E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Zeniter Kurz vor dem Vergessen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8270-8031-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8270-8031-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alice Zeniter wurde 1986 in Clamart geboren und wuchs in dem kleinen Dorf Champfleur auf, bis die Familie nach Alençon zog. Sie lebt heute in Paris und in der Bretagne. Schon als Schülerin schrieb sie ihren ersten Roman. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie an der École normale supérieure in Paris. Sie arbeitet(e) als Lehrerin und Dramaturgin (einige Jahre lang auch in Budapest). Internationales Aufsehen erregte sie mit ihrem fünften Roman, »Die Kunst zu verlieren«, mit dem sie es u.a. in die letzte Auswahl für den Prix Goncourt schaffte, den begehrten Prix Goncourt des Lycéens erhielt und außerdem im Jahr 2022 den wohl begehrtesten Preis für ein literarisches Einzelwerk, den Dublin Literary Award. Der Vorgängerroman »Kurz vor dem Vergessen«, war bereits mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet worden. 2020 erschien in Frankreich »Comme un empire dans un empire« (»Machtspiele«, 2023), 2022.
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DAS NAMENSPROBLEM
»Trotz seiner Schlafstörungen hatte Adrian Dickson Carr sich stets geweigert, vor dem Einschlafen Schäfchen zu zählen. Es war eine Grundsatzentscheidung. Ferien auf dem Land kotzten ihn an.«
Galwin Donnell, Süchtig(e)
Franck hatte Pech mit seinem Vornamen. Das wusste er. Manche Vornamen killen dich, sobald du sie bekommst. Noch in Momenten größter Seligkeit war Franck überzeugt, dass er unter einer anderen Identität ein besseres Leben führen könnte. Die Leute sahen ihn anders, als wenn er Guillaume oder Théo geheißen hätte. Sie sahen ihn so, wie er selbst die Kevins sah. Er fristete ein klägliches Dasein ganz unten in der Vornamenshierarchie.
Seine Mutter hatte ihm die Gründe ihrer Wahl nie erläutert. Oder er hatte sie nie verstanden. Sie behauptete, sie fände den Namen schön. Sie zählte ihm diverse Persönlichkeiten auf, die der Vorname Franck nicht daran gehindert hatte, erfolgreich und vergnügt zu sein: Sinatra, Zappa – trotz der großen musikalischen Diskrepanz, die das Nebeneinander dieser beiden Namen bedeutete –, Provost – der ein Haarimperium regierte – und eine Horde mit Titeln und Medaillen überhäufter Fußballer und Windsurfer. Seltsamerweise gehörte auch Benjamin Franklin zu ihrer Liste, als wäre sein Name Benjamin-Franck Lin gewesen – was Franck seine gesamte Kindheit über auch glaubte.
Während seiner Jahre auf dem Lycée hatte er versucht, diese schwärende Wunde zu vergessen, indem er sich in Rollenspiele stürzte. Dort nannte man ihn, wenigstens für einige Stunden, Herr der Berge, Krieger des verlorenen Königreichs, Oumane den Großen … Kurz verfiel er dem Schreiben von Space Operas, bei denen er nie über die ersten Seiten hinauskam, aus dem reinen Vergnügen, scharenweise Figuren mit Namen zu versehen, die etwas zu bedeuten hatten, mit strahlenden Identitäten. Eines Tages hatte er diese losen Blätter Émilie gezeigt. Er bewahrte sie immer noch auf, in einem Papphefter mit angestoßenen Ecken, und sie hatte sie interessant gefunden.
Doch diese Fluchten waren nur von kurzer Dauer, wie er jeden Morgen aufs Neue einsehen musste, wenn er im Unterricht aufgerufen und sein bürgerlicher Name heruntergeleiert wurde. »Franck Lemercier?«, fragte eine Stimme, der jeglicher Zauber abging. Er hob regelrecht widerwillig die Hand und hoffte jedes Mal für einen Sekundenbruchteil, dass ein anderer sich melden, die Verantwortung für diesen ihn so belastenden Namen übernehmen würde und dass er wie aus einem zu langen Albtraum erwachen und feststellen würde, dass er eigentlich anders hieß.
