E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Wurmitzer Es könnte schlimmer sein
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-903422-35-3
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
            ISBN: 978-3-903422-35-3 
            Verlag: Luftschacht
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
MARIO WURMITZER, * 1992 in Mistelbach, lebt in Wien, wo er Germanistik und Geschichte studierte. Er schreibt Prosa- und Theatertexte. 2018 erschien sein Roman Im Inneren des Klaviers. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er mehrere Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin 2015, den Osnabrücker Dramatiker:innenpreis 2017, den Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich 2020 und den Hauptpreis beim Stückwettbewerb Theatre & Science des Theaters Heilbronn 2021. Bei Luftschacht erschienen: Es könnte schlimmer sein (Roman, 2023) Im Inneren des Klaviers (Roman, 2018)
Autoren/Hrsg.
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Feuer
Der Strandabschnitt war im Besitz von Alpha Solutions. Die Betriebsausflüge führten uns meistens ans Meer, seltener in die Berge. Sie waren die einzige Möglichkeit, das Firmengelände zu verlassen, ohne die Anstellung bei Alpha Solutions zu riskieren. Thomas blieb die ganze Zeit in meiner Nähe. Er tat so, als versuche er, nicht von mir bemerkt zu werden. Als ich ihm zuwinkte, erschrak er und kam auf mich zu. Dicht neben meinem Liegestuhl blieb er stehen. Ich richtete mich auf.
„Hallo Anna! Das ist ja eine Überraschung.“
„Wieso?“
Er geriet kurz ins Stocken. Dann entschied er sich offenbar dafür, meine Bemerkung zu ignorieren.
„Bist du einsam?“, fragte er.
„Nein.“
Thomas nahm seine Sonnenbrille ab und schaute mich skeptisch an.
„Fehle ich dir noch nicht?“
„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Ich könnte dir verzeihen.“
„Nicht nötig.“
„Schön hier, nicht? Das Meer. Die Sonne.“
„Mhm.“
„Romantisch.“
„Na ja“, erwiderte ich.
„Sicher. Sehr romantisch.“
„Wenn du meinst.“
„Gut, ich gehe dann wieder. Mein Handtuch liegt dort drüben“, sagte er und zeigte in die Ferne.
Leider begann es bald zu regnen, weshalb die Vorträge in die Busse verlegt wurden. Ein wesentlicher Bestandteil jedes Ausflugs waren Reden, durch die wir motiviert werden sollten. Diesmal ging es um den Glauben an die eigene Kraft, den man nie verlieren dürfe. Geleitet wurden die Vorträge von den Entertainern. Die mochte ich nicht besonders, weil sie andauernd so taten, als seien sie besonders gut gelaunt. Man konnte ihnen nicht trauen. Sobald man sie nicht anlächelte, war man in ihren Augen bereits ein destruktives Individuum und wurde wegen teamgeistvernichtendem Verhalten gemeldet. Wir saßen dichtgedrängt in den Bussen und schauten ab und zu nach draußen, wo ein Sturm tobte, während die Entertainer erzählten, wir müssten die Kraftquellen aufspüren, die sich in uns befänden. Da erfasste mich die Traurigkeit mit voller Wucht. Ich war mit einem Mal so niedergeschlagen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Warum waren wir hergefahren? Was hatten wir hier zu suchen? Wir waren nicht dazu auserkoren, am Strand zu liegen. Unsere Bestimmung war die Arbeit. Nichts sonst. Absolut nichts erschien mir noch sinnvoll. In diesem Augenblick murmelte hinter mir jemand:
„Jetzt reicht es mir endgültig.“
„Was?“, fragte ich, während ich mich umdrehte.
„Schöne Hose. Ich habe gesagt, du hast heute eine schöne Hose an“, sagte eine junge Kollegin, die mich zu kennen schien. Ich versuchte, sie einem Team, einer Abteilung, einem Wohnblock zuzuordnen, aber es gelang mir nicht.
„Das hast du nicht gesagt.“
„Doch.“
„Es muss doch noch mehr geben als das hier, oder?“, flüsterte ich ihr zu.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Oh doch.“
„Kann schon sein.“
Sie wandte den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster. Ich drehte mich wieder nach vorne. Mir wurde von Tag zu Tag klarer, wie viele Unzufriedene es in der Belegschaft gab. Bisher war mir das nicht aufgefallen. Natürlich war es niemals ein Thema gewesen. Früher hätte es keiner von uns gewagt, auch nur anzudeuten, dass man nicht rundum glücklich sei. Wir hatten stets so getan, als wäre das Leben auf dem Firmengelände perfekt. Nun fingen manche an, Bedenken zu äußern. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass auch ich zu den Zweiflern gehörte. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich es jedoch niemals gewagt, etwas zu unternehmen. Ich hätte mich von meinen Emotionen zu keiner Handlung hinreißen lassen. Deshalb stufte ich mich als unbedenklich ein. Ich war für Alpha Solutions keine Gefahr. Wäre ich zu einem anderen Fazit gelangt, hätte ich mich damals wahrscheinlich selbst gemeldet. Immerhin war ich weiterhin davon überzeugt, zum Wohle von Alpha Solutions beitragen zu müssen.
