Welter/Gantenberg / Welter / Gantenberg Tief steht die Sonne
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403190-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inka Luhmann ermittelt im Sauerland
E-Book, Deutsch, Band 3, 400 Seiten
Reihe: Inka Luhmann ermittelt
ISBN: 978-3-10-403190-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Gantenberg (geboren 1961) war WDR-Radiomoderator, Gastgeber des Satiremagazins ?Extra 3? und schrieb u.a. für DIE ZEIT und die FAZ. Für die RTL-Komödie ?Ritas Welt? erhielt er den Grimme-Preis und den Deutschen Fernsehpreis. Er entwickelte ?Alles Atze? und ?Nikola? und schrieb als TV-Autor für den ?Großen Deutschtest? (mit Hape Kerkeling) und die Krimireihe ?Unter Verdacht?. Im Jahr 2009 erschien sein Romandebüt ?Neuerscheinung?, 2010 ?Zwischen allen Wolken?. Michael Gantenberg lebt mit seiner Familie in der Nähe des Sauerlandes.
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Samstag, 23:54 Uhr
Kein Laut war der beste Laut. Vor allem, wenn man nicht erwischt werden wollte. Heute Nacht wäre das die übelste aller Möglichkeiten.
Julia Zimmermann hielt den Atem an, ließ hinter sich lautlos die leichte Kunststofftür des Wohnwagens ins Schloss klicken und trat vorsichtig von einem Plastikpodest, das als Einstiegsstufe diente, in das stickige Vorzelt. Sie wandte sich nach links und sah zu dem Fenster, hinter dem ihre Eltern schliefen. Gleichmäßiges, gedämpftes Schnarchen. Alles blieb dunkel. Gut so. Teil eins ihres nächtlichen Ausflugs war geschafft. Erleichtert atmete Julia durch. Und rümpfte sofort die Nase.
Für ihre Eltern und den ganzen Platz schien der gummigeschwängerte Geruchsmix aus Zeltbahnausdünstungen, Kunststoffmöbeln, trocknender Badekleidung, kalten Grillresten, Spülmittel und feuchtem Rasen der Inbegriff von Freiheit und Erholung zu sein. Für Julia war es der Mief des permanenten Provisoriums. Campingurlaube liebte oder hasste man. Julia gehörte eindeutig in die zweite Kategorie. Aber was sollte sie machen? Mit vierzehn war sie zu jung, um mit ihren Freundinnen an den Goldstrand oder nach Mallorca zu düsen. Zumindest meinten das ihre Eltern und hatten sie zur jährlichen Höchststrafe verurteilt: drei Wochen mit dem Wohnwagen an den Biggesee. Drei Wochen Familienhorror. Nur gut, dass Julia in diesem Jahr Mathijn kennengelernt hatte.
Sie konnte es kaum erwarten, wieder in die kühle Frische der Sauerländer Nachtluft zu entkommen. Sie musste nur noch ihren Erzfeind der letzten Tage und Nächte überwinden. Im trüben Licht der platzeigenen Wegebeleuchtung vor der Parzelle schlich Julia zum Ausgang des Vorzeltes und stand vor ihm: dem breiten Reißverschluss, der in einem großen Rundbogen eine dicke Zeltplane mit einem halbblinden Folienfenster umspannte. Julia hasste den verdammten Verschluss. Tagsüber machte das Scheißding schon einen Heidenlärm, wenn jemand ihn auf- oder zuzog. In der Stille der Nacht könnte sie sich den Weg nach draußen genauso gut mit einer kreischenden Kettensäge bahnen.
