E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Abele / Abele Flut
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-905574-08-1
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-905574-08-1
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inga Abele nimmt uns mit auf eine Reise durch das Leben von Ieva, eine Lettin in ihrer Lebensmitte – rückwärts. In mehr oder weniger chronologisch umgekehrter Reihenfolge erzählt der Roman die Geschichte einer Frau, deren jugendliche Entscheidungen den Rest ihres Lebens dramatisch beeinflusst haben.
Nach und nach treffen wir die wichtigen Menschen in Ievas Leben – ihre Großmutter, ihre Mutter und ihren Vater, ihren Bruder Pavils und ihre Tochter Monta – und die Dinge fangen an, Gestalt anzunehmen. Immer wieder kehrt die Erzählung zu zwei weiteren Personen zurück: zu ihrem toten Liebhaber Aksels und ihrem Ex-Ehemann Andrejs, zu den zwei Männern, die für immer durch eine Frau und ein schicksalhaftes Ereignis verbunden sind.
Das Aufdecken von Ievas Persönlichkeit und der Beziehung zwischen den drei Hauptfiguren macht einen grossen Teil der Anziehungskraft des Romans aus. Der volle Umfang von Ievas persönlicher Situation wird erst am Ende klar. Abele geht den Fragen nach, wie frühere Entscheidungen unsere Lebenseinstellung für immer beeinflussen können und wieso wir an einer Vergangenheit festhalten, die uns so sehr verändert hat.
Inga Abele spielt metaphorisch mit Bildern von Ebbe und Flut und ihr Roman folgt einer Struktur, in der sich reale Handlung mit imaginären Passagen, die inneren Monologen gleichen, gezeitenähnlich abwechseln.
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DAS HINZUGESELLEN
D i eM u t t e r
Die Mutter versucht sich zu erinnern, wo sie das schon gesehen hat. Gesichter, die sie aus schonungsloser Helligkeit ansehen. Große Augen. Lippen, die etwas sagen, lächeln, lallen, schelten. Gesichter, die sie aus rettender Dunkelheit herausreißen ins Licht. Eine Allee. Für einen Moment erblickt sie den Vater, der ihr Baumkronen zeigt. Sie liegt im Kinderwagen, ein Kind, das sich allem restlos zuwendet, ohne Rückhalt. Sie erblickt die Baumkronen und wird Baumkronen. Taucht ein in die Baumkronen, in ihre seidige Rastlosigkeit. Diese Gesichter hier in der Enge des Zimmers gleichen ebenfalls Baumkronen. Gesichterbaumkronen dort oben über dem Kopf, voll von raschelnder Bewegung und den Spielen des Windes. Die betrachten sie, die sie daliegt, heruntergekullert vom großen Kissen, gegen die Wand gekauert wie ein vertrockneter Wurm. Hände reißen dort in der Ferne Vorhänge auf. Lichtgetränktes Fensterviereck. »Guten Morgen! Zeit zum Aufstehen«, verkündet die Stimme des Lichts. Ein Gesicht beugt sich ganz nah heran, es ist das Gesicht einer Frau. Die Mutter öffnet ein Auge. Das andere Auge ist von Eiter verklebt. Sie schaut zu den Gesichtern, flüstert mit zahnlosem Mund ein paar Begrüßungssilben. Die Mutter hat Angst vor dem Tag, Angst vor der allmorgendlichen Prozedur – sie wird herumgewälzt, aufgerichtet, geschoben, gewaschen, ihr wird Schmerz zugefügt und Unruhe. Die Mutter will sagen, dass sie nicht mehr versteht, weshalb sie aufstehen soll. Sie ist müde, aber man gewährt ihr keine Ruhe. »Und das schlimmste ist, dass sie mit ihrer linken Hand irgendwie an die Kacke rankommt. Fummelt herum, zerrt an den Pampers und schmiert diese Finger überall hin, sie ist völlig ohne Verstand. Ich muss zweimal täglich die Laken wechseln. Allesamt.« Die Mutter schließt ihr einziges Auge und tut so, als ginge es nicht um sie. Schon seit einigen Jahren ist vor diesem einzigen Auge Nebel, rasch dahinhuschender Nebel mit Fetzen schwarzer Flecken. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich bin sicher, dass man sich etwas einfallen lassen kann. Ein Hemd, das über der Brust zugebunden wird oder so«, sagt eine zweite Stimme, eine tiefere, der Dunkelheit beigemischt ist. Die Mutter mag diese Stimme lieber. »Sie kommt ja nicht von oben ran, sondern von unten, vom Oberschenkel her. Morgens ist das ganze Bett überflutet. Sie pinkelt so wahnsinnig viel. Und wenn noch Kacke dazukommt, kann ich hier nicht ohne Brechreiz reinkommen. Du kannst dir diesen Gestank nicht vorstellen«, klagt die erste Stimme, weiß und wahrhaftig wie Licht. Vor dieser Stimme kann man sich nicht verstecken, deshalb kneift die Mutter noch fester die Augen zu. »Irgendwas wie für einen Säugling. Eine Art Strampelanzug, den man an der Seite zuknöpft.