Abidi | Bevor wir alles verlieren | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Abidi Bevor wir alles verlieren


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96981-007-1
Verlag: Moon Notes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-96981-007-1
Verlag: Moon Notes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Victoria stürzt bei einem Leichtathletikturnier und wird zur Routineuntersuchung ins Krankenhaus gebracht. Dort bekommt sie eine schreckliche Diagnose, mit der sie niemals gerechnet hätte. Ein Gehirntumor. Dieser ist zwar operabel - allerdings mit hohem Risiko. Sie entscheidet sich für den lebensgefährlichen Eingriff. Bis zum OP-Termin bleibt nur eine Woche, um alles zu erledigen, was ihr noch wichtig ist. Mit ihrem besten Freund Theo geht sie auf einen aufregenden Roadtrip und hakt die wichtigen Punkte auf ihrer Bucket List ab. Darauf steht unter anderem: den schönsten Kuss aller Zeiten zu erleben.

Heike Abidi, Jahrgang 1965, studierte Sprachwissenschaften und arbeitet heute als freiberufliche Werbetexterin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und Sohn in der Nähe von Kaiserslautern.
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Autoren/Hrsg.


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Kapitel 1 Ein falscher Schritt


»Das ist Victoria Sander, achtzehn Jahre. Zustand nach Sturz bei Sportveranstaltung. Verdacht auf Fraktur des Unterschenkels und Gehirnerschütterung.«

»Okay, wir betten sie um. Auf drei …«

Ganz schön schräg, hier zu liegen und mit anzuhören, wie der Sanitäter und die Ärztin über mich reden, als wäre ich gar nicht da oder könnte sie nicht verstehen.

, will ich rufen, aber außer einem leisen Stöhnen kommt nichts über meine Lippen.

Sie zerren an mir herum, ich lasse es über mich ergehen. Dann liege ich auf einer Pritsche, die auch nicht viel bequemer ist als die Trage aus dem Rettungswagen, aber wenigstens halbwegs nach Krankenhausbett aussieht. Die Kabine ist winzig und trist, nur ein Vorhang trennt sie vom nächsten Notaufnahmebett.

Die Ärztin hat freundliche Augen und kalte Hände. Sie fühlt meinen Puls und leuchtet mir in die Augen.

»Pupillen rund, mittelweit, isokor und lichtreaktiv, Herzschlag leicht erhöht. Sieht schon mal nicht nach einer Gehirnerschütterung aus. Haben Sie Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel?«

»Ähm – nein«, erwidere ich. Ich weiß bloß nicht, was mit mir los ist.

»Wir machen zur Sicherheit ein Blutbild, EKG, EEG, Röntgen.« Ihre Stimme klingt müde. Als hätte sie schon eine 24-Stunden-Schicht hinter sich. Dafür ist sie eigentlich ein bisschen zu alt. Machen das sonst nicht nur Anfänger? Aber vielleicht ist es auch der Dienst in der Notaufnahme selbst, der ihr vorzeitig graue Strähnen verpasst hat.

Eine Krankenschwester legt mir eine Blutdruckmanschette an und setzt eine Art Wäscheklammer auf meinen linken Zeigefinger. Nach all den vielen Folgen von , die ich gesuchtet habe, weiß ich, dass damit die Sauerstoffsättigung im Blut gemessen wird. Fast so, als wäre ich schwer krank.

, möchte ich sie beruhigen,

Die Blutdruckmanschette pumpt sich auf und quetscht mir fast den Arm ab. Nicht gerade angenehm.

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Versuche zu vergessen, dass ich hier in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses liege, obwohl ich jetzt eigentlich auf einem Siegerpodest stehen sollte. Aber es gelingt mir nicht. Statt nach frisch gemähtem Gras, Sportlerschweiß und Grillwürstchen riecht es hier nach Desinfektionsmitteln und Krankheit.

»Achtung, jetzt kommt ein kleiner Pikser.«

Ich lasse die Augen geschlossen. Mir wurde schon oft Blut abgenommen, das macht mir nichts aus – doch zusehen will ich nicht, wie sich das Röhrchen langsam füllt. Ich finde das gruselig.

