E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Werner Das Fallen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-947106-47-9
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-947106-47-9
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael-André Werner ist Romancier, Satiriker und Herausgeber. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften (u. a. taz und Das Magazin), tritt bei Poetry Slams und Berliner Lesebühnen auf und organisiert und leitet Schreibwerkstätten für Jugendliche und junge Erwachsene. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Weißen Raben (2013), dem Reinheimer Satirelöwen (1999), dem Walter-Serner-Preis (1995) sowie mit Stipendien der Stiftung Preußische Seehandlung (1992, 2007) und der Dublin City Writers (2000). Seine Romane 'Schwarzfahrer', 'Ansichten eines Klaus' und 'Kopf hoch, sprach der Henker' erschienen bei Aufbau und List, von ihm herausgegebene Textsammlungen bei Rowohlt, Falken und Satyr. 'Das Fallen' ist Michael-André Werners vierter Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Als die Tür ins Schloss fiel, war Antonias erster Gedanke nicht: »Scheiße!« Ihr erster Gedanke, als die Tür ins Schloss fiel war: »Das passiert mir zum ersten Mal in meinem Leben«, und sie war verblüfft, mehr von dem Gedanken als davon, dass die Tür ins Schloss gefallen war. Dann erst dachte sie: »Scheiße!«
Die Tür war ins Schloss gefallen. Der Schlüssel lag drinnen. Der zur Wohnung, der für die Haustür, der für den Briefkasten, der zum Keller, der zu ihrem Kellerverschlag, der zur Wohnung ihrer Schwester, der Ersatzschlüssel zu ihrer Wohnung, den sie schon längst hatte abmachen und ihrer Nachbarin oder ihrer Schwester geben wollen. Das ganze Bund. Mit dem Autoschlüssel. Unter dem Spiegel, in dem die Postkarte steckte. Auf der der Spruch stand, der ab gestern ihr neues Lebensmotto sein sollte: »Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.«
Sie trat gegen die Tür.
Bis eben hatte sie es eilig gehabt, doch jetzt, ohne Auto … jetzt würde sie eh zu spät kommen. Sie griff nach dem Müllbeutel, lief die Treppe hinunter, sie würde das Fahrrad nehmen müssen, aber das Fahrrad, fiel ihr ein, das Fahrrad war im Hof angeschlossen. Und der Schlüssel vom Fahrradschloss hing ebenfalls am Schlüsselbund, und der für den Käfig, in dem die Mülltonnen eingeschlossen waren, damit kein Fremder seinen Müll in ihre Tonnen werfen konnte, der auch. Aber das fiel ihr erst ein, als sie in den Hof trat. Der Müllbeutel rutschte zwischen ihren Fingern, er war schwer, er war von Treppenabsatz zu Treppenabsatz schwerer geworden und sie konnte ihn nicht gut festhalten, sie hatte zwar einen halbherzigen Knoten gemacht, um das Ganze überhaupt tragen zu können, aber der Beutel war schon so voll gewesen und etwas Glibberig-Nasses hatte oben am Innenrand geklebt, sie hatte nicht viel Platz für den Knoten gehabt und der Glibber hatte sich durch das Verknoten innen und außen verteilt und nun rutschte alles und es fühlte sich zudem so an, als würde der Knoten aufgehen wollen. Der Beutel würde auf den Boden fallen und aufgehen und alles würde herausfallen. Sie wusste es. Es war ihr oft genug passiert. Morgen würde sie diese anderen Beutel kaufen, die mit dem Plastikband im Rand, die konnte man zuziehen und halbwegs bequem tragen, nur das Plastikband würde in die Finger einschneiden. Und die Beutel waren teurer und Antonia arbeitete nicht im Architekturbüro Krösus als Chefarchitektin, sondern nur im Architekturbüro Schröder als Planungskoordinatorassistentin. Aber nicht mehr lange. In ein paar Tagen würde sie befördert werden. Die Zeichen waren klar. Laura, die Planungskoordiniererin, würde Planungschefin werden und sie, Antonia … Sie würde zu spät kommen. Ausgerechnet. Egal. Morgen würde sie diese Beutel kaufen oder gleich heute Abend auf dem Heimweg.
Antonia ging trotzdem zum Käfig. Manchmal vergaß einer der Nachbarn, die Tür abzuschließen, vielleicht hatte sie ja Glück. Sie ging zum Käfig, drückte die Klinke – aber nichts. Es war zu, abgeschlossen, natürlich. Wahrscheinlich sogar zweimal. Da stand sie nun, mit einem schweren, undichten, tropfenden, rutschenden Müllbeutel ohne Henkel in der Hand, dessen Knoten aufzugehen drohte. Vorsichtig stellte sie den Müllbeutel ab und hoffte, es hielte erst einmal so, vielleicht auch gerade weil der Glibber das Ganze innen zusammenklebte.
Da stand sie nun. Ohne Wohnungsschlüssel, ohne Hausschlüssel, sie kam weder in den Keller, um den Müll bis heute Abend in ihrem Kellerverschlag zu deponieren, noch in den Müllkäfig noch an ihr Fahrrad, das sie an den Müllkäfig angeschlossen hatte. Sie konnte nicht einmal hineinklettern, denn der Käfig war auch oben zu, eben damit niemand hineinklettern konnte und den Müll in Unordnung bringen oder gar stehlen. Oder seinen eigenen Müll hineinwerfen.
