E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Zeindler Noahs Erben
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7245-2013-9
Verlag: Reinhardt, Friedrich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-7245-2013-9
Verlag: Reinhardt, Friedrich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Peter Zeindler hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und mit einer Arbeit zum Thema «Der negative Held im Drama» promoviert. Zeindler war während mehreren Jahren Kulturredakteur und Moderator am Schweizer Fernsehen und bei Radio DRS sowie freier Mitarbeiter deutscher Fernsehsender. Er ist Verfasser von Theaterstücken, Hörspielen, TV-Drehbüchern (u.a. für die Reihe «Tatort»), Opernlibretti, Chansontexten und 15 Romanen, die vorwiegend dem Genre Agententhriller zugeordnet werden. Für vier Romane wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Auch von der Stadt Zürich erhielt er Preise und Werkaufträge. 1996 wurde ihm der «Ehrenglauser» für sein literarisches Gesamtwerk verliehen.
Autoren/Hrsg.
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Seit drei Tagen beobachte ich diese Frau. Heute folge ich ihr auf Distanz hinunter zum See, wo sie sich auf der Uferpromenade auf eine Bank setzt, scheinbar versunken in den Anblick der orangefarbenen Bojen, die zwischen den mit blauen Planen bedeckten Segelbooten torkeln. Langsam hebt sie den Arm auf Kopfhöhe, greift in ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar und fingert sich mit Daumen und Zeigefinger den einzelnen Strähnen entlang abwärts, bis ihr die letzte Haarspitze entgleitet und die Prozedur von vorn beginnt. Immer wieder. Doch dann unterbricht sie dieses Ritual und wirft einen kurzen Blick auf ihre Uhr, nickt, scheinbar zufrieden, dass die Zeit des Wartens endlich ausgestanden ist.
Sie gibt sich einen Ruck und schwingt ihre schlanken Beine über die Sitzfläche, die auf zwei weit auseinanderstehenden Betonklötzen fixiert ist. Den See im Rücken hebt sie erneut ihren rechten Arm, berührt mit dem Zeigefinger ihre Stirn, dort, wo sie eine Haarsträhne kitzelt, tastet sich dann über die Schläfe nach unten, ihre Fingerspitze verharrt kurz im Mundwinkel und hakt sich endlich in der Halskuhle ein, wo sie ihren dunkelblauen Schal übereinandergeschlagen hat. Dieser bedächtige Bewegungsablauf lässt darauf schliessen, dass ihr Leben nicht hektisch verläuft, dass die Frau in sich ruht, immer wieder Pausen einlegt, in denen sie vielleicht das Stück Leben reflektiert, das sie soeben absolviert hat, und sich dann zurückzieht in ihre eigene Welt, in der sie sich aufgehoben fühlt. Nur ihre abschliessende Kopfbewegung, dieses leichte Anheben des Kinns, den Blick hinaus auf den See gerichtet, dann die leichte Drehung in südlicher Richtung, ins gleissende Sonnenlicht, deuten darauf hin, dass sie noch Sehnsüchte hat. Ihre Art, sich zu bewegen, ist nicht kokett. Vielleicht deshalb, weil sie nicht weiss, dass ich sie beobachte.
Nein, ich bin kein Stalker. Vielleicht wäre «Beschatter» der passendere Ausdruck. Sie ist ja eine Agentin. Das hat sie auf Ihrer Website augenzwinkernd erläutert: «Ich bin die Frau, die Sie suchen. Sie finden mich, wenn Sie jemanden brauchen, der zu Ihnen steht. Sofern Sie mich von sich überzeugt haben. Und dann werde ich andere von Ihnen überzeugen.»
Julia Erler ist Literaturagentin und legt renommierten Verlagen Manuskripte von angehenden oder gestandenen Autoren vor, sofern sie ihren eigenen literarischen Kriterien standhalten.
