Wunsch / Schalansky | Verrufene Tiere | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 238 Seiten

Wunsch / Schalansky Verrufene Tiere

Ein Bestiarium menschlicher Ängste
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-4009-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Bestiarium menschlicher Ängste

E-Book, Deutsch, 238 Seiten

ISBN: 978-3-7518-4009-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ob nun die Angst vor Schlangen, die Abscheu vor Geiern oder der Ekel vor Spinnen - das menschliche Verhältnis zu vielen Tieren ist von tiefer Ablehnung geprägt. Ihr Ursprung reicht bis in eine mythische Vorzeit, in der sich der Mensch nicht zuletzt durchs Erzählen und Fabulieren von der Tierwelt losgesagt zu haben glaubte. Stephan Wunsch porträtiert zehn dieser schlecht beleumundeten, ja verrufenen Tiere. Seine Streifzüge führen ihn in das verschattete Reich boshafter Naturkunde - und in die Abgründe der menschlichen Psyche. Denn ein Bestiarium der verrufenen Tiere, das ist ein Katalog unserer Ängste, ein Spiegel unserer Unzulänglichkeiten, eine Vermessung offener Wunden - kurzum: eine hintergründige und lustvolle Menschenkunde von aasigem Geier bis falscher Schlange, von hinterlistiger Hyäne bis vampirischer Fledermaus.

Stephan Wunsch, 1968 geboren, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Er arbeitet seit 2002 als Puppenspieler, Figurenbildner und Regisseur in Aachen. Projekte über Vogelwesen, das Cambrium und die Tiefsee bilden einen Schwerpunkt seiner Arbeit.
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Spinnen


Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, da sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.

– SØREN KIERKEGAARD, Entweder – Oder

Nur wenige Tiere haben es als Auslöser von Angst und Ekel so weit gebracht, dass ein veritables Krankheitsbild nach ihnen benannt worden wäre. Die Angst vor Hunden, die Kynophobie, hat sicherlich einen berechtigten Ursprung: Viele Menschen werden jedes Jahr von Hunden gebissen, immer wieder kommt es vor, dass insbesondere Kinder von einem Hund angefallen und verletzt werden. So ein traumatisches Erlebnis kann Auslöser einer Phobie werden. Auch die Angst vor Katzen ist relativ weitverbreitet, wobei man sich vorstellen kann, dass in manchem Fall eine Kratzattacke in der Kindheit dahinterstecken mag. Auch Mäuse und Ratten als Schmarotzer und Krankheitsüberträger zu verabscheuen ist – diesseits regelrechter Panik – gar nicht unberechtigt. Das könnte man auch für die Angst vor Schlangen sagen, denn viele Schlangen sind giftig – allerdings nicht in unseren Breiten. Selbst die häufig vorkommende, ganz ungefährliche Ringelnatter ist selten anzutreffen. Und kaum jemand, der in Mitteleuropa unter Ophidiophobie, der Schlangenangst, leidet, dürfte dort jemals von einer Schlange bedroht oder angegriffen worden sein. Die Gründe für die verbreitete Schlangenangst müssen also woanders liegen als in persönlichen, traumatischen Erfahrungen. Man darf etwas Überindividuelles dahinter vermuten. Das gilt für die Spinnenangst umso mehr. Giftige Spinnen gibt es in Deutschland so gut wie nicht. So wird sich kaum ein Arachnophobiker finden, der von einem gefährlichen Erlebnis mit einer Spinne berichten könnte. Dennoch ist die panische Angst vor Spinnen die häufigste unter den spezifischen Phobien.