»Würde die Blume, die wir als Rose kennen, unter einem anderen Namen genauso gut duften?«, fragte eines Tages ihr zarter Englischlehrer, der sich damit abmühte, ihnen Shakespeare nahezubringen. Die Klasse verschlief derart unnütze Spitzfindigkeiten, Franck jedoch verstand die Frage des Dichters auf Anhieb. Und er hatte sie bereits beantwortet: Nein, natürlich nicht. Würden die Rosen Franck heißen, wäre viel weniger von ihrem Duft die Rede. Und vermutlich würden die Rosen/Franck, da man sie weder beschnupperte noch erwähnte – durch eine Art Darwin’sche Evolution –, allmählich allen Duft verlieren. Nichts und niemand rackerte sich ab, um Schönheit völlig umsonst hervorzubringen.
Man hatte Franck schon mehrmals vorgeschlagen, seinen Namen zu ändern. Er hätte nicht einmal den offiziellen Weg gehen, sondern die anderen einfach nur bitten müssen, ihn nicht länger Franck zu nennen oder seinen zweiten Vornamen zu verwenden, Joseph, den er von einem nur noch auf Fotos existierenden Großvater geerbt hatte. Einige Jahre nährte er bei jeder neuen Begegnung die schwache Hoffnung, dass er sich endlich einmal zum Lügen durchränge (und war es überhaupt eine Lüge, diesen Vornamen zu verschweigen, der nicht zu ihm passte und nichts über ihn aussagte?) und sich mit anderem Namen vorstellen würde. Doch er wusste, dass es zu spät war: Er war bereits zum Franck geformt worden, hatte die Komplexe und Unsicherheiten eines Franck übernommen. Ein neuer Name wäre nunmehr nichts als sinnlose Fassade.
Franck war Krankenpfleger. Wenn er den Leuten das erzählte, bemerkte er häufig, dass sie darin die Folge eines erfolglosen Medizinstudiums vermuteten. Als hätte er sich mangels anderer, angesehenerer Posten, die ihm entgangen waren, mit einer solchen Stelle zufriedengegeben. Er erklärte ihnen also vorsichtig, dass Krankenpfleger für ihn keine Notlösung war, sondern diese Berufswahl sich ihm schon sehr früh aufgedrängt hatte. Als sein Vater gestorben war, hatten die Pfleger einen deutlich besseren Eindruck bei ihm hinterlassen als die Ärzte – die Onkologen, die ebenso schnell auftauchten, wie sie verschwanden, als wären sie allzu rasch von den Patienten gelangweilt und sogleich auf der Suche nach einem neuen Spiel. Den Pflegern hingegen wurde der Kontakt mit der Krankheit niemals lästig (beteuerte Franck seinen Gesprächspartnern). Sie wussten, dass Heilen ein Job war, der langen Atem erforderte, viel eher Fürsorge als Wunderwerk. Es waren die Pflegekräfte, die das Leben in den rundum verkabelten Krankenhausbetten geduldig bewahrten, die die Familien, Vornamen und Gerüche der Kranken kannten. Franck hatte sofort gespürt, dass er ihrem diskreten und widerständigen Heer angehörte.
Es kam auch vor, dass die Leute ihn, nachdem er seinen Beruf genannt hatte, fragten, ob er unter seinem Kittel noch irgendetwas anhabe. Ihnen erklärte er nichts. Sie hatten es nicht verdient.
Neben dem Müllverschlag machte er eine Zigarettenpause (die zweite des Tages) und betrachtete die schwache Sonne, die noch schwankte, ob sie den Sommer beenden oder den Herbst einläuten sollte, und von den vielen verschiedenen Gedanken, denen sein Hirn nachzugehen versuchte, war er ganz durcheinander. Er sah die Zigarette zwischen seinen Fingern schrumpfen und war sich ängstlich bewusst, dass er keinen dieser Gedankengänge bis ganz zum Schluss verfolgen konnte, bevor er seine Kippe ausdrückte, und das rief noch eine weitere Überlegung in ihm hervor: Muss man es während der kurzen Pausen, die man sich im Laufe des Tages gönnt, schaffen, Ordnung in sein Leben zu bringen, oder sollte man sich besser treiben lassen und an gar nichts denken?
