Abate | Zwischen zwei Meeren | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 235 Seiten, E-Book Epub

Abate Zwischen zwei Meeren

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8412-0812-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 235 Seiten, E-Book Epub

ISBN: 978-3-8412-0812-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Magie der Träume.

Jeden Sommer reist Florian von Hamburg nach Kalbrien in das Heimatdorf seiner Mutter. Jeden Sommer zeigt Nonno Giorgio ihm dort die Ruinen der alten Familienherberge, die er wieder aufbauen will. Als es endlich so weit ist, steht schon die `Ndrangheta vor der Tür, um ihm ihren 'Schutz' anzubieten. Hilflos sieht Florian zu, wie sein Großvater, der sich gewaltsam zur Wehr gesetzt hat, von der Polizei abgeholt wird. Doch der Alte hat ihn längst angesteckt mit seinem verrückten Traum ...

In seiner melodischen Sprache besingt Abate die flirrende Landschaft Kalabriens, ihre Aromen, ihr Licht - ihre Ungerechtigkeit und die unbeirrbaren Visionäre, die sich davon nicht unterkriegen lassen.

'Carmine Abate fängt in seinem Roman atmosphärisch die Hitze des Sommers und das Brennen für einen Lebenstraum ein.' Brigitte.

'Faszinierender, feinfühliger Roman, der die flirrende Landschaft poetisch zum Leben erweckt.' Maxi.



Carmine Abate, geboren 1954 in Carfizzi, Kalabrien, emigrierte in seiner Jugend nach Deutschland und lebt heute als Lehrer im Trentin. Seit 1984 schreibt er Erzählungen, Gedichte und Romane. Vielfach ausgezeichnet, gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Italiens. Für 'Der Hügel des Windes' erhielt er 2012 den bedeutenden Premio Campiello.
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as Dorf stank nach Sommer. Die Hitze legte sich auf die Haut wie warmer Kleister, und trotzdem war Giorgio Bellusci zu seiner Reise aufgebrochen. Kein Erdbeben hätte ihn aufhalten können und kein Kanonenschuss. Er war aufgebrochen in eine Stadt, von der er nur den Namen kannte, Bari, und die Himmelsrichtung, der er folgen musste: nach Norden, über Metaponto hinaus, bis zur Küste eines Meeres namens Adria. In einer Straße dieser Stadt wohnte Patrizia Cassese, ein schönes Mädchen, das jeden Winter einen Monat lang mit ihrer Familie Ferien in Camigliatello machte, in einem Häuschen umgeben von Tannen, Kastanienbäumen und Schnee. Dort hatte Giorgio Bellusci sie kennengelernt, in einer Trattoria von Camigliatello, wo er quasi zu Hause war, weil er hier ganze Sommer lang seine Rinderherden weidete und mehr Freunde hatte als in Roccalba.

Er war gerade zweiundzwanzig geworden, und seine Eltern, die den familieneigenen Starrsinn in seinen Venen wohl kannten, versuchten gar nicht erst, ihn umzustimmen, umarmten ihn aber fest vor den Augen der versammelten Nachbarn, die im Chor murmelten: »Der Junge muss verrückt sein. Da oben in der Stadt werden die Brüder und der Vater dieser Patrizia ihm bei lebendigem Leibe das Fell gerben«, ungeachtet des Umstands, dass Patrizia keine Brüder hatte und der Vater als Stadtmensch mitnichten so eifersüchtig und rückständig war wie sie. Dann verbarrikadierten sich die Eltern hinter einer Fassade aus Stolz und begannen ihr Warten im selben Moment, in dem er auf seiner bis obenhin mit Essenspaketen, Wasser und Wein beladenen Vespa losfuhr.

Giorgio Bellusci fuhr über die in der Augusthitze erstickten Felder von Roccalba wie durch einen unruhigen Morgentraum. Zu seiner Linken, nahe den Fiumaren, erkannte er die Ruine des Fondaco del Fico, und seine Unruhe wuchs ins Unerträgliche. Er versuchte sie durch ein geträllertes Lied zu vertreiben, danach durch zwei Schlucke Wein; er versuchte es mit lautem Gelächter, das die Vögel und Zikaden verstummen ließ. Nichts. Die Unruhe wuchs. Also gab er Gas, fuhr so schnell er konnte und brüllte, als sei ihm der Tod auf den Fersen.