« »Das geht nicht. Die letzten Narkosen haben ihr völlig den Verstand genommen. Sieh doch, wie klein sie ist – aber schwer wie ein Baumstamm, der jahrelang im Wasser gelegen hat. Sie ist zehnmal so schwer wie ich und schlaff. Ich stelle sie auf die Füße, damit die Beine nicht völlig trophieren. Ein paar Minuten am Tag. Ich setze sie auf, wenn ich von der Arbeit komme, damit sie sitzt. Aber wie schwer das alles ist, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich hebe mir die Gedärme aus dem Leib, die Seite tut mir weh. Nein, nein. Von irgendwelchen Strampelanzügen oder Hosen kann keine Rede sein. Sie kann die Beine nicht anheben. Das würde bedeuten, dass noch mehr Wäsche anfällt. Nein, nein. Gestern habe ich mir etwas überlegt: ich mache ihr die Pampers mit Klebeband am Schenkel fest. Mit breitem Scotch. Was meinst du?« »Auf keinen Fall, Mama. Ihre Haut wird sich entzünden.« »Meinst du? Nu, ich weiß nicht.« Die Mutter stellt sich tot. Als ob es bei dieser Idiotie hier nicht um sie ginge. So spricht man nur über schlechte Kinder. Sie ist kein schlechtes Kind, ist es nie gewesen. Nein, nein. Die Stimme des Lichts verschwindet, hinter dem Kopfkissen klappt eine Tür. Etwas Warmes legt sich um ihren Hals, sie spürt Wärme. Die Mutter erhascht sanften, mädchenhaften Atem auf ihrer Wange und öffnet ihr einziges Auge. »Trink etwas Kaffee, Großmama«, sagt die Dunkelstimme, »nutze den Augenblick. Ich bin zu Besuch gekommen. Also kannst du Kaffee bekommen, bevor du dir das Gesicht gewaschen hast.« Eine weiße Tasse taucht im Gesichtskreis auf. Sie kommt näher. Eine Hand packt fest ihren Nacken und hebt den Kopf ein wenig an. Der zahnlose Mund der Mutter saugt sich mit zwei bleichen, schneckenartigen Lippen am Rand der Tasse fest. Etwas Helles, Warmes und Süßes strömt in sie hinein. Spült über die in nächtlichen Albträumen ausgedörrte Zunge, die in dem Universum unter dem Gaumensegel herumschlackert. Etwas Wunderbares. Die Mutter will es und verfolgt mit gierigen Augen, wie die Tasse sich entfernt. »Na, siehst du, wie lecker. Willst du noch mehr?« Die Mutter nickt stramm mit dem spitzen Kinn – dass sich die Tasse nur nicht allzu weit entfernt! Glücklicherweise kommt sie näher. Die Schnecken lassen die weiße Muschelschale nicht mehr los, die Mutter trinkt zwei volle Züge und sinkt auf das Kissen zurück. Sie versucht zu lächeln und das Gesicht zu erkennen. Aber vergeblich, vor Anstrengung flirrt der Nebel noch wirbelnder durch das Blickfeld. Die Mutter sagt: »Kindchen.« »Ja, Lieboma? Was möchtest du?« Die Mutter will es sagen, doch die Worte stehlen sich von der Mutter davon. Statt von Worten wird die Mutter für einen Augenblick von einer Szene besucht: ein von gleißender Sonne und dem schwarzen Schatten eines Dachs geteilter Hof mit Grasbüscheln und feinem Kies. Die Mutter ist auf diesem Hof eine Katze, die sich auf der Schattengrenze flach auf die Erde geduckt hat. Die Katze springt in einen Vogelschwarm, der sorglos ein Staubbad im heißen Sand nimmt. Die Vögel stieben auseinander, und die Szene zerfällt in Scherben. Die Mutter ruft diese Szenen gar nicht herbei, sie kommen von selbst und gehen von selbst. Der Duft der Feuchtigkeit von Moos kommt und die Kühle im Gesicht, wenn im Frühjahr die Eiskruste unter den Füßen bricht und die Stiefel in flüssigen Schlamm stapfen. Es kommen eine Rodungslichtung und Baumharz. Es kommen Bahnschwellen, von ganz nahe gesehen – geteerte Holzschwellen, stählerne Schienen mit rotbraunem Rost und winzigen gelben Blümchen – als wären sie lebendig. Es kommt ein nasses, von Plazentafett bedecktes Kind, das ihr auf den Bauch gelegt wird. Es kommt allerlei, mit Ausnahme der Möglichkeit, es noch einmal zu erleben. Die Mutter denkt viel darüber nach. Aber jetzt will die Mutter die Szenen nicht, die Mutter will das, was neben ihr ist. Diese warme, verlässliche Stimme der Dunkelheit. Die Mutter sagt: »Kindchen.« »Nu, was möchtest du, Großmama? Noch Kaffee?« Die Mutter streckt langsam das Kinn vor. »Was dann?« Ach, wenn sie es zu sagen vermöchte! Die Mutter will Feuer. Das, was im Augenblick für kein Geld der Welt zu bekommen ist. Die Mutter will, dass sich jemand neben sie legt. So mit dem ganzen Körper. Sich anschmiegt. Wie einst ihre eigene Mutter sich an sie schmiegte. Wie einst ihre Großmutter in frostklirrenden Nächten. Wie einst ihr Mann, als sie die kalten, abgeschiedenen Jahre der Halbwüchsigkeit bereits überwunden hatte – als sie schon so groß war, dass sie mit einem Mann schlafen durfte. Als jene Nächte des Zusammenströmens der Wärme zweier Menschen wieder von neuem begannen. Wie damals, als die Kinder nachts zu ihr ins Bett schlüpften. Und ist diese da – sie, die Besitzerin der dunklen Stimme –, ist das nicht ihre Enkeltochter? Die Mutter wird mit jäher Gewalt von einer Szene heimgesucht: ein Bauernhaus in der Julihitze. Im Sonnenlicht vor dem offenen Fenster regt sich kein Halm. Sie hat sich, ermattet von Erde und Sonne, in der Küche auf dem großen Sofa niedergelassen, über das eine gestreifte, abgenutzte und zart nach Staub duftende Baumwolldecke geworfen ist, und sagt zu ihrer Enkeltochter: »Komm, Kindchen! Halten wir Mittagsschlaf!« Hinter ihrem...