E-Book, Deutsch, 580 Seiten
Wolfmann Als wir verschwanden
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-36693-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 580 Seiten
ISBN: 978-3-347-36693-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Johanna Wolfmann wurde in München geboren. Sie studierte Germanistik und Sozialkunde in Frankfurt am Main und hat viele Jahre im Marketing und Business Development gearbeitet. Sie ist freie Lektorin und Texterin. Unter Pseudonym hat sie Kurzgeschichten und Sachbücher geschrieben. »Als wir verschwanden« ist ihr erster veröffentlichter Roman.
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3
Anna schlug die Augen auf, drehte behutsam den Kopf. Als das schmerzhafte Pochen nicht einsetzte, stützte sie sich auf und griff zur Wasserflasche. Sie zwang sich, in kleinen Schlucken zu trinken, wartete auf den ersten Magenkrampf, aber auch der blieb aus.
Besser, eindeutig besser.
Sie setzte sich auf und dehnte den steifen Nacken. Als sie aufstand, spürte sie einen leichten Schwindel, der jedoch, wie die schwarzen Flecken vor den Augen, gleich wieder verschwand. Sie überquerte den Gang zum Steuerstand. Sämtliche Geräte hatten unverändert keinen Strom.
Okay, wo ist die Sicherung?
Es fiel ihr mit schlechtem Gewissen ein. Die Sicherung war in das Elektroschaltpaneel unterhalb der Steuerkonsole eingebaut. Anna ging in die Hocke und öffnete den zweitürigen Schrank. Die schwarzen Sicherungshebel zeigten alle nach oben.
»Wäre ja auch zu schön gewesen.«
Unter der Annahme, dass sie vielleicht alle unten liegen sollten, legte Anna einen Hebel nach dem anderen um, sah zur Kontrolle über die Bildschirme von Funk, Radar und GPS. Aber keiner zeigte irgendeine Regung. Sie drückte alle Hebel wieder nach oben und schloss die Schranktür. Schlecht, sehr schlecht, aber dann würde sie erst nach der Küste sehen und anschließend noch mal versuchen, den Motor zu starten.
Anna trug den Eimer nach oben und spülte ihn mit Meerwasser aus. Der Himmel war nicht nur vollständig bedeckt, so dicht, dass sie die Sonne nicht mal ahnen konnte, sondern dem Licht fehlte auch Intensität. Wahrscheinlich war es noch sehr früh am Morgen.
Sie hob das Fernglas und suchte konzentriert den Horizont ab. Luvseitig, backbord, lag fern am Horizont eine Wolkenfront. Dunkle Quellwolken türmten sich bis zu einer geschlossenen Stratusschicht. Anna ging zum Heck und sah steuerbord einen dunklen Strich oberhalb der Wasserlinie. War das Land? Sie würde gleich mal einen Blick auf den guten, alten Kompass werfen. Wenn dort Norden lag, dann war das ganz sicher Land.
Sie umrundete noch einmal das gesamte Deck, suchte diesmal nach einem Boot oder etwas, das vielleicht auf dem Wasser trieb. Aber soweit die Sicht reichte, nichts und niemand.
In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie etwas sehr Wichtiges einfach vergessen hatte: die Positionslichter. Sie hatte über Nacht in einem völlig unbeleuchteten Boot geschlafen. In ihrem gestrigen Zustand hätte sie ein anderes Schiff erst gehört, wenn es mit der Seacloud bereits kollidiert wäre. Allein bei der Vorstellung wurde ihr heiß und kalt, aus Angst, aber insbesondere aus schlechtem Gewissen.
Moment! Die Positionslichter hätten ja ohnehin nicht funktioniert.
(»Der Punkt ist, du hast nicht dran gedacht. Darum geht’s.«)
Mit einem Kopfschütteln scheuchte sie die Gedanken fort, konzentrierte sich auf die dunkle Linie. Anna ließ das Fernglas sinken, ging zum Cockpit und sah auf den Kompass in der Steuersäule. Tatsächlich, die dunkle Linie lag grob in Richtung Nord. Das genügte als Information.
Ja, ich weiß, Bruderherz, Missweisung und Fehlwinkel, aber es bleibt dabei: Das dort ist irgendwas zwischen Westnordwest und Ostnordost - folglich Küste. Mehr muss ich nicht wissen, denn wie du bereits bemerkt hast, will ich nur an Land, ganz egal wo.
Die dunkle Linie, vermutlich die italienische oder möglicherweise auch französische Küste, lag leeseitig. Anna würde also locker und entspannt mit einem Raumschots-Kurs starten und sich vielleicht sogar am Vormwind-Kurs versuchen können.
(»Vorm Wind zu segeln ist nicht ohne, das weißt du. Und der Wind nimmt zu.«)
Die Fahne am Heck und der Verklicker im Masttop bestätigten ihren Eindruck: Der Wind frischte auf. Was nicht verwunderlich war mit den dunklen Wolken in Südost.
Ich weiß, dass das eine Gewitterfront ist. Ich bin ja nicht blind.
Womit sich die Frage stellte, wie lange sie warten sollte – warten konnte.
Anna trat an die Steuersäule und bewegte ihre Hand zum Anlasser. Würde der Motor anspringen, dann wären eine Menge Probleme gelöst: Es gäbe Strom, Verbindung zum Festland, und sie könnte einfach der Küstenwache entgegentuckern oder die Seacloud zur Not schleppen lassen, denn allein und ohne Anweisungen die Segel zu setzen, würde Anna – wenn irgendwie möglich – gerne vermeiden.