Erst als er zu seiner Rechten das glitzernde Meer erblickte, fühlte er sich wieder ruhig und glücklich. Und zum ersten Mal seit seiner Abreise dachte er an Patrizia: Vielleicht war sie ja schon verlobt oder gar verheiratet; vielleicht wollte sie ihn gar nicht mehr. Die Reise war eine Schnapsidee, das wusste er. Bei all den schönen Mädchen, die es in Kalabrien gab, ehrbar und aus gutem Hause, musste man da wirklich bis nach Bari fahren? Eine sinnlose Reise war es, und er war verrückt, das sagten alle in Roccalba, Frau und Vieh suchte man sich nach alter Redensart im eigenen Dorf, und dennoch fühlte er in sich die unbändige, wachsende Lust zum Aufbruch, er meinte fast, den Neid der anderen zu spüren.

Es war später Abend. Er stieg von der entkräfteten Vespa, gab ihr einen Klaps auf den Sattel und ließ sie auf einem Streifen trockenen Grases zwischen Strand und Straße verschnaufen. Zu Fuß lief er zum Meer und wusch sich das Gesicht und die staubigen Haare. Er hatte Lust, etwas zu essen, doch die Müdigkeit war stärker als sein Hunger. Er streckte sich auf dem warmen Sand aus und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte ihn das laute Hecheln eines Hundes mit rötlichem, schmutzstarrendem Fell. Nie zuvor hatte er gesehen, wie die Sonne dem Meer entstieg und es in ihr rotes, blendendes Licht tauchte. Mit gierigen Augen sog er den Anblick ein, atmete tief durch und sagte, an den fremden Hund gewandt: »Das Meer ist schön! Das Leben ist schön!« Dann setzte er seine Reise fort, hinter sich den Hund zurücklassend – Hase, Kaninchen, Maus, Fliege, Mückchen und schließlich nur noch Asphalt im Rückspiegel der Vespa.

Es geschah in der Ebene von Sibari, wenige Stunden nach seinem Aufbruch. Giorgio Bellusci hatte sich in die Felder geschlagen, fernab von der asphaltierten Straße. Er kauerte bequem hinter einem Gebüsch, verrichtete in aller Ruhe sein Geschäft und ließ die Gedanken nach Roccalba schweifen. Er entfernte sich von einem Leben aus Langeweile und einer Familie, die ihn zwar auf ihre Art liebte, zweifelsohne, ihn aber nicht verstand und seinen Plan, den Fondaco del Fico wieder aufzubauen, für eine Grille der Jugend hielt, die sich von selbst erledigen würde, sobald er heiraten würde und an Frau und Kinder denken müsste. In diesem Moment hörte er, wie der Motor der Vespa ansprang, gleich beim ersten Versuch. Er schnellte hoch und rannte zum Saumpfad hinter dem Gebüsch. Wie naiv er gewesen war. Aber wer hätte auch damit gerechnet, hier gab es keine Menschenseele weit und breit, nur Schwalben über dem Kopf und Zikaden in den Bäumen. Hurensöhne. Sie waren zu zweit, er sah sie in rasender Hast davonfahren mitsamt Motorroller, Essen und sämtlichen Flaschen, und mit seinem Geld, das er in dem Fach unter dem Sattel verstaut hatte. So keuchte er jetzt durch die staubige Hitze, zu Fuß und wüst fluchend. Wenn er die Flegel zu fassen bekäme, Gesindel und Diebespack, das sie waren, bekämen sie einen kräftigen Tritt in die Eier. Hurensöhne. Er wankte.

Hitze und Staub, mit Olivenbäumen und Feigenkakteen überzogene Hügel, Schafe und Schafhirten, und hin und wieder das Rinnsal einer Fiumara, das seinen Durst löschte und ihn erfrischte, bevor es zwischen flachen Steinen und Oleanderbüschen versickerte. Er wankte weiter, und wann immer die Straße zu einer Kreuzung wurde, blieb er benommen stehen und wusste nicht wohin, bis ein Hirte oder Bauer ihm im Vorbeigehen den Weg wies. Bei diesem Tempo würde er Bari erst in ein, zwei Monaten erreichen. Vielleicht auch nie, denn er hatte seit zwei Tagen kein Stück Brot oder Schinken mehr gegessen, und die Feigen, die er von den Bäumen am Wegesrand stahl, füllten ihm zwar für einige Stunden den Magen, sorgten dann aber auch bald für lautstarke, grünlich spritzende Entleerungen.