Ein Erklärungsversuch für Arachnophobie beruft sich auf eine genetisch verankerte Urangst. Experimente zeigten, dass wenige Monate alte Kinder auf Bilder von Spinnen und Schlangen mit Stressanzeichen reagierten. Die These der Urangst besagt, dass sich vor vielen Jahrmillionen Bilder von gefährlichen Tieren so fest in Primatenhirne eingebrannt haben, dass sie sich über Hunderttausende Generationen hinweg bis zu uns hin weitervererben konnten und uns daher unabhängig von individuellen Erfahrungen in einen instinkthaften Alarmzustand versetzen. Ein solches Phänomen kann man bei elternlos ausgebrüteten Hühnerküken beobachten: Wenn sie zum ersten Mal im Freien scharren dürfen, muss ihnen niemand sagen, was die Silhouette eines Raubvogels bedeutet. Sie geraten beim ersten Bussard ihres Lebens sofort in Panik und suchen Deckung. Niemand hat ihnen das beibringen müssen, und sie konnten sich auch nicht das Verhalten erfahrener Artgenossen zum Vorbild nehmen. Bestimmte Reize lösen instinkthafte Reaktionen aus, und wie das Huhn auf den Raubvogel könnte der Mensch auf die achtbeinige Silhouette der arachnidae, der Spinnentiere reagieren.

Doch nicht alle mit Arachnophobie befassten Wissenschaftler sind von der Urangst-These überzeugt. Spinnenangst scheint auch stark kulturell bedingt zu sein; dafür spricht, dass sie in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedlich stark ausgeprägt ist – und gerade in Regionen, in denen man tatsächlich auf gefährliche Giftspinnen treffen könnte, scheint sie weniger häufig. Das weist darauf hin, dass Spinnenangst vorwiegend erlernt und eher als Zivilisationsphänomen anzusehen wäre. Die Urangst-These setzt auch voraus, dass eine genetisch angelegte Spinnen-Alarmbereitschaft für unsere frühen Vorfahren einen relevanten Selektionsvorteil bedeutet hätte. Beim Hühnerbeispiel ist das sicher der Fall: Küken, die sich beim Anblick eines Hauptfressfeindes schnell verstecken, haben bestimmt eine messbar erhöhte Chance, ihre Gene weiterzugeben. Aber war der Tod durch Spinnenbiss bei unseren Ahnen eine so reale und häufig auftretende Gefahr, dass ein Spinnenvermeidungsverhalten ein evolutionär wirksames Plus ausgemacht hätte? Das ist schwer zu sagen. Spinnen sind entwicklungsgeschichtlich sehr alte Tiere und haben sich seit vielen Jahrmillionen kaum verändert; nichts spricht dafür, dass es in den Tagen der frühen Primaten wesentlich größere oder gefährlichere Spinnen gegeben hätte. Wenn kaum je ein Artgenosse von Spinnen getötet wird, ist es auch kein besonderer Überlebensvorteil, vor ihnen reflexhaft zu fliehen. Von Spinnen ausgelöste Panikreaktionen bei Autofahrern hingegen verursachen immer wieder schwere Verkehrsunfälle und sind somit – in den gemäßigten Zonen jedenfalls – gefährlicher als die Spinne selbst. Es scheint, als wäre die Abneigung, der Ekel, ja die schiere Panik vor Spinnen weder berechtigt noch rational erklärbar. Und wenn sie anerzogen, von Eltern auf Kinder übertragen wäre – so müsste sie doch in irgendeiner vorangegangenen Generation einen Grund gehabt haben. Aber welchen? Es gibt sehr viele Spinnen auf der Welt – auf einer artenreichen Sommerwiese soll man bis zu zweihundert Exemplare pro Quadratmeter finden können, und jemand hat errechnet, dass man sich eigentlich nie weiter als höchstens drei Meter von einer Spinne entfernt befindet. Doch die manische Angst der Menschen beantworten die Spinnen mit einer Gleichgültigkeit, die größer nicht sein könnte. Spinnen interessieren sich nicht im Geringsten für Menschen.

Für die Aufladung der Spinne mit finsteren Absichten könnte ihr Gestus, ihre eilige, bestimmte Art der Bewegung eine Rolle spielen. Sie verharrt lange bewegungslos, dann läuft sie plötzlich und entschlossen los, wenn es einen klaren Impuls dafür gibt. Die Spinne schlendert nicht. Sie ist nie unschlüssig. Die Spinne ist immer klar. Sie tut nichts ohne Sinn, und was sie tut, tut sie ohne zu zögern, schnell und zielstrebig. Ihre staksigen Beine arbeiten mit größter Sicherheit und Präzision, das Weben des Netzes folgt einem über Jahrmillionen perfektionierten Plan. Fehlerfrei und unaufgeregt, aber mit voller Konzentration überwältigt sie ihr Opfer, lähmt es durch einen gezielten Biss und fesselt es maschinenschnell mit vollendeter Fadenführung. Ihre Gestalt, mehr Zeichnung als körperliche Substanz, ist manifestierte Klugheit.