Dann werde ich verkabelt, von Kopf bis Fuß. Mein Shirt ist bis zum Hals hochgeschoben, ich fühle mich schutzlos und friere. Geräte brummen und piepsen, ein Ausdruck kommt ratternd aus einem kleinen Drucker. Er dokumentiert, dass mein Herz tut, was es am besten kann: Es schlägt.

Die Elektroden werden wieder entfernt, und die Krankenschwester zieht mein Shirt herunter. Es klebt jetzt ein bisschen an den Stellen, auf die zuvor das Gel aufgetragen worden ist.

»Alles okay?«, flüstere ich. Das Sprechen strengt mich unglaublich an, ich fühle mich, als wäre ich hundert Jahre alt.

»Dazu kann ich nichts sagen, das müssen Sie die Ärztin fragen«, erwidert sie. Man merkt ihr an, dass sie gewohnt ist, schnell zu sein. Ihre Handbewegungen sind routiniert, kraftsparend. Sie hat keine Zeit zu verlieren.

Noch so eine Frage, die mir wohl vorerst niemand beantworten kann, denn auf einmal bin ich allein. Jenseits des Vorhangs sind aufgeregte Stimmen zu hören. Klingt ganz danach, als käme gerade ein Verkehrsunfallopfer herein. Logisch, dass das dringend ist. Aber könnte man mich bitte vorher noch schnell entlassen?

Wobei – die eigentliche Frage lautet ja, wie ich hier überhaupt landen konnte. In all den Jahren hatte ich noch nie eine ernsthafte Sportverletzung. Und jetzt das! Ausgerechnet beim Hochsprung ist es passiert, meiner Lieblingsdisziplin. Ich verstehe echt nicht, was da vorhin mit mir los war. Den Flop habe ich tausendfach trainiert, ich beherrsche ihn im Schlaf.

Genau das liebe ich an diesem Sport: keine neuen Taktiken, keine Gegner, keine Fouls, keine Mitspieler. Nur ich selbst und der ewig gleiche Bewegungsablauf, den ich über die Jahre immer weiter perfektioniert habe.

Wenn es drauf ankommt, so wie bei einem Turnier, kann ich ihn jederzeit abrufen und Höchstleistungen erbringen. Heute wollte ich meinen persönlichen Rekord brechen. Aber das Einzige, was ich mir womöglich gebrochen habe, ist mein Bein. Es tut nun doch wieder ganz schön weh. Warum kümmert sich keiner darum?

Abrupt wird der Vorhang zur Seite gezogen, und ein Pfleger kommt herein. Er macht sich an den Rädern meines Bettes zu schaffen, offenbar, um die Bremsen zu entriegeln, dann schiebt er mich raus aus dem Kabuff.

»Wohin bringen Sie mich?«, will ich wissen. Eine legitime Frage, schließlich bin ich kein Gegenstand, auch wenn er mich so behandelt.

»Röntgen«, lautet die knappe Antwort.

Okay, vielleicht bin nicht ich der Gegenstand, sondern er? Ich beschließe, ihn insgeheim zu nennen. Das hat er jetzt davon.

Unterwegs zum Fahrstuhl kommen wir an einem Wartebereich vorbei, der voll besetzt ist. Mindestens zwanzig Augenpaare sind auf mich gerichtet, als wären ihre Besitzer Zoobesucher und ich ein skurriles exotisches Äffchen.

Das muss ich mir nicht geben. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und ignoriere die Gaffer. Sollen sie doch glotzen.