Sie musste den Müllbeutel hier stehen lassen, mitnehmen konnte sie ihn ja schlecht. Wo sollte sie ihn lassen? Am Straßenrand abstellen? Sie würde es nicht mal zur Haustür hinaus schaffen, ohne eine nasse, klebrige Spur zu hinterlassen. Sie würde ihn ein bisschen an die Seite stellen, sie nahm ihn vorsichtig hoch, stellte ihn neben den Käfig, lehnte ihn an das Gitter, heute Abend würde sie wiederkommen, mit Schlüssel, und ihn in die Tonne werfen, wie es sich gehörte, aber im Moment … Vielleicht erbarmte sich ja auch einer ihrer Nachbarn und warf ihn mit weg. Beinah hätte sie über den Gedanken gelacht; niemand im Haus würde ihren Müll anfassen und wegwerfen. Im Gegenteil, heute Abend würden sicher ein paar Zettel daran kleben mit Worten wie oder oder und .
Sie vergewisserte sich noch mal, dass der Beutel sicher stand, dass er nicht aufgehen würde oder umfallen, und ging zur Tür.
»Frau Lavrenz!«
Sie hatte es geahnt. Befürchtet. Sie hatte sich gewünscht, es würde nicht passieren, wenigstens heute nicht, und jetzt fragte sie sich, wie um alles in der Welt sie derart naiv hatte sein können.
»Frau Lavrenz! Wollen Sie das so stehen lassen?«
Geh weiter, dachte sie, geh einfach weiter, schau nicht nach oben. Aber sie blieb stehen. Schimpfte sich innerlich eine dumme, feige Kuh, sie blieb stehen und schaute doch nach oben in den ersten Stock, wo ihr Hausmeister aus dem Fenster schaute. Das Gesicht ein Stück Dörrobst, mit grauem, wirrem, erstaunlich dichtem Haar, das alles schaute aus einem karierten Pullover, dem sie von hier unten ansah, wie muffig er roch, aber vielleicht war das auch nur die Erinnerung, die sie hatte von den paar Malen, die sie neben ihrem Hausmeister gestanden hatte. Ein dünner, staubiger, muffiger Geruch.
»Das geht so aber nicht!«, rief ihr Hausmeister und zeigte auf den Müllbeutel. »Frau Lavrenz!«
»Guten Morgen«, versuchte Antonia es im Netten. Wenn sie nett war, vielleicht war er dann nicht so grantelig wie sonst, vielleicht konnte sie ihm ihre Lage erklären, aber innerlich beschimpfte sie sich weiter als dumme Kuh, dass sie es überhaupt versuchte.
»Ein Notfall …«, begann sie.
»Da gehen doch die Ratten dran!«, rief ihr Hausmeister, beugte sich etwas weiter aus dem Fenster und zeigte auf den Müllbeutel, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. »Werfen Sie das mal ordentlich weg!«
»Ich habe den Schlüssel oben …«
»Dann holen Sie ihn.«
»Der Schlüssel ist in meiner Wohnung. Ich hab mich ausgeschlossen.«
»So kann das aber nicht bleiben.«
»Ja, ich weiß. Aber ich kann das grad nicht ändern. Ich kann nicht in meine Wohnung.«
»Rufen Sie einen Schlüsseldienst.«
»Ich muss zur Arbeit. Ich mach das heute Abend.«
»So lange kann das da aber nicht stehen bleiben.«
»Jaja, aber ich kann das im Moment nicht ändern. Ein Notfall.«
»Soll ich Ihnen die Wohnungstür aufmachen?«
»Nein.«
»Ich kann das.«
Das war nicht sehr beruhigend zu wissen, dachte sie und beeilte sich zu sagen: »Nein, nein, nicht nötig«, und fügte hinzu: »Sie haben recht. Ich ruf den Schlüsseldienst. Nachher. Wenn ich wieder da bin.«
»So lange kann das da aber nicht …«
»Ich kann den Müll jetzt nicht mitnehmen! Ich muss zur Arbeit.«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf.
»Aber es geht jetzt nicht. Und ich bin spät dran.«
»Dann müssen Sie früher losgehen.«
»Ich bin so früh losgegangen wie immer. Ich hab mich ausgesperrt und jetzt habe ich es eilig«, rief sie zu ihm hoch. »Ich gehe jetzt!«
»Das kann da nicht bleiben.«
»Ich kann nichts daran ändern!«
»Nehmen Sie Ihren Müll mit.«
»Ich muss zur Arbeit.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Soll ich erst runterkommen?«, rief er zurück.
»Ja, dann können Sie gleich diesen bescheuerten Mülleimerkäfig aufschließen und …«
»Ich trag Ihnen doch nicht den Abfall hinterher«, polterte er.
Diesmal war sie es, die mit den Schultern zuckte, sie zog sie hoch und ließ sie wieder heruntersacken. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren, es war stets sinnlos, mit ihm zu diskutieren, das wusste sie doch. Sie stieß die Hoftür auf, trat in den kühlen Hausflur ein und ging zur Vordertür.
Oben...




