Wolff | Grün ist die Farbe der Ferne | Buch | 978-3-9814023-1-5 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 2, 228 Seiten, LEINEN, Format (B × H): 160 mm x 240 mm, Gewicht: 1000 g

Reihe: Christiane Wolff

Wolff

Grün ist die Farbe der Ferne

Kurze Geschichten

Buch, Deutsch, Band 2, 228 Seiten, LEINEN, Format (B × H): 160 mm x 240 mm, Gewicht: 1000 g

Reihe: Christiane Wolff

ISBN: 978-3-9814023-1-5
Verlag: H. W. Fichter Kunsthandel e.K.


Spannende und intesive Kurzgeschichten von Christiane Wolff.
Wolff Grün ist die Farbe der Ferne jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Weiß ist die Farbe der Gnade Seite 6
Der Gast aus Frankreich Seite 24
Lord Seite 43
Igor der Koch Seite 51
Das Kind Seite 73
Das sanfte Alphabet Seite 95
Der letzte Sommer Seite 106
Der Küchentisch Seite 145
Onkel Jobst Seite 152
Der Deutsche Seite 168
Der Enkel Seite 180
Sonnenaugen Seite 209
Der Notruf Seite 224


Weiß ist die Farbe der Gnade

Sie kletterte auf den Hocker, lehnte ihren Bauch gegen die
Flanke des Pferdes und griff mit beiden Händen vorne an
den Sattel. Dann steckte sie ihren linken Fuß in den
Steigbügel. Mit der Kraft ihrer Hände und dem Schwung
ihres rechten Beines wollte sie sich in den Sattel
schwingen. Aber der Schwung geriet ihr so heftig, dass sie
gleich auf der anderen Seite wieder herunterfiel und auf
dem harten Grassoden aufschlug. Sie jammerte nicht. Sie
blieb einfach liegen. An Misserfolge war sie gewöhnt.
Dann rappelte sie sich wieder auf, ging vorne um ihr Pferd
herum, strich ihm vertraut über die samtigen Nüstern und
stellte sich erneut auf den Hocker. Diesmal packte sie den
Sattel vorne und hinten und zog sich daran hoch, bis sie
quer zum Pferd auf dessen Rücken lag. Und jetzt? Sie
versuchte ihre Beine auf die Kruppe zu schwingen, aber
ihrer Hände konnten sie nicht mehr festhalten. Erneut fiel
sie zu Boden. Sie wimmerte. Aus Wut und vor Schmerzen,
nicht aus Verzweiflung, denn Niederlagen, die kannte sie.
Sie zog kräftig die Nase hoch und wischte sich mit den
Enden des Jackenärmels über das Gesicht. Nike, ihr Pferd,
wendete seinen Kopf zu ihr nach unten und schnaubte, was
Dana als Zuspruch empfand. Dann stand sie auf. Sie griff
nach oben an Nikes Hals, strich an ihm entlang bis zum
weichen Maul. Anschließend humpelte sie wieder zum
Hocker. Der dritte Versuch klappte. Dana saß im Sattel. Sie
beugte sich nach vorne, um den hängenden Zügel zu
ergreifen. Wo war er? Ihre Hände strichen rechts und links
an der Mähne entlang. Die Fingerspitzen der rechten Hand
berührten den Lederriemen, konnten ihn aber nicht
festhalten. Ganz lang machte sie sich. Jetzt lag sie fast auf
dem Pferderücken. Da, nun hatte sie ihn. Beim
Wiederaufrichten passierte es, sie verlor erneut das
Gleichgewicht und rutschte seitwärts über den Pferdehals
nach unten. Diesmal blieb sie erschöpft liegen.
Das kleine fünfjährige Mädchen Dana Bucher war blind.
Am Gatter stand Mattes und krallte seine Finger um den
Balken. Er musste sich zwingen, nicht einzugreifen, nicht
hinzulaufen, um Dana beizustehen, ihr aufzuhelfen, ihr
nahe zu sein, damit sie in diesem Kampf nicht so alleine
war. Aber er wusste auch, wenn Dana es schaffte, alleine
aufzusitzen, ohne die Hilfe anderer, dann war es ihr ganz
persönlicher Sieg. Es würde ihr Selbstvertrauen stärken,
würde sie weitertragen und ermutigen. Sie musste dies jetzt
alleine durchstehen.
Nicht nur Mattes sah Danas vergebliche Versuche, auch ihr
Vater beobachtete sie vom Fenster des Haupthauses aus.
Auch ihn hielten Vertrauen und Stolz in die Zähigkeit
seiner Tochter davon ab, ihr beizustehen. Erst als sie über
den Hals des Pferdes nach vorne schlug, raste er die
ausgetretene Holztreppe herunter. Schon auf dem Hof
schrie er in ihre Richtung „Schluss. Jetzt hör auf.“ Er
rannte an Mattes vorbei, dessen Sorge ihn auch nicht mehr
am Gatter gehalten hatte.
„Wie kannst Du nur. Und das alles ohne Helm. Willst Du
Dich umbringen?“ Dann entlud sich seine ganze
Anspannung an Mattes.
„Wie konntest Du dies zulassen. Wie oft habe ich
gepredigt, sie soll einen Helm tragen!“ Aber Mattes, der
Dana den Dreck abklopfte und ihr dann mit seinem großen,
karierten Taschentuch die aufgeschürften Hände und Knie
abtupfte, erwiderte nur:

„Chef, Du auch zugelassen. Ich Dich gesehen an Fenster.“
Mischa Mattes war der einzige Angestellte auf dem Hof
von Danas Vater. Sein Herz war so groß wie die Weiten
seiner Heimat Sibirien, aus der er als Russland - Deutscher
kam. Mattes liebte alles, was lebte. Sogar Dinge, die
irgendwann einmal gelebt hatten. Wenn Dana ihm zuhörte,
wenn er das Ofenholz schlug, dann erzählte er dem kleinen
Mädchen von den stolzen und großen Bäumen, die diese
Holzkloben einmal gewesen waren. Von dem Blick, den sie
als Bäume gehabt hatten, auf die Brüder und
Schwesterbäume und das Land zu ihren Füßen und in der
Ferne.
„Du nicht denken müssen, das alles ist vergessen. Nix is
vergessen. Träume und Erinnerungen stecken alles noch in
dieses Holz hier.“
Wenn Mattes durch den Kuhstall ging, hatte er für jedes
Tier ein gutes Wort. Er kannte sie alle. Jede war für ihn
unverwechselbar und einzigartig im Aussehen und im
Wesen. Den meisten von ihnen hatte er auf die Welt
geholfen und ihnen allen Namen gegeben. So kam es, dass
die Kühe von Alfons Bucher nicht Helga, Susi oder Heidi
hießen, sondern Olga, Tatjana oder Swenja. Wenn er im
Mittelgang zwischen den Kühen stand und sie ihm alle
erwartungsfroh durch die Metallhalterungen ihre Köpfe
zuwandten, dann erzählte er ihnen vom Wetter draußen,
vom Futter, das er ihnen geben würde, und was aus ihrer
Milch alles entsteht würde und wie froh die Menschen
wären, ihre Milch trinken zu können.
Es gab für Mattes keinerlei Zweifel, dass die Kühe ihn
verstanden. Er war sich sicher, sie mochten ihn genauso,
wie er sie. Kam er an seiner Lieblingskuh vorbei, sagte er:

„Oh, Luba, was Du bist scheenes Viech. Wenn ich wär
Bulle, ich Dich tät nämmen.“
Gleich nachdem Mattes als Hilfe auf den Hof von Alfons
Bucher gekommen war, merkte dieser, dass Mattes ein
Mann mit vielerlei Begabungen war. Sowohl in
handwerklicher als auch in geistiger Hinsicht. Er konnte
wunderbar schnitzen. Ein besonders schönes Stück war
eine Holztafel, auf der er die Namen des Bauern und seiner
Frau herausgearbeitet hatte. Er hing sie an zwei kurzen
Ketten unter den Bogen des Hoftors.
–Alfons und Hedwig Bucher – stand da. Mattes, der nur
kyrillische Buchstaben kannte, hatte sich die deutschen
Buchstaben maßstabgerecht auf Papier gemalt, sie
ausgeschnitten und auf ein Brett geklebt. Dann trug er das
Holz rund um die Buchstaben gleichmäßig ab, so das die
Wörter erhaben heraus traten. Zum Schluss bemalte er die
Namen in kräftigem Grün.
Nachdem das Schild zwei Jahre lang über dem Eingang
zum Hof gehangen hatte, bekamen die Buchers ihr erstes
Kind. Mattes schnitzte ein weiteres Schild. -Daniela- stand
darauf. Er hing es mit drei Kettengliedern unter das Schild
mit den Namen ihrer Eltern. Dana freute sich, als er es ihr
später erzählte. Damit sie es auch erfühlen konnte, fuhr er
mit dem Traktor den Hänger unter das Tor. Auf die
Ladefläche stellte er die zweibeinige Leiter und mit der
blinden Dana auf dem Arm stieg er so hoch, dass sie es
ertasten konnte. Sie spürte, wie es sich bewegen ließ und
strich mit den Fingern über die erhabenen Buchstaben ihres
Namens.
Gut, dass das große Brett so stabil war, denn mit der Zeit
hing Mattes noch weitere Namensschilder darunter.
Luba, seine Lieblinskuh, Nike, Danas Pony und der
Hofhund Zorro fanden sich auch dort verewigt. Wenn
Wind aufkam, dann klirrten und klapperten die Schilder,
dass man es weithin über den Hof hören konnte.
Auch Körbeflechten konnte Mattes. Dies hatte er von
seiner Mutter gelernt, damals, als seine Familie noch in
Sibirien lebte. Nach dem Unfalltod seines Vaters hatte die
Mutter beschlossen, sich umsiedeln zu lassen. Nicht, weil
sie kein Auskommen mehr hatten, sondern einzig, weil sie
an die Zukunft ihrer Kinder und der noch ungeboren Enkel
dachte. In Unkenntnis dessen, was auf sie zukam und in
vorausfühlender Liebe verzichtete die Mutter auf ihre
Heimat, den Beistand ihrer Verwandten und auf den ihrer
Freunde. Das Wohlergehen ungeborener Enkel war ihr
wichtiger als ihr eigenes. Nach der Ankunft in Deutschland
und der damit verbundenen verwirrenden Vielfalt der
Angebote wurde sie unsicher, ließ ihre zwei Töchter und
den Sohn über sich entscheiden. Sie schämte sich plötzlich
ihrer antiquierten deutschen Sprache, auf die sie in ihrem
sibirischen Dorf so stolz gewesen war. Es gab nicht wenige
Stunden, in denen sich Mattes Mutter verzweifelt nach
ihrer fernen Heimat sehnte. Jetzt wohnte sie bei ihrer
ältesten Tochter, die einen Jungbauern aus dem
Nachbardorf geheiratet hatte. Die früher stolze und
selbstbewusste Frau Mattes ging jetzt fast demütig ihrer
Tochter zur Hand. Sie wusch auch für ihren Sohn Mischa
die Wäsche, die sie ihm einmal pro Woche zu Fuß auf den
Hof von Bauer Bucher brachte.
Schon in der Heimat hatte sie ihrem Sohn das Flechten von
Körben beigebracht, der nun Dana zeigte, wie aus geraden
Weidenästen runde Körbe wurden. Mit dem Fahrrad, hinter
das mit einer Stange ein Kinderfahrrad angehängt war,
fuhren sie zu den Weiden am Badeteich. Mattes hatte ein
scharfes Messer mitgenommen. Bevor er die Weidenruten
abschnitt, ließ er Dana fühlen, wie aus den knorrigen
Fäusten die schlanken Gerten herauswuchsen.
„Leider muss ich schneiden Deine Haare, wir sie brauchen
für Körbe“ sagte er zu der Weide und jedes Mal, wenn er
eine der Ruten abgeschnitten hatte, sagte er zu dem Baum:

„Danke“.


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