Wurmdobler | Felix Austria | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Wurmdobler Felix Austria

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7076-0864-9
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0864-9
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Der Mensch ändert sich nicht«, sagt Felix, hedonistischer Titelheld in Christoper Wurmdoblers neuem Roman. Vielleicht hat er recht, der Felix. Nur dass er zu Beginn der Geschichte noch nicht weiß, dass er immer schon ein anderer war ... Eine Erzählung u?ber queere Identitätsfindung im langen 20. Jahrhundert, u?ber heimliche Beziehungen und spätes Glu?ck, zwischen Wiener Nachkriegsmief und kalifornischem Camp, voller u?berraschender Wendungen und unerhörter Begebenheiten. Mit Felix Austria gelingt Christopher Wurmdobler ein vielstimmiges Plädoyer fu?r die Überwindung der Scham und den Mut zur Wahrheit in schwierigen Zeiten. Ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklich machender Roman u?ber das Politische der Liebe und die Kraft des Erzählens.

Christopher Wurmdobler, geboren 1965 in Freiburg i. Br., studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und war Journalist, u. a. fast 20 Jahre fu?r den Falter. Er spielt immersives Theater im 2020 mit einem Nestroypreis ausgezeichneten Ensemble Nesterval und lebt als freier Autor in Wien, zuletzt erschienen die Romane »Solo« (2018) und »Reset« (2019).
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DAVOR


Als Felix seine Augen wieder öffnete, war er in Amerika. Fast. Auf dem Frachtschiff, in dessen Bauch er die letzten Wochen verbracht hatte, lag er auf seiner Matratze und hörte, wie die anderen Männer munter wurden. Das Brummen, das sonst immer eintönig tief unten aus dem Maschinenraum durch die stählernen Wände dröhnte, hörte sich anders an. Aufgeregter, unruhiger. Obwohl es noch weit vor Sonnenaufgang sein musste, die Nachtruhe längst nicht vorüber war, wurde es hektisch an Bord. Eine Mäusefamilie nutzte die Situation, dass sich gerade niemand für sie interessierte, und spazierte seelenruhig zwischen den Lagern der Seeleute umher auf der Suche nach Brotresten.

Felix setzte sich auf. Die Wolldecke über den Schultern, hockte er da und rieb sich die Augen. Amerika, dachte er, da draußen war New York, vielleicht passierte das Schiff schon diese kleine Insel mit der berühmten Freiheitsstatue. Unter der fensterlosen Kajüte waren die Motoren zu hören, die die Fahrt verlangsamten, dazu das Gerenne und Geschiebe der Männer. Nach den Tagen der Lethargie, der eingespielten Routine, der harten Arbeit und der Erschöpfung schienen plötzlich alle in Eile zu sein. Felix begann ebenfalls, sein Zeug zusammenzupacken. Endlich würde er von Bord gehen. Viel gab es nicht zu packen, im Rucksack war ja kaum Platz gewesen.

Das Stück Seife fiel zu Boden, das ihm die Mutter beim Abschied in die Hand gedrückt hatte, eingepackt in Seidenpapier. Gegen das Heimweh. Sauber bleiben, Felix, hatte sie gesagt, immer sauber bleiben, das waren ihre Worte – abgesehen vom Ratschlag, stets eine frische Unterhose zu tragen, das hatte schon einmal nicht geklappt, und bei den Mädeln vorsichtig zu sein. Haha. Jetzt die Seife. Raue Hände, die am Papier ziehen. Ränder unter den Nägeln. Knistern beim Auswickeln, Duft nach Zitrone und Sandelholz.

Mit seinen von der Drecksarbeit schwarzen Fingern fuhr Felix über die glatte Oberfläche. »Seifensiederei Suess, Wien-Stadlau« war in den kreisrunden weißen Klotz geprägt. Trotz der Drecksarbeit auf dem Frachter hatte er sie nie verwendet. Im Mannschaftswaschraum gab es eh geraspelte Kernseife, die auf der Haut brannte und mehr schlecht als recht ihren Zweck erfüllte. Seine Seife, seine Wiener Seife, die Seife der Mutter, die würde er schon für besondere Anlässe aufsparen. Noch einmal inhalierte er den frischen zitronigen Duft, wickelte das Stück sorgfältig wieder ein und packte es zurück in den Rucksack zu seinem anderen Zeug.