Geduld war gefragt. Sie griff nach dem metallenen Schieber. Eine Spalte von einem halben Meter würde erfahrungsgemäß ausreichen, um ihre sportlichen 1,68 in die Freiheit zu entlassen. Aber sie durfte nicht ungeduldig werden. Millimeter für Millimeter zog sie den Reißverschluss auf, immer wieder mit bangem Blick zum Fenster ihrer Eltern. Zeit genug, sich auszumalen, was passieren würde, wenn ihre Mutter auch dieses Mal hinter ihren unerlaubten nächtlichen Ausflug kam. Beim ersten Mal hatte sie es bei einer Ermahnung belassen. Beim zweiten Mal hatte sie Julias Vater hinzugezogen, der prompt Julias ehemals eigenes Zelt neben dem Wohnwagen abgebaut und sie zum Schlafen im elterlichen Wohnwagen verdonnert hatte. Beim dritten Mal hatte dann der übliche Ausdruck mütterlicher Überforderung gegriffen: kein Geschrei, keine peinliche Szene oder gar Prügel. Julias Mutter hatte ihr eigenes Foltermittel. In Fällen von nachhaltiger Unbelehrbarkeit ihrer Tochter redete sie einfach nicht mehr mit ihr. Zum Teil tagelang. Stattdessen ließ sie keine Gelegenheit aus, Julia mit anklagender, vorwurfsvoller Miene klarzumachen, dass sie sich des größten aller Kapitalverbrechen schuldig gemacht hatte: Ungehorsam. Immerhin würde Julia morgen früh schnell merken, wo der Hase langlief. Das »Wecken« wäre ein unverhältnismäßig frühes und übertrieben lautes Herumpoltern im Wohnwagen, der Frühstücksklapptisch wäre für alle außer Julia gedeckt, und an wem der anschließende Abwasch hängenbleiben würde, wäre ohnehin klar. Beim bloßen Gedanken an die triefend selbstmitleidige, ohnmächtige passive Aggressivität ihrer Mutter schüttelte es Julia innerlich. Aber für Mathijn nahm sie das gerne in Kauf.
Schließlich hatte sie auch Ferien. Und nur weil ihre Eltern darunter verstanden, dass man täglich ab 11 Uhr 30 mit einer Horde gleichgesinnter Nachbarcamper vor einem Grill sinnlos Bier in sich und über viel zu fettes Grillgut kippte, musste Julia das ja nicht auch »total entspannend« finden. Sie wollte was erleben. War das denn so schlimm?
Ein Schwall kühler Nachtluft verdrängte ihre düsteren Gedanken. Geschafft! Julia sah sich ein letztes Mal um und schlüpfte lautlos durch den entstandenen Spalt im Vorzelteingang in die Stille der Nacht.
Die Türplane verschloss sie nur provisorisch. Sie verhakte routiniert drei breite Klettverschlüsse, die der Hersteller netterweise angebracht hatte. Schließlich musste sie ja später wieder unbemerkt zurück in den Wohnwagen. Ein weiterer Blick zum Fenster ihrer Eltern. Alles ruhig. Sie hatte auch Teil zwei geschafft.
Julia stand vor ihrer Parzelle mit der Nummer 149 und sah auf den spärlich beleuchteten Weg, der den Campingplatz ziemlich genau in der Mitte durchschnitt und wie alle Wege irgendwann zum Einfahrtsbereich führte. Nur von dort konnte man zum Strand und zu den Bootsanlegeplätzen gelangen. Julia hielt den Atem an. Stille umgab sie, nur unterbrochen vom gelegentlichen leisen Rauschen einer sommerlichen Brise und entfernten Feiergeräuschen vom Seeufer. Gut so. Doch an Entspannung war noch lange nicht zu denken, denn die nächste Gefahr für Julias Vorhaben war auch die größte. »Groscheks Bernd«, wie man ihn hier in bester Sauerländer Tradition, »Nachname vor Vorname«, nannte, war nicht nur offizieller Ordnungshüter des Campingplatzes, sondern auch Allround-Handwerker, Angelcoach, Kiosk-Notdienst, Wetterfee, Witwentröster, Maskottchen und Nachrichtenmann in Personalunion. Seine vielfältigen Aufgaben nahm der Mann ernst. Alle. Nachdem er vor einigen Jahren mal einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt und filmreif in Angelschnur gefesselt an die Polizei übergeben hatte, hatte ihm ein Gast einen echten Sheriffstern aus den USA mitgebracht und an eine von gefühlt drei Dutzend Brusttaschen von Bernds Lieblingsklamotte geheftet: seine obligatorische Anglerweste. Seitdem war das protzige Blechschild nicht nur sein Markenzeichen geworden, es war auch jedem Betrachter klar, dass er es nicht zum Spaß trug. Was Groscheks Bernd mit einem weiblichen Teenie auf nächtlichem Knutschausflug machen würde, wollte Julia sich gar nicht erst ausmalen. Zumal sie sicher war, dass Groschek der Grund war, warum ihre letzten drei Ausflüge mit Mathijn aufgeflogen waren. Aber sie wusste auch, dass heute Samstag war. Der Tag, an dem der Sheriff sich traditionell auf seiner großen Platzrunde von jedem auf ein Bier einladen ließ, der ihn ansprach.