Vor der Radiologie stellt mich Robby einfach im Flur ab und macht sich wortlos davon. Ich schaue mich um und stelle fest, dass ich nicht die Einzige bin, der es so ergeht. Vor meinem stehen zwei weitere Betten. In einem liegt ein Mann, der aussieht wie eine Mumie, in dem anderen ein kleines Mädchen, das wimmernd einen Teddy umklammert und von seinem Vater getröstet wird. Die sind mit Sicherheit noch vor mir dran. Das kann also dauern …

Die Blutdruckmanschette pumpt sich mal wieder auf. Das tut sie alle fünfzehn Minuten, dieses ist das dritte Mal. Mindestens so nervig wie Kirchturmglocken, wenn man sie nicht gewohnt ist. Irgendwann hört man sie dann nicht mehr. Immerhin gibt mir das Blutdruckgerät ein gewisses Zeitgefühl. Ohne sein Armquetschmanöver hätte ich nicht sagen können, ob ich schon fünf Stunden hier liege oder erst zehn Minuten.

Endlich bin ich dran. Eine Radiologieassistentin schiebt mich in einen dunklen Raum und hängt mir eine Bleischürze um. »Damit sind Ihre Geschlechtsorgane geschützt, die sehr sensibel auf Strahlung reagieren«, erklärt sie, bevor sie mein linkes Bein vorsichtig in die richtige Position rückt. Anschließend verschwindet sie in einer Kabine und ruft: »Bitte nicht bewegen!« Dann ist es auch schon vorbei, und ich werde wieder im Flur geparkt.

Die Bleischürze hat mich an ein Thema erinnert, das ich lieber vergessen würde. Aber es bringt wohl leider nichts, weiterhin den Kopf in den Sand zu stecken. Ich war leichtsinnig, und jetzt muss ich mich den Tatsachen stellen. Verdammt! Was hab ich mir da nur eingebrockt?

Die morgendliche Übelkeit hätte mir längst zu denken geben sollen. Nein, eigentlich hätte ich gleich wissen müssen, was los ist, als ich neulich nach einer durchfeierten Nacht bei Lennox aufgewacht bin. Keine Ahnung, was genau in diesem Bett passiert ist, jedenfalls führte es dazu, dass mir beim Aufstehen schwindelig wurde, ich das Frühstück nicht bei mir behalten konnte – und das seitdem an fast jedem Morgen. Außerdem kommt hinzu, dass ich vorhin so übel gestürzt bin.

Und ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich überhaupt jemals Kinder will. Wenn ich als Mutter so viel Talent habe wie meine, sollte ich es wohl lieber bleiben lassen. Grundsätzlich. Und im Moment passt mir eine Schwangerschaft erst recht nicht in den Kram! Ich bin gerade mal achtzehn und habe noch ein Jahr bis zum Abi vor mir. Ich will leben, Party machen, Hochsprung-Rekorde feiern – keine Windeln wechseln. Und selbst wenn ich das wollte, wäre Lennox der denkbar schlechteste Partner! Ich meine, er ist witzig und cool, aber definitiv kein Typ, der gern Verantwortung übernimmt. Nicht mal für sich selbst.

Ein Teil von mir hofft, dass ich mir das alles nur einbilde. Dass Lennox viel zu viel intus hatte, um mich zu schwängern. Dass wir beide einfach eingepennt sind und nebeneinander unseren Rausch ausgeschlafen haben.

Aber das ist wohl ein Wunschtraum. Wer glaubt schon heute noch an die unbefleckte Empfängnis? Ich bin weder die Jungfrau Maria noch  …

Die Sache mit dem Schwindel und der Übelkeit habe ich lange genug ignoriert, aber das geht jetzt wohl nicht mehr. Als ich vorhin beim Leichtathletikturnier gestürzt bin, wusste ich gleich, dass die Stunde der Wahrheit gekommen ist.

Das muss Schwangerschaftsdemenz sein. Auf eine Gehirnerschütterung kann ich es nicht schieben, die wäre schließlich höchstens die Folge, nicht die Ursache meines Sturzes gewesen. Können Hormone ein solches Blackout verursachen? Denn Tatsache ist, dass ich meine Schrittfolge vergessen habe. Einfach so, aus dem Nichts heraus. Etwas, was...


Heike Abidi, Jahrgang 1965, studierte Sprachwissenschaften und arbeitet heute als freiberufliche Werbetexterin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und Sohn in der Nähe von Kaiserslautern.



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