Wolff | Rot ist die Farbe der Sehnsucht | Buch | 978-3-9814023-8-4 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 3, 265 Seiten, LEINEN, Gewicht: 770 g

Reihe: Christiane Wolff

Wolff

Rot ist die Farbe der Sehnsucht

Kurze Geschichten

Buch, Deutsch, Band 3, 265 Seiten, LEINEN, Gewicht: 770 g

Reihe: Christiane Wolff

ISBN: 978-3-9814023-8-4
Verlag: H. W. Fichter Kunsthandel e.K.


Spannende und intesive Kurzgeschichten von Christiane Wolff.
Wolff Rot ist die Farbe der Sehnsucht jetzt bestellen!

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Der Fremde im Bett

Tilda schloss leise die Türe des Krankenzimmers hinter sich. Auf dem Krankenhausflur war niemand zu sehen. Fernes Läuten drang vom Schwesternzimmer her auf den Gang. Auf ihrem Weg zum Lift kam Tilda an einer halb offenen Zimmertüre vorbei. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick in das Krankenzimmer. Schwester Karin zog gerade die Gardine zur Seite, während sie sagte: „So ein strahlender Tag heute, den wollen wir nicht draußen lassen.“ Die Schwester erhielt keine Antwort.

Am nächsten Morgen betrat Tilda erneut die Klinik. Mit ihrem Korb am Arm, über dessen Inhalt sie ein Geschirrtuch gebreitet hatte, klopfte sie an die Tür, hinter der ihre kranke Mutter lag.
„Da bist Du ja endlich. Ich habe Dich schon früher erwartet.“
Tildas Mutter saß aufrecht im Bett. Die Badezimmertüre stand auf. Wasser tropfte vom Hahn in das Waschbecken. Tilda stellte den Korb auf einen Stuhl, der neben einem Tischchen vorm Fenster stand.
„Ich habe das Gefühl, Du kommst jeden Tag später.“ Ihre Mutter griff nach dem Kamm auf ihrem Nachttisch.
„Das kann eigentlich nicht sein. Um 8Uhr muss ich mit meinem Unterricht beginnen. 10 Minuten vorher bin ich an der Schule. Später als Viertel nach sieben bin ich noch nie bei Dir gewesen.“
„Und jetzt, jetzt ist es schon zwanzig nach sieben.“
„Ich bin ja auch schon fünf Minuten hier, Mutti.“
Tilda zog das Geschirrtuch vom Korb und breitete auf dem kleinen Tisch am Fenster die mitgebrachte Tischdecke aus. Darauf ordnete sie das häusliche Frühstücksgeschirr: Zwei kleine Teller, zwei Untertassen, zwei Tassen. Daneben legte sie zwei Stoffservietten. Die Servietten steckten gerollt in silbernen Serviettenringen.
Aus einem Stück weichen Wolltuchs, das früher in Gänze eine Decke gewesen war, wickelte sie das Silberbesteck. Auf den einen Teller legte sie ein frisch gekauftes Croissant und ein Rosinenbrötchen. Für sich selbst hatte sie ein Vollkornbrötchen mitgebracht. Als Letztes stellte sie die Thermoskanne mit Kaffee auf das Tischchen. Anschließend holte sie aus dem kleinen Eisschrank des Zimmers Milch, Butter und ein angefangenes Glas selbstgemachter Marmelade.
Sie trat ans Bett ihrer Mutter, die bereits auf der Bettkante saß, und half ihr aufzustehen. Gestützt auf ihre Tochter wankte die Mutter zum Frühstückstisch. Sie ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen.
Das kurze Nachthemd war nach oben gerutscht. Ihr welkes Fleisch tropfte vom Stuhl, wie Teig von einem Holzlöffel.
Tilda sah angewidert fort.
„Meine Nachtjacke. Hol mir meine Nachtjacke!“
Ihre Tochter eilte zum Schrank. Legte die gewünschte Jacke um die Schultern ihrer Mutter.
„Ich hoffe der Kaffee ist noch heiß.“
„So heiß wie jeden Morgen, Mutti. Gestern hast Du Dich sogar darüber beschwert, wie heiß er aus der Thermoskanne kommt.“
Tilda würgte an ihrem Roggenbrötchen.
„Es sind kaum Rosinen in diesem Brötchen.“ Die Mutter besah sich missbilligend ihr Rosinenbrötchen.
„Ich habe keine Einzige herausgepopelt, Mutti.“
Beide aßen schweigend weiter.
In all den Jahren hatte sich Tilda nicht abgewöhnen können, sich zu rechtfertigen.
Mit Blick auf ihre Armbanduhr sagte Tilda:

„Ich muss gleich los. Soll ich Dich zurück ins Bett bringen oder möchtest Du noch eine Weile hier am Fenster sitzen?“
„Mach mit mir, was Du willst. Ich will Dich nicht aufhalten.“
In ihrem nörgeligen Ton schwang Vorwurf mit.
Auf dem Krankenhausflur bemerkte Tilda, dass vor dem Zimmer 328, dessen Türe gestern halb offen gestanden hatte, ein Putzwagen stand. Bei weit offener Türe wischte ein gebeugter Rücken den Boden vor der Balkontür.
Es war keine Neugierde, mehr ein Hineingezogenwerden, was Tilda dazu veranlasste, das Zimmer zu betreten. In dem einzigen Bett lag ein bärtiger Mann, der schlief.
„Sind Sie Besuch?“ Die Putzfrau hatte sich umgedreht.
„Nein“, sagte Tilda und verließ den Raum.
Als sie auf den Lift wartete, war sie erstaunt über sich selbst und die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühle. Ihre Indiskretion empfand sie als falsch. Das Betreten des Zimmers jedoch als richtig.
Dieser schlafende Mann im Bett hatte sie auf unerklärliche Weise gerufen.
Während ihres Unterrichts an diesem Morgen und auch, als sie zu Hause war, erschien ihr für kurze Augenblicke das Gesicht dieses Fremden mit dem grau melierten Bart, dessen kurz geschnittene Haare weich um Kinn und Oberlippe lagen.

In den nächsten Tagen widerstand sie dem Bedürfnis, die geschlossene Türe zu Zimmer 328 zu öffnen. Ihr Verlangen, den Fremden zu betrachten, ihm nahe zu sein, blieb.
Einmal, als Tilda Schwester Karin aus seinem Zimmer kommen sah, fasste sie sich ein Herz und fragte die Krankenschwester:

„Dieser Patient, aus dessen Zimmer Sie gerade kamen“, Tilda stockte, „ich habe ihn nur kurz gesehen, als neulich seine Zimmertüre offen stand“, sie schwieg erneut für einen Moment, bevor sie weiter sprach. „Ich kann das nicht erklären, er ist mir so vertraut. Und doch kenne ich ihn nicht. Er ist für mich kein Fremder, ohne dass ich ihn je zuvor gesehen habe.“ Sie schwieg. Sah auf ihre Schuhspitzen. Schwester Karin seufzte hörbar.
„Er ist unser Sorgenfall. Man hat ihn im Park gefunden. Sein Hund stand bellend neben ihm. Der Mann war ohne Bewusstsein und ohne sichtbare Verletzungen. Der Notarzt brachte ihn zu uns. Zuerst lag er auf der neurologischen Station. Aber da er selbstständig atmen konnte, verlegten sie ihn zu uns. Wir haben hier zwei Zimmer speziell für Komapatienten.“
„War er denn irgendwie innerlich verletzt?“
„Außer ein paar Schürfwunden, die wohl durch den Sturz verursacht worden sind, hat man nichts bei ihm gefunden. Er stand weder unter Alkohol noch unter Drogen. Er hatte auch keinen Ausweis, keine Papiere bei sich, aus denen hervorgegangen wäre, wer er ist. Dies ist insofern erklärlich, da er einen Jogginganzug anhatte. Die Polizei hat eine Suchmeldung herausgegeben. Gemeldet hat sich bisher niemand, was schon erstaunlich ist.“
„Würden Sie mir erlauben, ihn kurz zu besuchen, wenn ich ohnehin im Hause bin, um nach meiner Mutter zu sehen? Er liegt dort so alleine.“
„Da hat wohl niemand etwas dagegen.“ Schwester Karin machte eine Pause und fügte hinzu: „Manchmal erscheint es mir, als merke er, wenn jemand im Raume ist. Aber dies ist nur so ein Gefühl.“