Schlimmer hätte seine Reise nicht beginnen können. Jeder andere an seiner Stelle wäre schleunigst umgekehrt, zumal ihm alle paar Schritte das drängende Verlangen nach Tagliatelle mit scharfer Wurstsoße das Denken vernebelte. Doch beim Gedanken an die feixenden Freunde stillte er seinen Hunger doch lieber mit Feigen und folgte den schmerzenden Beinen, die ihn ziellos hierhin und dorthin trugen.

In der ersten Nacht schlief er unter einem wild wachsenden Olivenbaum, dessen Krone im vollen Augustmond wie eine riesige Glühbirne leuchtete. Das Queckengras unter ihm war weicher als die Matratze aus Maisblättern, auf der er zu Hause schlief, und es raschelte auch nicht bei jeder kleinsten Bewegung. Er merkte, dass er in den Schlaf fiel, und wunderte sich, wie ruhig er trotz allem war, der Magen wohlauf, der Kopf leicht. »Ich muss zu Patrizia«, flüsterte er mit halb geschlossenen Augen dem erleuchteten Ölbaum zu. Dann schlief er mit einem Lächeln ein.

Am Morgen leuchtete der Baum in der roten Sonne. Und neben ihm, als hätte er die ganze Nacht über ihn gewacht, saß der streunende Hund mit dem roten, schmutzigen Fell. Giorgio Bellusci streckte sich mit feiertäglicher Trägheit auf seiner Queckengrasmatratze aus und fand, dass er es wirklich gut hatte, er vermisste nichts und niemanden, weder seine Eltern noch die Freunde noch Roccalba. Er kraulte den Hund am geifernden Maul. Nur der Fondaco del Fico fehlte ihm. Und Patrizia, doch sie nicht mehr lange.

Er stand auf, klopfte sich den Staub von Hemd und Hose und wanderte weiter. Der Hund folgte ihm stur. »Ksch ksch, weg mit dir«, rief Giorgio Bellusci, erhielt als Antwort aber nur ein zärtliches Winseln. Und so, da sie scheinbar dieselbe Richtung hatten, gab er ihm den Namen, der ihm schon seit seiner Kindheit durch den Kopf schwirrte: Milord.

Hitze und Staub, und manchmal ein einsamer Feigenbaum mit halbvertrockneten Früchten, die dann in seinem Bauch rumorten, während Milord, der noch hungriger war als er, einer Katze gleich nach Eidechsen und Feldmäusen jagte. Die Tage vergingen, und Giorgio Bellusci bereute es allmählich, auf Reisen gegangen zu sein. Schafherden und Hirten waren verschwunden, genauso wie die asphaltierten Wege und die Glockentürme. Und einer wie er, sagte sich Giorgio Bellusci, der nicht einmal den Weg nach Bari fand, würde wohl niemals seiner Patrizia in die Augen schauen. Er drehte sich im Kreis, wie die Mauersegler, die über seinem Kopf durch den schwülen Himmel schossen und wie kleine schwarze Bälle zurückgesprungen kamen, seine Haare streiften und ihm auf die Schulter kackten. Doch nicht einmal in diesen Augenblicken der totalen Erschöpfung sehnte er sich nach Roccalba oder seinen Eltern und Freunden zurück. Im Gegenteil, der Gedanke an sie war ihm lästig, und auch der Gedanke an Bari, wo er vielleicht niemals ankam, was am Ende auch kein Drama wäre, oder vielleicht doch, aber gewiss doch, denn wenn du sagst, dachte Giorgio Bellusci, ich gehe nach Bari, und dann verirrst du dich wie ein kleines Kind, dann bist du nichts wert, dabei glaubtest du immer, wer weiß wer zu sein, himmelweit klüger als die anderen, weil du kapiert hast, dass es dumm ist, so zu sterben, wie man geboren wurde, als sturer Esel, der niemals schlau wird, wie ein Baum, der sein ganzes Leben still vor sich hin vegetiert. Das war das Drama: jäh auf offenem Feld zu erwachen, nachdem man den Anfang eines schönen Traums erlebt hatte. Armer Giorgio, ich erkenne dich nicht wieder. Und da schloss Giorgio Bellusci in einem Anfall wütenden Stolzes die Augen und rannte los. Entweder ich laufe gegen einen Baum, oder ich finde die Straße, sagte er sich und wusste, wie unsinnig der Einfall war. Doch er blieb dabei: Er lief, ohne die Augen ein einziges Mal zu öffnen, gefolgt von dem glücklich bellenden Milord und den verrückten Mauerseglern, die...



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