E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Winter Sein Name war Annabel
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-22369-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-22369-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kathleen Winter ist Journalistin, Romanautorin, verfasst Kurzgeschichten und schreibt Drehbücher für das kanadische Fernsehen. Ihr Debütroman »Annabel« war ein Bestseller in Kanada und ein internationaler Erfolg. Ihr Memoir »Eisgesang« war nominiert für den Hilary Weston Writers Trust Prize for Nonfiction und den RBC Taylor Prize. Kathleen Winter hat lange in St John's auf Neufundland gelebt. Heute lebt sie in Montreal.
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1
Neue Welt
Wayne Blake wurde Anfang März geboren, als der Frühling die ersten Anzeichen für das Aufbrechen des Eises schickte – eine sehr wichtige Zeit im Leben der Bewohner Labradors, die sich von der Entenjagd ernährten. Und wie 1968 in dieser Gegend üblich, waren diejenigen Frauen bei der Geburt dabei, mit denen seine Mutter näher bekannt war, seit sie geheiratet hatte: Joan Martin, Eliza Goudie und Thomasina Baikie. Frauen, die das Eisfischen beherrschten, die Mokassins aus Karibuleder nähen und Holz so zu einem Stapel schlichten konnten, dass er in all den Monaten, in denen ihre Männer beim Fallenstellen waren, nicht umfiel. Frauen, die bei jeder normalen Geburt genau wussten, was zu tun war.
Im Dorf Croydon Harbour an der Südostküste Labradors ist die Erde – wie in ganz Labrador – magnetisch. Man spürt ihre Energie, ein Pulsieren, mit dem das Land Licht trinkt und Vibrationen ausschickt. Manchmal sieht man mit bloßem Auge Lichtstreifen von der Erde aufsteigen. Nicht jeder Reisende hat einen Sinn dafür, aber wer dieses Phänomen sehen möchte, findet es sonst nur in der Wüste und auf Hochplateaus. Ein Reisender aus New York kann es spüren. Forscher, Lehrer, Menschen, die guten, heißen Kaffee und eng bedruckte Zeitungen kennen, aber etwas Elementareres wollen, einen Schuss neue Welt in ihrem Blut. Echte neue Welt, nicht nur einen Mythos, der Schnellstraßen und noch mehr Schnellstraßen gebracht hat und die flachen, radioaktiven Gebäude, die an diesen Schnellstraßen Pfannkuchen und Hamburger und Benzin anbieten. Ein Labrador-Reisender spürt die magnetische Kraft, oder er spürt sie nicht. In dem Menschen, der sie fühlt, muss eine Frage stecken. Der Besucher muss ein offener Schaltkreis sein, er muss für die Energie, die das Land ausstrahlt, empfänglich sein, und das ist nicht jeder Mensch. Genauso verhält es sich mit denjenigen, die in Labrador geboren sind. Manche wissen von Geburt an, dass ihr Land einen Atemapparat hat, der aus Fels und Berg und Wasser und der unterirdischen Gravitation Kraft zieht und im Gegenzug Energie ausatmet. Andere wiederum wissen das nicht.
Wayne kam im Hause seiner Eltern Treadway und Jacinta Blake zur Welt, im Badewasser. Treadway gehörte zu Labrador, Jacinta nicht. Treadway hatte die Fallen seines Vaters übernommen und wurde magnetisch von den Felsen angezogen, während Jacinta als Achtzehnjährige aus St. John’s gekommen war, um in der kleinen Schule von Croydon Harbour zu unterrichten. Bevor sie Treadway kennenlernte, hielt sie das lediglich für ein Abenteuer und hatte vor, in einer Schule in St. John’s zu unterrichten, nachdem sie drei, vier Jahre Erfahrung gesammelt hatte.