Andere waren weiter als ich. Auf der Rückfahrt sahen wir schon von weitem, dass über dem Firmengelände Rauch aufstieg. Unruhe breitete sich aus. Alle riefen durcheinander. Verschiedene Theorien, was geschehen sein könnte, wurden entwickelt, während die Busse auf das Gelände zurasten. Eines der Lagerhäuser stand in Flammen. Die wenigen Kollegen, die nicht an dem Ausflug teilgenommen hatten, weil sie den Betrieb aufrechterhalten mussten, waren mit den Löscharbeiten beschäftigt. Wir sprangen aus den Bussen und halfen ihnen. Als der Brand gelöscht war, begab ich mich auf die Suche nach Sven. So schnell ich konnte, rannte ich zur Müllverbrennungsanlage. Aber er war nicht an seinem Arbeitsplatz. Auch die anderen Jugendlichen fand ich nicht. Also lief ich zum Gesundheitszentrum. Ich vermutete ihn im Fitnesscenter im zweiten Stock. Dort verbrachte er meines Wissens viel Zeit. Sven war nirgendwo zu sehen. Niemand war hier. Natürlich nicht. Immerhin waren alle in heller Aufregung wegen des Brandes. Als ich das Fitnesscenter gerade verlassen wollte, hörte ich hinter der Tür zu einer Abstellkammer ein Geräusch. Ich öffnete sie vorsichtig. Da stand Sven und schlug auf einen von der Decke hängenden Boxsack ein. Die Besen und Eimer, die sich ansonsten hier befanden, waren weg.
„Was machst du hier?“
„Ich habe beim Workout gerne meine Ruhe“, antwortete Sven.
Er drosch noch ein paarmal auf den Boxsack ein, ehe er sich mir zuwandte. Er zog die Boxhandschuhe aus. Schweiß tropfte ihm vom Kinn.
„Wart ihr das?“
„Was sollen wir gewesen sein?“
„Habt ihr das Feuer gelegt?“
„Es hat gebrannt? Wo denn?“, fragte er und lächelte.
„Stell dich nicht dumm.“
„Ach, so ein kleines Feuer, das wird nichts ändern, oder?“, sagte er und schaute mich herausfordernd an. Er testete mich, wollte mich aus der Reserve locken. Sven sah in mir etwas, das ich weiterhin leugnete.
„Nein, wird es nicht. Was soll es schon ändern?“
„Ich muss jetzt weitertrainieren. Immerhin ist unser Körper ein Teil des Kapitals des Unternehmens. Wir gehören uns noch nicht selbst, das dürfen wir nie vergessen“, sagte Sven.
„Noch nicht?“
„Vielleicht werden wir uns eines Tages gehören, wer weiß.“
Er zog die Boxhandschuhe wieder an und wandte sich von mir ab.
„Der Verdacht wird auf euch fallen.“
Sven beachtete mich nicht mehr. Manchmal kam es mir so vor, als verfolge er einen penibel ausgearbeiteten Plan. Manchmal wirkte es, als habe er den Verstand verloren und könne nicht ansatzweise einschätzen, in welcher Gefahr er schwebte. Wenn jemand dem Unternehmen schadete, wurden ehemalige Freunde und Kollegen schnell zu Feinden.
Ich setzte mich auf einen der Stühle im Eingangsbereich des Fitnesscenters und starrte auf die Dutzenden Reihen an Crosstrainern. Auf Fitness wurde bei Alpha Solutions viel Wert gelegt. Wir trainierten mindestens dreimal pro Woche. Wir vergaßen auf keine Muskelgruppe. Wir holten das Beste aus uns raus. Wir achteten auf unsere Ernährung, schliefen ausreichend, hielten uns strikt an die Trainingspläne. Manchmal kippte jemand während des Trainings um. Die sah man dann nie wieder. Aus dem System fallen, nannten wir das.
Das Verschwinden hatte bei Alpha Solutions eine lange Tradition. Ab und zu verschwand jemand, so war das nun einmal. Wir hatten uns daran gewöhnt. Wir sprachen nicht darüber. Für das Verschwinden konnte es unterschiedliche Gründe geben. Entlassungen, Versetzungen oder auch Beförderungen. Wer ins Management aufstieg, ließ sein altes Leben still zurück. Nichts war für immer. Wir spürten in jedem Augenblick, den Erwartungen, die in uns gesetzt wurden, genügen zu müssen. Wer das nicht schaffte, verschwand. Ich befürchtete, Sven und die anderen Jugendlichen nie wiederzusehen.
Um mich hatte ich keine Angst, vielmehr betrachtete ich mich als Bedrohung. In mir machte sich der unauslöschliche Wunsch breit, frei zu sein. Bei Alpha Solutions nannten wir dieses Bedürfnis Egoismus. Der Wunsch nach Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben, der Hang zu Individualismus, überhaupt jede Form von Selbstverwirklichung seien nichts weiter als eine Auflehnung gegen die Gemeinschaft. Das zu begreifen, fiel manchen von uns nicht leicht. Aber wir ließen uns überzeugen. Letztlich gaben wir vor, zu verstehen, was wir mitgeteilt bekamen. Wir nahmen alles hin. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit gewesen, das Gelände in Brand zu setzen. Ich wunderte mich über mich selbst und musterte mein Spiegelbild. Die Spiegelwände im Fitnesscenter hatte ich noch nie gemocht. Die verschwitzten Leiber, die verbissenen Gesichter. Wir sahen unglücklich aus, wenn wir trainierten. Wir wurden den...




