begann – das Gestern ins Morgen, die Erinnerung ins Vergessen, der dickflüssige Wein die Kehle hinab –, dann dämpften sich wie von selbst die Stimmen.

Mr. Stocks aber schien immun zu sein gegen den Zauber des Speisesaals, und deswegen begann Molly ihn aus tiefstem Herzen zu hassen. Dass sie der Grund für seine Aufenthalte sein könnte, darauf wäre sie nie gekommen. Beharrlich reiste er zwei- bis dreimal im Jahr für genau zehn Tage an, schimpfte über die Weiden und den Garten, missachtete das Meer, verschmähte die Nachspeisen und liebte Molly mit jedem Mal nur umso leidenschaftlicher.

Während er da war, krachte an einem stürmischen grauen Nachmittag eine Möwe gegen eines der Fenster des Speisesaals und hinterließ ein schmales Rinnsal Blut. Auf dem winzigen Rasenstreifen, der das Old Inn von den steil abfallenden Klippen trennte, fand Molly den toten Vogel. Schluchzend sank sie neben ihm in die Knie, richtete seinen merkwürdig verdrehten Kopf und strich immer wieder über das strahlend weiße Gefieder, bis es erkaltet war. Dann wickelte sie die Möwe in ihre Schürze und beerdigte sie im Garten unter dem Fenster von Mr. Stocks, dem sie unsinnigerweise die Schuld an diesem Drama gab und der noch am selben Abend abreiste, um nie wiederzukommen.

Er blieb der einzige Gast, auf den der Speisesaal des Old Inn keine Wirkung zeigte. Ein paar Monate (oder waren es Jahre?) gingen dahin, Paul wurde durch einen anderen Koch ersetzt und dieser wiederum durch einen anderen. Nur Molly blieb. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, woanders zu sein. Jeden Tag säuberte sie die vier Gästezimmer, bewirtete die Gäste im Speisesaal, putzte am Abend die Fensterfront und legte sich gegen Mitternacht in ihrer engen Kammer zur Ruhe, um am nächsten Morgen wieder aufzustehen und genauso weiterzumachen. Dass sie älter wurde, schien ihr nicht aufzufallen, vielleicht war es ihr auch noch nicht wichtig.

Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie bemerkte, dass einige der Damen, die ab und zu nach ihr läuteten, um sich Korsetts schnüren oder das Collier im Nacken schließen zu lassen, sehr viel Aufhebens um ihr Äußeres machten. Auf den vier identischen Toilettentischen, die jeweils in den Zimmern unter dem Fenster standen, reihten sich Töpfchen und Tiegel aneinander, gefüllt mit nach Rosen duftender Creme. Tuben mit Wangenrouge und schwarze Tuschesteine lagen herum, dazwischen Puderdosen mit dicken Quasten und gläserne Parfumflakons.

Während die Damen mit ihren Ehemännern nach dem Frühstück einen Spaziergang am Strand unternahmen, schnupperte Molly an all diesen Dingen. Zaghaft berührte ihre Zeigefingerkuppe die rosafarbene Hautcreme, die sie, kaum vorhanden, auf ihrem Handrücken verteilte, und einen Augenblick nachdenklich verharrend wartete sie auf ... Sie wusste es selbst nicht, vielleicht auf ein Wunder. Doch nichts geschah mit ihrer Hand, sie duftete nur zart nach Blüten, und sobald die Gäste abgereist waren, waren auch die Frisiertische wieder leer...


Wekwerth, Tanja
Tanja Wekwerth, geboren in Berlin, lebt als freie Autorin mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Berlin.

Bei dotbooks erschienen bereits Tanja Wekwerths Romane:
„Die Zeit der Magnolien“
„Das Haus der Hebamme“
„Mitternachtsmädchen“



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