Heimweh, damit allerdings war die Mutter falsch gelegen. Er und Heimweh; und ausgerechnet nach Stadlau, dieses angehängte Dorf am Arsch der großen Wienerstadt. Nein, was Felix antrieb, war Fernweh, darum war er hier. Das Meer wollte er sehen, die Wüste, die Berge, echte Zitronenbäume, und Sandelholz riechen. Gab es in Amerika Sandelholz? Was war das überhaupt? Vielleicht würde er beim Film landen, in Hollywood, wer weiß. Einen Plan hatte Felix jedenfalls nicht gehabt. Aber einen Traum von Freiheit. Sehnsucht nach einem Land, in dem alles schneller, höher, weiter war. So weit, wie dieser Jesse Owens bei den Olympischen Spielen letztes Jahr in Berlin gesprungen war. Weltrekord. Ein Irrsinn, wie schnell der lief. Ebenfalls Weltrekord. Ja, nach Amerika wollte er und noch viel weiter. Jedenfalls weg von dort, wo er herkam. Wo er nicht hingehörte.

Auswandern, hatte ihm einer gesagt, wieso wanderst du nicht einfach aus. Auswandern. Felix, der keine Ahnung hatte, wie das ging, war ohne Schwierigkeiten von Wien bis nach Hamburg gekommen. Auch ohne Geld für die Eisenbahn. Er hatte in Gepäcknetzen geschlafen und sich durchgefragt, ob man irgendwo noch eine Arbeitskraft bräuchte. Weil Geld für die Passage besaß er keines. Aber er war kräftig und geschickt durch den vielen Sport im Verein, das machte schon Eindruck bei den Leuten am Hamburger Hafen. Schließlich hatte er sich anheuern lassen, Arbeit gegen Überfahrt, knapp zwei Wochen war das her. Und nun wartete dort draußen New York auf ihn.

Das Schiffshorn weckte die große Stadt, die er nur von Bildern in der Wochenschau kannte, bald würden sie anlegen. Fort hatte Felix wollen, die Enge seiner Heimatstadt hinter sich lassen. Gut möglich, dass er die Entscheidung allzu unüberlegt getroffen hatte, eine Entscheidung, die man vielleicht nur als Jugendlicher so leichtfertig und unüberlegt treffen konnte. Und jetzt war er also da. Amerika.

Jetzt war er also da, ohne Englisch zu können. Das bemerkte Felix, als er die fremden Stimmen am Hafen hörte. Nicht, dass er zu dumm dafür gewesen wäre, er hatte bloß keine Übung. Natürlich war ihm bewusst, dass es von Vorteil wäre, die Sprache zu beherrschen. In den letzten zwei Wochen hatte er sogar ein wenig gebüffelt und sich von Simon, der ebenfalls auf eigene Faust nach Amerika wollte, beim Ölen der Ankerketten ein paar Redewendungen beibringen lassen. »I am Felix from Austria« brachte ihn im Moment allerdings nicht weiter. Wie schnell sie hier sprachen!

Ein Mann hockte auf der Hafenmauer und brüllte ihm etwas entgegen. Es klang wie eine Frage. Also nickte Felix und grinste, worauf der Typ in Richtung einer halb verfallenen Lagerhalle deutete. Simon hatte gesagt, sie dürften auf keinen Fall den Weg über die Bürogebäude oder die Einwanderungsbehörde nehmen. Ohne Visum wäre das unmöglich, sie würden sie gleich wieder zurückschicken nach Europa. Besser wäre, die unübersichtliche Situation beim Entladen der Fracht zu nutzen und den Frachthafen an den Hallen vorbei durch ein Loch im hölzernen Zaun zu verlassen. Klar sei das verboten, aber die einzige Möglichkeit, ins Land zu gelangen.