Ihre rechte Hand verschwindet jetzt in ihrer grossbauchigen Handtasche. Sie kramt darin herum, zieht ein paar zusammengeheftete Blätter heraus und faltet sie auseinander. Ihr Körper versteift sich, als sie zu lesen beginnt. Doch schon bald bricht sie die Lektüre ab, rollt die Blätter wieder zusammen und stopft sie mit einer resoluten Bewegung in die Tasche. Sie wirkt jetzt wie verwandelt. Die Anmut scheint von ihr abgefallen zu sein, hat sich auch schon verflüchtigt, als sie die Zettel überflogen hat.
Diese Veränderung im Ausdruck dieser Frau habe ich in den drei Tagen, in denen ich ihr immer wieder auf Distanz gefolgt bin, schon mehrfach festgestellt. Und jedes Mal packte mich in diesem delikaten Augenblick trostlose Ernüchterung, wurde ich vom hingerissenen Zuschauer zum kritischen Beobachter. Erst wenn ich bis gegen Mitternacht vor ihrem Wohnhaus stehe, immer wieder ihre Silhouette an einem der Fenster im Hochparterre vorbeihuschen sehe und warte, bis das letzte Licht erlischt, finde ich in diese vibrierende, sehnsuchtsvolle Stimmung zurück, in der mich alle Vorbehalte wieder verlassen und ich mich in ihrer Nähe aufgehoben fühle. Dann kehre ich glücklich und hoffnungsvoll ins Hotel zurück, in dem ich für vier Nächte abgestiegen bin, und schreibe wie im Rausch an meinem Roman weiter, bis es vom fernen Kirchturm her drei Uhr schlägt. Um acht Uhr morgens lasse ich mich wecken; denn ich will rechtzeitig wieder zurück sein, wenn meine Muse die Fensterläden ihres Schlafzimmers öffnet, das Fenster aufreisst, sich weit hinausbeugt, dreimal tief Atem holt und den Kopf schräg hält, als ob sie auf ein bestimmtes Geräusch warte, auf eine Vogelstimme vielleicht. Bisher habe ich nie einen zweiten Kopf, den eines Mannes, an ihrem Schlafzimmerfenster gesehen. Das ist beruhigend. Eine halbe Stunde später sitzt sie nahe am Fenster in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, Ich weiss, dass es ihr Arbeitszimmer ist, weil ich einen Ausschnitt davon im Internet gesehen habe.
Julia dreht langsam den Kopf, steht auf und entfernt sich in Richtung Stadtzentrum, bleibt dann aber noch einmal stehen, schaut sich um, hebt die rechte Hand, winkt einem etwas gebeugt gehenden älteren Mann zu, der ihr entgegenkommt, umarmt ihn flüchtig und zieht ihn dann mit sich fort. In diesem Augenblick stürzt sich ein Schwarm von Möwen auf die Bank, wo Julia zuvor gesessen hat, lässt sich flügelschlagend kurz nieder und stiebt dann wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Nur ein einzelner Vogel bleibt zurück und würgt ein vergessenes Stück Brot in sich hinein. Wind ist aufgekommen; eine Polizeisirene zerstört die Idylle. Die Möwe hebt schreiend ab.
Hat der schon etwas angegraute Mann, mit dem Julia Erler an diesem Nachmittag im März am See verabredet war, sie als zukünftiger Autor in ihrem Stall zu überzeugen vermocht? Noch gibt es keine Anzeichen, die dafür sprechen. Mir fällt auf, dass beider Schrittrhythmus nicht synchron ist. Er bewegt sich im Synkopentakt auf ihrer rechten, der «falschen» Seite, was wohl für einen Mann seines Alters, aufgewachsen in einer Zeit, in der noch Wert auf korrekte Umgangsformen gelegt wurde, nicht selbstverständlich ist. Und er macht auch keine Anstalten, scheinbar zufällig oder absichtlich, nach ihrer Hand zu greifen oder sich bei ihr unterzuhaken, was darauf schliessen lässt, dass kein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen besteht.