Oft hätte Franck das Leben gern wie einen Film verlangsamt und nur für sich selbst die Normalgeschwindigkeit beibehalten, um sich so einen Vorsprung zu verschaffen.
Er drückte die Zigarette auf dem grünen Plastik der Mülltonne aus und ging wieder hinein. In der Notaufnahme des Bichat-Krankenhauses herrschte wie üblich reinstes Chaos.
Im Eingangsbereich hockte eine dicke Dame mit einem ebenso dicken Koffer. Sie wartete darauf, dass man sich um sie kümmerte, und wirkte wild entschlossen, keinesfalls den ersten Schritt zu machen. Das wohl beleidigte Pflegepersonal tat daraufhin so, als wäre sie unsichtbar.
Auch Franck ignorierte sie und kehrte zu dem Patienten zurück, den er früher am Tag aufgenommen hatte: einen glücklosen Dieb, der von einem besser bewaffneten Ladeninhaber verwundet worden war. Die Pfleger hatten sich in eine Debatte darüber gestürzt, ob der Patient es quasi darauf angelegt hatte, spielten Juristen, um zu definieren, was noch unter Notwehr fiel und was nicht. Franck, der solche Diskussionen vor der Kaffeemaschine normalerweise schätzte, hatte sich nicht dazu geäußert. Für ihn war an jenem Tag jeder Mann mit einer Waffe und dem Vorsatz, sie auch zu benutzen, ein Schwachkopf, der zwei mögliche Resultate herausforderte:
- Sterben
- Franck den Tag versauen, indem er in der Notaufnahme des Bichat-Krankenhauses landete.
(Letzteres natürlich nur unter der Bedingung, dass sich Mann und Waffe im 17., 18. oder 19. Arrondissement oder in der Gemeinde Saint-Ouen befanden.)
Er hätte sich viel lieber nicht um von Kugeln zerfleischte Patienten gekümmert, denn am folgenden Tag würde er eine komplizierte, aber erfreuliche Reise antreten, und gern hätte er sich in Gedanken ausschließlich damit beschäftigt. Er hatte stets die Sorge, sich die Dinge im Voraus nicht reiflich genug zu überlegen, und damit einhergehend die Sorge, dass sie plötzlich vor ihm auftauchen und ihn überrumpeln könnten, bloß weil er sich nicht ausreichend vorbereitet hatte, indem er sie, ehe er sie lebte, von Anfang bis Ende durchdachte.
Sein Patient war bereits vor der Einlieferung ins Koma gefallen. Nach Meinung der Ärzte würde er wahrscheinlich nicht wieder daraus erwachen. Franck las in der Krankenakte, dass er neunzehn Jahre alt war. Man brachte keine Neunzehnjährigen um, verdammt. Das sollte ein allgemeiner Grundsatz sein.
»Ich denke mir oft, dass du zu lieb oder zu blöde bist, um diesen Job zu machen«, sagte Leïla, eine Pflegehelferin, beiläufig zu ihm, während sie ihm die Akte aus der Hand nahm.
Manchmal zeigte sie Anwandlungen bärbeißiger Sympathie, wenn sie Francks Verzweiflung bemerkte. Manchmal bot sie ihm auch Schokoladenkekse an. »Man könnte meinen, du fängst bei jeder schlechten Nachricht an zu heulen.«
Da hatte sie gar nicht so unrecht. Franck war oft nach Heulen zumute. Und nach Kotzen.
Frühmorgens, wenn er vom Nachtdienst kam, sah er sich Liebeskomödien oder Trickfilme an (am liebsten die vier Teile von Ice Age), bis die Bilder aus dem Krankenhaus durch jene blonder Schönheiten, blendend lächelnder Münder und durch und durch gutwilliger Tiere ersetzt worden waren. Er glitt dann langsam in eine Welt hinüber, in der es noch Mammuts und Dodos gab – eine Welt, in der aussterbende Tierarten überhaupt nicht denkbar...