Felix entdeckte seinen Kumpel, und sie nickten einander zu. Hoffentlich hatte der Kerl auf der Mauer ihnen wirklich den Weg raus aus dem Hafengelände gezeigt und verpfiff sie nicht noch bei den Aufsehern. Wachtürme gab es wohl, aber die schienen unbesetzt zu sein. Wo war jetzt dieses verdammte Loch im Zaun? Geduckt, im Halbdunkel, schlichen sie eine endlos scheinende Bretterwand entlang, die in sicher drei Meter Höhe auch noch mit Stacheldraht gesichert war. Räuberleiter und einfach drüberklettern war also keine Option.

Außer Atem blieb Felix stehen, während Simon weiterlief, als wäre nichts. Die Wochen an Bord ohne viel Bewegung machten sich bemerkbar. Er war nicht mehr in Form. Hundegebell. Wahrscheinlich würden gleich Wachleute auftauchen oder die Polizei. Doch was tat Felix? Er lehnte sich erschöpft an die hölzerne Wand – und hatte einen Mordsdusel. Ein paar Bretter schienen locker zu sein, der Zaun gab plötzlich nach. Durch eine Art Klappe, wie für ihn gemacht, fiel er auf die andere Seite des Zauns, rollte eine kleine Böschung hinab und landete unsanft auf seinem Allerwertesten.

Und so plumpste ein junger Mann aus Wien-Stadlau im Morgengrauen mitten hinein in den US-Staat New Jersey. Er lag auf dem Rücken und zappelte wie ein Käfer, blinzelte in die aufgehende Sonne. Schließlich rappelte er sich auf, zog die Schnallen seines Rucksacks fest, die sich gelöst hatten, und marschierte los. Ohne ein konkretes Ziel vor Augen. Weg ist das Ziel, hatte er gedacht, einfach nur weg.

Felix hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte. Wo er hingehen sollte. Seine Flucht aus dem Hafengelände war nicht vorbereitet gewesen, er hatte kein Wasser dabei, geschweige denn Proviant. Planlos lief er die staubige Straße entlang, auf der ihn gelegentlich ein Lastkraftwagen überholte, aber sonst kein Verkehr war. War es Sonntag? Vielleicht war es auch schon Montag. Er hatte kein Gefühl, wie lange er bereits unterwegs war, die Wintersonne stand jedenfalls schon hoch, er war hungrig, hatte Durst und keine Lust mehr, weiterzugehen. Er blieb einfach stehen, nahm den Rucksack ab, lehnte sich an einen Telegrafenmast, über ihm surrende Drähte, und schloss die müden Augen, als eine Windböe ihm Staub ins Gesicht blies.

Das war also dieses Amerika. Staub und Dreck, Surren und nichts los. Keine Menschenseele weit und breit. Er hätte seine große Fahrt wirklich planen sollen; nicht einfach nur weg und er würde schon sehen. So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, war es offenbar nicht. Obwohl es nicht seine Art war, so schnell aufzugeben, überlegte Felix, die Augen geschlossen, an den hölzernen Pfosten gelehnt, sogar einen Moment lang, einfach umzudrehen. Zurück zum Hafen, die Böschung hinauf durch die losen Bretter im Zaun, zurück zum Schiff und mit dem rostigen Kahn wieder nach Europa, Hamburg, Wien. Als wäre nichts gewesen. Wie in einem Film, den der Filmvorführer versehentlich falsch herum eingelegt hatte. So etwas hatte er einmal im Kino im Prater erlebt und es furchtbar komisch gefunden.

Felix sah seine bisherige Reise rückwärtslaufen, sah sich rückwärts aufs Schiff steigen, in sein Lager springen, schlafen, aus dem Bett kriechen, sah brackiges Wasser, das aus seinem Gesicht tropfte, sah sich in der Mannschaftsmesse den schlimmen...



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