Vor dem Einschlafen dachte Tilda an die Ereignisse des Tages. Versuchte ihren Sinn und Gewinn zu erkennen. Eine verhaltene Spannung hatte sich ihrer bemächtigt. Sie war nicht erstaunt, als sie sich darüber klar wurde, dass diese Erwartungshaltung mit dem Fremden im Bett zu tun hatte. Noch vor dem Frühstück mit ihrer Mutter stand Tilda am nächsten Morgen vor Zimmer 328. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Sie spürte, dass diese Türe eine Art Grenze darstellte. Sie zu öffnen und einzutreten in das Zimmer dieses namenlosen Fremden, war wie das Aufschlagen eines neuen, unbekannten Buches, von dem man nicht weiß, wohin es einen entführt.
Sie drückte die Türklinke herunter und trat in diese unbekannte Welt ein.
Vom Fußende des Bettes aus sah sie ihn an. Es war ein gutes, ein sympathisches Gesicht, in das sie blickte. Sie widerstand ihrem Bedürfnis, ihn zu berühren. Seinen Bart zu fühlen, seine kräftigen, männlichen Hände in die ihren zu nehmen. Dieser stille Unbekannte hatte nichts Unheimliches, nichts Bedrohliches an sich. Im Gegenteil. Es ging eine Sanftheit von ihm aus, ein geduldiges Verstehen und Akzeptieren.
„Ich heiße Matilda Fuchs“, sprach sie ihn vom Fußende seines Bettes aus an. „Meine Mutter liegt hier ein paar Zimmer weiter. Ich komme jeden Tag zu ihr. Ich hoffe, dass es Ihnen recht ist, wenn ich auch zu Ihnen komme.“ Tilda neigte ein wenig ihren Kopf, schaute aber weiterhin auf den Fremden vor ihr. „Ich bin Lehrerin. Es ist nicht mehr der Beruf, so wie er früher war. Manchmal fürchte ich mich vor den Schülern. Das darf man aber nicht zeigen. Schüler können gnadenlos sein.“ Sie schwieg.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie nach einer Weile, während der sie auf den weißen Bettbezug sah, unter dem sich die Beine des Mannes abzeichneten.

Am nächsten Morgen, früher als je zuvor, betrat Tilda das Hospital. Unter ihrem Arm klemmte die Tageszeitung, die sie aus ihrem Postkasten gezogen hatte. In der Linken trug sie den Frühstückskorb. Als sie aus dem Lift trat, sah sie ihre Mutter, die wie ein Scherenschnitt vor dem Fenster am Ende des Ganges stand. Unwillkürlich duckte sich Tilda hinter den hohen Metallwagen, in dem sich das Frühstück der Patienten auf vorbereiteten Tabletts befand. Tilda wollte ihre Mutter nicht wissen lassen, dass sie bereits im Krankenhaus war. Die Besuche bei dem Fremden brauchte die Mutter nicht zu erfahren. Ärgerlich über sich selbst, registrierte Tilda, dass es ihrer Mutter immer wieder gelang, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen; ohne dass überhaupt ein Wort gesprochen wurde.
-Kann ich mich niemals davon frei machen? Bin ich immer noch das kleine Mädchen, das vergebens versucht, es ihr recht zu machen?- Tilda streckte ihren Rücken und trat hinter dem Essenswagen hervor. Entschlossen ging sie zu Zimmer 328.
Schon beim Betreten des Zimmers fiel die Anspannung von ihr ab. Dieser Raum bot ihr Geborgenheit und Frieden.
„Guten Morgen“, sagte sie und trat an das Bett des Fremden. Tilda war nicht in der Lage abzuschätzen, ob er schlief oder ob sein Geist, der in seinem Körper eingeschlossen war, registriert hatte, dass jemand den Raum betreten hatte.


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