Julia spähte aufgeregt in die Nacht. Zu beiden Seiten des Weges führte eine verlassene, düstere Phalanx aus Zelten, Wohnwagen und Autos in dahinterliegendes undurchdringliches Schwarz der allgegenwärtigen Bäume. Der Weg war zu riskant für ihr Vorhaben. Julia bevorzugte eine unauffälligere Route. Sie überquerte den Weg und lief vorsichtig zwischen den beiden Wohnwagen der gegenüberliegenden Parzellen auf den dahinterliegenden, dichtbewachsenen Grünstreifen und von dort weiter in östliche Richtung zum Einfahrtsbereich des Platzes. Immer auf der Hut, nicht über Groschek, irgendwelche Spannseile oder die Reste einer Grillparty zu stolpern. Mathijn wartete bereits am See auf sie. Julia spürte, wie die Vorfreude eine kribbelnde Welle puren Adrenalins durch ihren Körper schickte.
Wenige Minuten später brauchte sie auf verräterische Geräusche nicht mehr zu achten. Sie hatte sich am verlassenen Rezeptionsgebäude vorbeigeschlichen und war unbemerkt die Treppe zum dahinter liegenden Verwaltungsgebäude hinuntergestiegen. Dort hatte sie sich rechts gehalten und war vorbei am verwaisten Imbiss und dem Campingshop hinunter zum See geeilt.
Am Wasser angekommen war die Luft erfüllt von einer verheißungsvollen Mischung aus sommerlicher Wärme und schilfigem Seegeruch. Das gelegentliche Rauschen eines einsamen Autos auf der nahen Sonderner Talbrücke mischte sich mit gedämpften Musikfetzen und einzelnen Lachsalven feiernder Campergrüppchen. Julias Vorfreude stieg. Eigentlich war’s hier doch gar nicht so schlecht, dachte Julia. Wenn man nicht an seine Eltern gebunden war. Und wenn Groschek einen nicht erwischte.
Sie schlich vorsichtig zu einem hölzernen Bootssteg und horchte angespannt in die Dunkelheit. Etwas abseits des Stegs stand eine kleine Holzhütte, Wasser schwappte träge gegen Holz und Bootsrümpfe.
»Mathijn?!«, fragte sie leise. Doch statt einer Antwort legte sich plötzlich eine Hand über ihren Mund! Kräftige Arme zogen Julia vom Steg herunter in Richtung der Hütte. Scheiße, dachte sie. Groschek! Zu Tode erschrocken fuhr Julia herum und stieß sich von ihrem Angreifer ab. Aber sie sah nicht in das graue vierschrötige Gesicht des Sheriffs, sondern in ein breites jugendliches Grinsen: Mathijn!
»Mann!«, stieß Julia leise hervor und schlug ihm spielerisch auf die Brust. »Bescheuert?!«
»Nur ein bisschen verrückt. Nach dir«, kam es in breitem niederländischem Tonfall zurück. Und bevor Julia noch etwas erwidern konnte, drückte ihr Mathijn seine Lippen auf den Mund. Der nächste Adrenalinschub durchfuhr Julia. Ihr wurde schwindelig. Küssen konnte der Typ jedenfalls. Und das war es schließlich, worauf sie den ganzen Tag gewartet hatte. Julia vergaß ihren Schreck und gab sich dem Moment hin. Sie erwiderte den Kuss und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, fand sie sich inmitten eines Gewirrs aus Werkzeug, Seilen, Bootsgerätschaften und dem Geruch nach rohem Holz und Farbe wieder. Julia hatte gar nicht bemerkt, dass Mathijn sie in den kleinen Schuppen bugsiert hatte. Er...