Ich folge den beiden auf Distanz. Der Mann redet auf Julia Erler ein. Seine Armbewegungen werden immer hektischer, und oft bleibt er stehen, entweder, um Atem zu holen, oder, um sie zu einer frontalen Konfrontation zu zwingen, hat sie doch die ganze Zeit nur geradeaus geschaut, schien die Zwillingstürme des Grossmünsters im engeren Blickfeld zu haben. Doch seine Versuche scheitern; sie geht unbeirrt weiter, auch wenn er stehen bleibt und er sich beeilen muss, um sie wieder einzuholen. Später, als sie in der Nähe der grossen Strassenbahnhaltestelle am Bellevue die Fahrbahn überqueren, wirkt sie etwas verkrampft. Fürchtet sie sich vor dem Augenblick, wenn ihr der Mann im Restaurant gegenübersitzen wird und die Möglichkeit, seinen Blicken auszuweichen, eingeschränkt ist?
«Ich bin die Frau, die Sie suchen. Sie finden mich, wenn Sie jemanden brauchen, der zu Ihnen steht. Sofern Sie mich überzeugen. Und dann werde ich andere von Ihnen überzeugen.»
Ja, ich möchte Julia Erler von mir überzeugen. Die Frau fasziniert mich. Sie ist ungefähr in meinem Alter, irgendwo zwischen Anfang und Mitte vierzig. Ich möchte von ihr entdeckt werden. Doch ich werde jeden persönlichen Kontakt zu ihr meiden, bis sie mein Manuskript gelesen hat. Ich will sie beobachten, so lange, bis sie mir vertraut ist und jede Befürchtung, was ihr Engagement betrifft, von mir abgefallen ist. Deshalb möchte ich ihr nicht gegenübersitzen, wenn sie meinen Text zum ersten Mal liest. Ich kann mir vorstellen, wie sie reagieren wird: Zuerst würde mir wohl dieser Ausdruck freudiger Erwartung in ihrem Gesicht auffallen, der sich aber schon bald verflüchtigt, wenn sie sich zum ersten Mal im Text verhakt, noch einmal Anlauf nimmt, die Augenbrauen zusammenzieht, die Lippen schürzt und fast unmerklich den Kopf schüttelt. Und sollte sich diese Reaktion auf jeder Seite wiederholen, sie irritiert zurückblättert, kurz den Blick hebt, scheinbar verwundert registriert, dass der Autor des Manuskripts ihr gegenübersitzt, sich zu einem kurzen Lächeln zwingt, den Blick wieder senkt, entspannt weiterliest, bis sie ein nächstes Mal ins Stocken gerät, ist der Faden endgültig gerissen. Und wenn sie dann resolut einen Bleistift zückt, eine Textseite mit wilden Wellenlinien versieht, Ausrufezeichen setzt, weiss ich sicher, dass die Liebe bereits verhagelt ist, bevor sie aufkeimt.
Immer wieder frage ich mich, warum sie Literaturagentin geworden ist. Sicher hat diese Berufswahl mit ihrer Biografie zu tun. Sollte ihr Vater die dominierende Figur in der Familie gewesen sein, haben es Männer wohl schwerer als Frauen, ihren Ansprüchen zu genügen; entweder weil der Vater noch immer das Mass aller Dinge ist, oder weil sie sich endgültig von seinem Schatten befreien will. Oder steht sie noch immer unter dem Diktat einer fordernden Mutter, deren Gesichtszüge sie jeden Tag wiedererkennt, wenn sie in den Spiegel schaut, und denen sie dann mit einer Grimasse zu entkommen versucht?
Als ich ein paar Minuten später das Restaurant betrete, in dem die beiden verschwunden sind, sehe ich sie schweigend in einer Nische sitzen. Sie thront auf ihrem Stuhl wie eine Herrscherin, mit dem Rücken zur Eingangstür. Er hockt etwas gebeugt da, ein Glas mit Weisswein vor sich, das er mit beiden Händen umklammert hält. Sie hat einen Eistee bestellt, was darauf schliessen lässt, dass sie...




