E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Abad La Oculta
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-946334-06-4
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-946334-06-4
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Héctor Abad Faciolince, geboren 1958 in Medellín, Kolumbien, wo er auch lebt. Er studierte in Italien und verbrachte dort nach der Ermordung seines Vaters 1987 weitere fünf Jahre. Seit seiner Rückkehr nach Kolumbien arbeitet Abad auch als Journalist, u.?a. als Kolumnist der Tageszeitung »El Espectador«. Zuletzt erschien bei Berenberg »Das Gedicht in der Tasche« (2011).
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Antonio
Früh an einem düsteren Wintermorgen klingelte bei mir in New York das Telefon. So früh rufen bloß Betrunkene an, die sich verwählt haben, oder jemand aus der Familie, mit einer schlechten Nachricht. Ersteres wäre mir lieber gewesen, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich meine Schwester Eva:
»Ich würde dich gerne aus einem anderen Grund anrufen, Toño, aber heute Nacht ist Mama gestorben, auf La Oculta. Pilar hat erzählt, gestern nach dem Abendessen hat sie gesagt, dass sie sich nicht gut fühlt. In der letzten Zeit hat sie sich ja jedes Mal nach dem Essen schlecht gefühlt, das weißt du selbst. Nichts ist ihr bekommen. Auf jeden Fall ist sie schlafen gegangen. Und als Pilar heute Morgen ganz früh nach ihr gesehen hat, lag sie tot im Bett.«
»Ich fahre sofort zum Flughafen und nehme die erste Maschine, die ich kriegen kann«, erwiderte ich.
Tiefe Trauer erfasste mich, wie eine dicke graue Wolke breitete sie sich in mir aus. Ein Stechen in Brust und Hals, dann traten mir Tränen in die Augen, unweigerlich. Wie alt war meine Mutter? Achtundachtzig, hatte sie zuletzt gesagt, aber sie machte sich immer um ein Jahr jünger, in Wirklichkeit war sie neunundachtzig. Dass sie sich mit fünfundzwanzig, als man sie zu Hause drängte, endlich zu heiraten, ein Jahr jünger machte, hatte einen gewissen Sinn. Später nicht mehr, später immer weniger, und mit neunundachtzig musste sie selbst über ihre Angewohnheit lachen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich sie in dieser Woche nicht angerufen hatte. Normalerweise skypten wir jeden Donnerstag. Alle wussten, dass sie am Donnerstagmorgen ihren Rechner einschaltete, weil sie meinen Anruf erwartete. Jon kam aus dem Bad, und als er mein Gesicht sah, fragte er, was los sei. Aber nicht mit Worten, seine Augen und Hände formulierten die Frage.
»Anita ist gestorben«, sagte ich auf Englisch, denn Jon und ich sprechen Englisch miteinander.
»Ich komme mit, wenn du willst«, sagte er. Er setzte sich neben mich und legte mir seine große weiche Hand auf den Rücken. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander. Schließlich sagte ich:
»Nein, keine Sorge, diesmal fahre ich allein.« Ich hatte einen Kloß im Hals und schluckte. »Besser, du konzentrierst dich auf deine Ausstellung. Meine Schwestern werden verstehen, dass du nicht mitkommst.«
Wir blieben noch eine Weile auf dem Bett sitzen und hielten uns schweigend an der Hand. Irgendwann stand ich auf, um mir die letzten E-Mails meiner Mutter noch einmal anzusehen. Die allerletzte war liebevoll und klar, wie immer. Rechnungsabgleich stand in der Betreffzeile.
»Mein Liebling, ich habe versucht, dich zu erreichen, aber das grüne Lämpchen war aus. Ich wollte dir bloß sagen, dass ich gestern mit einem deiner Schecks deinen Teil der Grundsteuer für La Oculta bezahlt habe. Außerdem habe ich 816.000 Pesos, also das, was du für Próspero und die Betriebskosten der Finca zu zahlen hast, auf Pilars Konto überwiesen. Drei von dir unterschriebene Schecks habe ich jetzt noch, du weißt schon wo. In jedem Fall habe ich weiterhin ein Guthaben in Höhe von 2.413.818 Pesos bei dir, das ich aber erst im April einlösen möchte, wenn ich meine Kreditkarte erneuern muss. Heute war ich bei Doktor Correa, und er hat gesagt, alles ist soweit in Ordnung. Im Augenblick habe ich auch nicht die geringste Lust zu sterben, obwohl ich wegen Evas Zustand manchmal traurig und mutlos bin. Letzte Woche hat sie gesagt, dass sie sich nun doch von ihrem Witwer trennen wird. Fast vier Jahre sind die beiden mittlerweile zusammen. Einerseits habe ich mich gefreut, schließlich ist der Altersunterschied einfach zu groß, fast zwanzig Jahre, da hätte sie im Alter niemanden an der Seite. Andererseits tut es mir leid, weil sie, seit sie mit ihm zusammen ist, einen zufriedenen Eindruck machte. Du hast auch gesagt, dass Eva glücklich wirkte, als die beiden letztes Jahr in New York waren, trotz des Altersunterschieds und des Rollstuhls. Und Weihnachten auch, du hast sie ja selbst erlebt, darum war es für mich auch eine Überraschung. Immer wenn Eva sich von jemandem trennt, ist es, als würde sie auf einen