Schon immer haben Menschen Tiere betrachtet und sich Gedanken über sie gemacht. Dabei haben werktätige, produzierende Tiere den Menschen stets besonders zu denken gegeben. Während die meisten Tiere als Jäger und Sammler ihr Dasein fristen, fallen einige auf, indem sie kunstvolle Nester bauen, Dämme errichten, Baumhöhlen zimmern, Honig herstellen oder wenigstens Lieder singen. Solche Tiere machen dem Menschen ein besonderes Angebot, sich in ihnen zu spiegeln, und gewöhnlich genießen sie als redliche Handwerksleute besonderes Wohlwollen. Die Spinne nun verdient mit ihrer Webkunst ebenfalls Augenmerk, doch da sie ihre Fertigkeit und Raffinesse für arglistige Hinterhalte nutzt, werden ihr Hass und Verachtung zuteil. Das Einsiedlertum, verbunden mit großer Autarkie, geheimen Plänen und unerklärlichen Fertigkeiten, macht die Spinne zu einer hexenartigen Gestalt. »Hüte Dich vor dem Netz der Spinne, in ihrer Gewalt erleiden wir den grausamsten Tod. Sie ist herzlos und tückisch und läßt niemanden mehr frei«, so wird die junge Biene Maja gewarnt, doch umsonst: Mitten im Leben fühlt sie sich plötzlich von klebrigen, lähmenden Fäden umfangen. »Ihr Entsetzen war unbeschreiblich, als sie das Ungeheuer ganz ernst und still wie zu einem Sprung geduckt unter dem Blatt hocken sah. Die Spinne sah mit bösen funkelnden Augen auf die kleine Maja, in einer boshaften Geduld und grauenhaft kaltblütig. […] Schlimmer konnte auch der Tod selbst nicht aussehen als dieses braune, behaarte Ungetüm mit seinem bösen Gebiß und den hochstehenden Beinen.« In Waldemar Bonsels’ Insektengesellschaft hat die Spinne einen besonders hässlichen Part zu spielen. Der Autor zeichnet sie als grausame Diva, die der armen Maja noch maliziöse Vorwürfe macht, weil sie mit ihrem Gezappel das schöne Netz beschädigt hätte – empört muss man lesen, wie sich die treuherzige Maja auch noch dafür entschuldigt. Obwohl das Netz seinen Zweck genau dadurch erfüllt, dass ein Insekt sich darin verfängt, dichtet Bonsels der Spinne neben diabolischer Pragmatik noch die Eitelkeit einer Künstlerin an, die ihr wunderbares Werk am liebsten unversehrt erhalten möchte.

Wunderbar sollen auch die Fertigkeiten der jungen Weberin Arachne aus Mäonien gewesen sein. Von nah und fern seien die Nymphen gekommen, erzählt Ovid, um ihre herrlichen Tuche zu bewundern. Man glaubte, nur Pallas Athene selbst habe ihre Lehrmeisterin sein können, doch diese...


Schalansky, Judith
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.

Wunsch, Stephan
Stephan Wunsch, 1968 geboren, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Er arbeitet seit 2002 als Puppenspieler, Figurenbildner und Regisseur in Aachen. Projekte über Vogelwesen, das Cambrium und die Tiefsee bilden einen Schwerpunkt seiner Arbeit.

Stephan Wunsch, 1968 geboren, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Er arbeitet seit 2002 als Puppenspieler, Figurenbildner und Regisseur in Aachen. Projekte über Vogelwesen, das Cambrium und die Tiefsee bilden einen Schwerpunkt seiner Arbeit.

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.



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