Falsch gesetzte Segel konnten reißen, den Mast beschädigen oder das Boot in eine gefährliche Krängung bringen. Ein falsch gelenktes Boot unter Segeln konnte kentern. Und je stärker der Wind, desto heftiger reagierten Segel und Boot auf Fehler.
Sie ließ ihre Hand über den Anlasser schweben, blickte zu den dunklen Wolken am Horizont und spürte den kalten Wind im Gesicht. Fakt war, sie hatte keine Ahnung von Motoren. Sie wusste, wo der Dieselmotor der Seacloud stand, damit hatte es sich. Sollte er nicht (doch er wird!) anspringen, dann war’s das. Dann musste sie die Segel setzen und zusehen, dass sie schleunigst an Land kam. Denn was da hinten anrückte, würde unangenehm werden. Sie sah zurück zum Anlasser.
Spring an. Bitte, spring einfach an. Bitte!
Sie hielt den Atem an und drückte den roten Knopf nach unten. Vergeblich. Nichts rührte sich. Sie drückte noch mal, hielt ihn unten.
Shit-shit-shit!! Okay. Ganz ruhig. Eins nach dem anderen.
Sie würde sich eine Kanne Tee machen und versuchen, etwas zu essen. Und dann würde sie sich bereit machen müssen, die Segel zu setzen, ob ihr das gefiel oder nicht. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Frank, Markus und Sabine durch etwas aufgehalten wurden, das Anna bisher noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. Vielleicht hatte Walter einen Herzinfarkt gehabt und jetzt saßen die drei bei ihm im Krankenhaus. Unter normalen Umständen hätten sie Anna informiert, aber die war ja wegen des Stromausfalls nicht zu erreichen.
Schlimmstenfalls würden die drei zu diesen Koordinaten zurückkehren – das andere Boot hatte ja GPS – und die Seacloud nicht finden.
(»Was ist denn hier los?!«)
Unwetter, kein Außenkontakt, keine Ahnung, wo ihr seid. Gott! Was hätte ich denn machen sollen? Auf den Sturm warten?
Sie würde diesen elenden Bikini loswerden und sich vernünftige Unterwäsche und etwas Warmes anziehen und das Ölzeug rauslegen – sollte die Gewitterfront die Seacloud einholen, dann war an einen Klamottenwechsel nicht mehr zu denken. Und mit nassen Klamotten im Wind (korrigiere: Sturm) konnte es empfindlich kalt werden.
Anna füllte den Wasserkessel aus einem Fünf-Liter-Trinkwasserkanister, stellte den Kessel auf den Herd, drehte das Gas auf und drückte den Handanzünder. Sie drehte das Gas weiter auf, da sie die Flamme nicht sah. Aber da war keine Flamme, nur das deutlich hörbare Gasfauchen. Wieder drückte sie den Anzünder, der sein übliches Knacken von sich gab, aber keine Flamme entfachte. Anna drehte das Gas wieder ab und betrachtete den weißen Anzünder, auf dessen Unterseite eingeprägt war: »Fackelmann – Piezo Gasanzünder«.
(»Fun Fact: Piezo Gasanzünder funktionieren per elektrischen Funken.«)
Das ist unmöglich.
(»Ich hab’s dir gesagt.«)
Das ist nur ein Anzünder. Das bedeutet gar nichts.
(»Oh doch. Das bedeutet eine Menge, wenn schon der Anzünder nicht funktioniert. Das heißt –«)
Dass der Blitz in die ganze Welt eingeschlagen hat.
(»Exaktamundo.«)
Das ist das Unwetter. Oder vielleicht bündelt der Rumpf die statische Ladung und hält sie an Bord.
Anna legte den Anzünder neben den Topf. Sie ging den Flur entlang zu ihrer Kabine, wobei sie sich zwingen musste, nicht zu rennen. Sie öffnete die Tür, hinter der sie das übliche Durcheinander empfing, was nicht allein Markus’ Schuld war, da die Forward Cabin, die Kabine im Bug, in ihrer jetzigen Konfiguration eher einem Bettenlager als einem Schlafzimmer glich.
Anna krabbelte über das Bett und suchte in den Hängeschränken nach ihrer Uhr. Die Uhrzeiger standen auf 11: 13 Uhr. Oder 23: 13 Uhr, denn der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Anna hielt sich die Uhr ans Ohr, aber da war kein Ticken, kein Tacken, nur die Stille von toter, unbewegter Materie.
Die Taschenlampe. Wo ist die Taschenlampe?
Es war ein kleines Gerät, nicht größer als ein Golfball, mit einer Handkurbel. Anna schleuderte alles aus den Schränken, bis sie die Taschenlampe gefunden hatte. Sie kletterte zurück an den Bettrand und drückte auf den An-Schalter. Nichts.
Okay. Kurbeln. Sie klappte die Kurbel zur Seite und fing an zu drehen. Aber die Lampe flackerte nicht, wie sie es sonst getan hatte. Anna kurbelte und kurbelte, dann drückte sie wieder den An-Schalter. Nichts. Das kann sonst was bedeuten. Die Umkehrung des Faradayschen Käfigs...