Schlag alles hinter sich lassen, sie ist dann jedesmal sehr deprimiert, und alle fragen sich, was wohl als Nächstes kommt. Herrn Caicedo fand ich durchaus nett und liebenswürdig, allerdings haben manche Leute gesagt, wenn man ihn so sehe, würde man eher denken, er sei mein Mann und nicht Evas Lebensgefährte. Oh je. Pilar hat das gesagt, letztes Weihnachten, und Eva hat gehört, wie sie es zu mir gesagt hat. Das hat sie sehr getroffen. Pilar ist zugegebenermaßen manchmal ziemlich unbedacht mit dem, was sie sagt. Na ja, am meisten beunruhigt mich jedoch, dass für Eva offenbar niemand gut genug ist. Andererseits ist sie ungern allein. Aber lassen wir das, dieses Thema macht mich sehr traurig. Am meisten freue ich mich darauf, dass du Ostern kommst. Dann ist der ganze Kummer bestimmt wie weggeblasen. Grüße bitte Jon von mir. Ich küsse dich, deine dich liebende
Ana.«
Alle Briefe meiner Mutter waren so, zärtlich und praktisch zugleich: Erst wurden die Zahlen geklärt, und dann folgten Dinge aus ihrem Leben und dem ihrer Töchter und Enkelkinder. Sie kümmerte sich um meine kolumbianischen Geldangelegenheiten, die fast alle mit der Finca zu tun hatten. Sie war beinahe neunzig, aber klarer im Kopf als meine Schwestern und ich. Und dass sie sich um meine Konten kümmerte, hielt sie erst recht wach. In anderen Mails sprach sie davon, dass möglicherweise ein Teil von La Oculta verkauft werden müsse, um die Schäden zu bezahlen, die entstanden waren, als bei einem Sturm ein Baum auf die Trinkwassertanks gestürzt war. Sie war dagegen, noch mehr von dem dazugehörigen Land zu verkaufen; wenn wir so weitermachten wie bisher, stünden wir am Ende bloß noch mit dem Haus da und wären von lauter Fremden umgeben. Andererseits war sie nicht bereit, die Kosten zu übernehmen, schließlich musste sie in ihren letzten Lebensjahren auf Erspartes zurückgreifen können. Das Problem war, dass Eva, die nur noch an Weihnachten auf die Finca kam, keinen einzigen Centavo mehr für Reparaturen ausgeben wollte. Gerade mal ihren Anteil an den Steuern, Betriebskosten und Gehältern übernahm sie noch. Sie war dafür, das Ganze zu verkaufen. Aber die Finca zu verkaufen hätte für Pilar das Todesurteil bedeutet.
Auch ich wollte die Finca nicht verkaufen, obwohl ich den größten Teil des Jahres in den USA verbrachte. Kolumbien, das war für mich: meine Mutter, meine Schwestern und La Oculta. Durch Anitas Tod hatte ich einen wichtigen Teil meines Lebens verloren. Zu meiner Überraschung war sie auf der Finca und nicht in Medellín gestorben, wo sie wohnte. Andererseits, wenn ich es recht bedachte, war es nur folgerichtig. Ohne sie, das wurde mir jetzt klar, hätten wir die Finca – die uns als väterliches Erbe zugefallen war – nicht halten können. Als wir uns kurz nach dem Tod Cobos, also meines Vaters, schon fast von ihr hätten trennen müssen, bewahrte meine Mutter, der eigentlich nicht das Geringste an diesem Stück Land lag, uns davor, indem sie ihre eigene Wohnung verkaufte. Und sie steuerte einen Teil der Einkünfte aus der Bäckerei für Umbauten und Reparaturarbeiten bei. Wie sie auch diejenige war, die uns jedes Jahr im Dezember mit der ihr eigenen Mischung aus Sanftheit und Entschiedenheit auf La Oculta versammelte. Sie lud uns alle ein, besorgte alles Nötige, kochte für alle und war während der gemeinsam dort zugebrachten Wochen die Sonne, deren Anziehungskraft sich die um sie kreisenden Planeten in Gestalt ihrer Kinder und Enkelkinder nicht entziehen konnten. Entsprechend schwierig war es, ja fast unmöglich, sich diesen Ort auf einmal ohne sie vorzustellen. Ohne meine Mutter, ohne ihre Fröhlichkeit, ihre Rezepte, ihre Einkäufe, würde es auf der Finca nie mehr sein wie zuvor. Es sei denn, jemand, Eva oder Pilar, übernahm ihre Rolle, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dazu bereit wären. Ich würde jedenfalls niemals die nötige Energie und Liebe aufbringen, um so wie sie die gesamte Familie an diesem Ort zusammenzuführen und zu vereinen.
Jon begleitete mich zum Flughafen und half mir bei der Buchung. Die Maschine, die direkt nach Medellín flog, war schon gestartet, also würde ich in Panama zwischenlanden müssen. Da meine Hände zitterten und ich nahezu unfähig war, Englisch zu sprechen, übernahm Jon alles für mich und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Wir umarmten uns lange, dann ging ich allein durch die Sicherheitskontrolle und zu meinem Gate. Ich musste warten, und so ging ich auf meinem Laptop die alten Fotos meiner Mutter durch, Jugendfotos, auf denen sie den Betrachter in ihrer ganzen Schönheit anlächelte, voller Energie und mit so viel Leben vor sich. Auf einem hielt sie mich als einjähriges Baby in den Armen, und wir sahen einander glücklich und verliebt in die Augen. Ich lud es auf meiner Facebook-Seite hoch, wo man heute ja die wichtigen Dinge...