»Ich würde jeden Tag Brot mit Marmelade zu Mittag essen«, sagte Joan Martin zu Eliza und Thomasina, als Jacinta in der Badewanne gerade die heftigsten Wehen durchmachte. In Croydon Harbour sprach jede Frau irgendwann einmal davon, wie schön ein Leben ohne Mann sein könnte. Besonders gerne gaben sich die Frauen diesem Traum hin, wenn ihre Männer schon zu lange zu Hause und nicht unterwegs beim Fallenstellen waren. »Ich bräuchte gar nichts zum Abendessen, höchstens ein, zwei harte Eier, und abends würde ich immer im Bett eine Zeitschrift lesen.«
»Ich würde die ganze Woche dasselbe anziehen«, sagte Eliza. »Meine blaue Wollhose und das graue Hemd, und das Nachthemd würde ich einfach darunterstopfen. Von September bis Juni würde ich das Nachthemd überhaupt nicht ausziehen. Und statt unserer Hunde würde ich mir eine Katze zulegen, und ich würde auf ein Klavier sparen.«
Die Frauen wünschten sich ihre Männer nicht weg, weil sie eine Abneigung gegen sie empfanden – doch in den unerträglichen Wintermonaten drehte sich alles nur ums Holzholen und darum, auch noch das letzte bisschen Knochenmark zusammenzukratzen und sich nach der Vertrautheit zu sehnen, die da sein würde, wenn ihre Männer endlich nach Hause kämen, obwohl sie doch die ganze Zeit über wussten, dass diese Vertrautheit nur in ihrer Einbildung existierte. Dann kamen die kurzen, heftigen Sommer, wenn Waldweidenröschen, Schlauchpflanzen und Sonnentau aufplatzten und mit einem Puff einen verführerischen, duftenden Hauch in die Luft entließen, der bedeutete, dass nun das Leben beginnen könnte. Doch es begann nicht. Manche der Pflanzen waren fleischfressend. Dieser Moment des Sommers enthielt Begierde und Erfüllung und Tod, in einem einzigen gierigen Schluck zusammengefasst, aber die Frauen ließen sich nicht darauf ein. Sie warteten auf den Augenblick, in dem sich der Sommer um sie herum ausdehnte, sich so weit ausdehnte, dass er das Leben der Frauen ganz umfing, doch dazu kam es nie.
Wenn Jacinta nicht gerade vor Schmerzen stöhnte, weil das hinausdrängende Baby ihr die Hüftknochen sprengte, gab auch sie sich diesem Traum hin. »Ich würde wahrscheinlich gar nicht hierbleiben«, erklärte sie ihren Freundinnen, als sie den brühend heißen Kaffee aus der kleinen Emailkanne einschenkte, mit ihrem Bauch, der unter der blauen Schürze mit den kleinen weißen Blümchen dick war wie ein junger Seehund. »Ich würde in die Monkstown Road zurückziehen, und wenn ich keine Stelle als Lehrerin bekäme, würde ich einfach wieder in der Duckworth Laundry anfangen und Bettzeug und Tischdecken für das Hotel Newfoundland waschen.«
Thomasina war die einzige Frau, die sich nicht an diesen Fantasien beteiligte. Sie war ohne Vater aufgewachsen und brachte ihrem Mann Graham Montague großen Respekt entgegen. Es war für sie immer noch unbegreiflich, dass er einfach alles reparieren konnte, dass er dafür sorgte, dass es stets warm im Haus war, dass er als letzter von allen Männern zu seinen Fallen aufbrach und als erster nach Hause zurückkehrte, dass er blind war, sie brauchte und dass er ihr Annabel geschenkt hatte, eine rothaarige Tochter, die Thomasina ihren Wonnenschein nannte. Sie half ihrem Vater, das Kanu zu steuern, jetzt, da sie elf Jahre alt war und so besonnen und vernünftig wie Thomasina. Wie alle Jäger von Croydon Harbour war Graham gerade in seinem weißen Kanu auf dem Fluss unterwegs, und Annabel begleitete ihn. Sie saß im Bug und sagte ihm, wo er hinsteuern sollte, obwohl er schon vorher genau wusste, wie er das Paddel bewegen musste. Vor Annabels Geburt war er nach Gehör auf dem Fluss gefahren. Er nahm jeden Stein, jede Eisscholle und jede Stromschnelle wahr. Im Kanu erzählte er ihr Geschichten. Am liebsten mochte sie die wahre Geschichte von dem weißen Karibu, das sich der Waldherde angeschlossen hatte und dem ihr Vater nur ein einziges Mal begegnet war, als Junge, vor dem Unfall, bei dem er erblindet war. Bei jeder Fahrt hielt Annabel Ausschau nach dem weißen Karibu. Als Thomasina ihr erklären wollte, dass es womöglich gar nicht mehr am Leben war oder sich wieder seiner arktischen Herde angeschlossen hatte, wandte ihr Mann sich zu ihr um und bat sie still, ihre Tochter nicht am Träumen zu hindern.
Als der Kopf des Babys zum Vorschein kam, strahlte Jacintas Badezimmer im Licht des Schnees. Die Scheidenmuscheln auf der Fensterbank glänzten weiß, genau wie die Fliesen, das Porzellan, die Blusen der Frauen, ihre Haut, und auch durch die Stores pulsierte es weiß, so dass sich alle Farbe in dem weißen Raum in den Haaren und dem Gesicht des Babys sammelte: goldbraun das Haar, rot das Gesicht, schwarz die kleinen Wimpern und ein roter Mund.
Hinter Jacintas Geburtszimmer lag die Küche, die in der Wärme des Holzfeuers knisterte und knackte. Treadway gab Karibufleischklöße in brutzelndes Schweinefett, überbrühte einen Teebeutel mit kochendem Wasser und schnitt sich eine fünf Zentimeter dicke Scheibe vom Preiselbeerbrot ab. Er hatte nicht die geringste Absicht, während der Geburt Zeit im Haus zu verschwenden – er war hier, um zu Abend zu essen, und in einer Stunde wollte er mit seinem weißen Kanu wieder auf dem Beaver River unterwegs sein. Die Mütze, die er dabei trug, war weiß, ebenso die Jacke aus Seehundfell, die Leinenhose und die Stiefel. So gingen in Labrador die Männer seit Generationen im Frühjahr zum Jagen.
Eine Ente konnte das Kanu eines weißen Jägers nicht von einer Eisscholle unterscheiden. Das Kanu, in dem der Jäger zurückgelehnt saß, glitt gefährlich durch das schwarze Wasser und wurde lautlos langsamer, sobald es sich dem Schwarm näherte, egal, ob die Tiere hoch am Himmel flogen oder ihre dicken Bäuche auf der Wasseroberfläche treiben ließen. Treadway lebte für das Weiß und für die Stille. Er konnte zwar nicht mit den Ohren sehen wie Graham Montague, aber wenn er sich von jeglicher Ablenkung befreite, vernahm er das Tröpfeln der Frühjahrsschmelze im Landesinneren. Er musste nur am Labrador-Tee, dem Porst, mit seinen ledrigen Blättern und den orangefarbenen pelzigen Unterseiten riechen, und schon spürte er die medizinische Wirkung der Pflanze. Als Jäger wusste er, was zu tun war, wenn er die zahlreichen Flugbahnen der Enten beobachtete. Ihre Sinkflüge und Kurven, die feinen Unterschiede zwischen Beschleunigung und Verzögerung verrieten ihm genau, wann er das Gewehr anlegen und wann er es wegstecken sollte. Ihre Zeichen standen hell wie der Tag am Himmel geschrieben, und Treadway konnte gut nachvollziehen, wie es dem blinden Graham Montague gelang, Enten mit sicherem Schuss zu treffen. Ihm selbst war die mathematische Beziehung zwischen der Position der Enten und dem hohlen Schlag ihrer Flügel aufgefallen; bei jeder Richtungsänderung gab es ein anderes Geräusch, und ihre Rufe durchbrachen die Stille des Landes. Die Bewegungen der Enten waren die Kalligrafie des weißen Jägers.
An den jungen Leuten heutzutage gingen solche Botschaften vorbei, aber Treadway nahm sämtliche Feinheiten wahr. Für jede Bewegung der Enten gab es ein Wort, und Treadway...




