E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Abidi Hör auf dein Herz, auch wenn es stolpert
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7517-4235-1
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-7517-4235-1
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über zweite Chancen und die Kraft des Zuhörens
Eine Agentur fürs Zuhören! Diese Idee hat Floriane, 50, nachdem sie innerhalb von 24 Stunden aus ihrem gemütlichen Leben gestoßen wurde. Zuerst hat ihr Ehemann sie wegen einer Dreißigjährigen verlassen, und dann wurde ihr auch noch der Job gekündigt. Erstmal hat Floriane keine Ahnung, was sie nun tun soll. Doch dann besinnt sie sich auf ihr größtes Talent, das Zuhören. Schon bald nach der Gründung ihrer Agentur bemerkt sie überrascht, wie viele Menschen dringend jemanden zum Reden brauchen. Als sie sich auf einmal zwischen zwei Männern entscheiden muss, stellt sie fest, dass das Zuhören auch ihr gutgetan hat. Können die Lebensgeschichten anderer Floriane helfen, ihren Weg zu finden?
Heike Abidi lebt mit ihrer Familie in der Pfalz bei Kaiserslautern. Sie arbeitet als Werbetexterin und Autorin von Unterhaltungsromanen, unterhaltenden Sachbüchern sowie Jugend- und Kinderbüchern.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Fünfzig ist das neue Dreißig
In meinem Wohnzimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Und das ist keine Übertreibung. (Das wäre höchstens der Fall, wenn Tante Ilse es behaupten würde, nur weil in ihrem perfekten Wohnzimmer ein paar Zeitschriften herumliegen.) Nein, dieser Raum ist definitiv eine Schande für jede ehrgeizige Hausfrau!
Nur gut, dass ich keine bin.
Entspannt lasse ich mich aufs Sofa sinken, lande auf einer halbleeren Chipstüte (was ich ignoriere) und betrachte das Chaos. Überall Gläser, angebrochene Wein- und Sektflaschen, Teller mit Speiseresten.
Aber eben auch Geschenkpapierfetzen, Grußkarten, riesige Luftballons in Form von Fünfen und Nullen, eine »Happy Birthday«-Girlande, nicht zu vergessen die Karaoke-Anlage, die Felix mir geborgt hat. Geniales Teil. Verdammt, hatten wir Spaß damit! Ich sag nur: »Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, bäääm bäääm bäääm, nanananananaaaa …«
Spricht eigentlich irgendwas dagegen, das Ding noch mal anzuwerfen? Jetzt gleich? Ich meine – irgendwie merkwürdig ist es wohl schon, wenn eine frischgebackene Fünfzigjährige am helllichten Tag Schlager schmettert, anstatt erst einmal gründlich aufzuräumen.
Von wegen: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Pah, aber wer bin ich, dass ich mir von irgendwelchen albernen Regeln die Laune verderben lasse! Nichts gegen die guten, alten preußischen Tugenden, aber das Leben genießen gehört leider nicht dazu. Müsste meiner Meinung nach dringend korrigiert werden.
Hach, ist sie nicht herrlich, die Gelassenheit der zweiten Lebenshälfte? Ich muss niemandem mehr etwas beweisen, nur mit mir selbst im Reinen sein.
Entschlossen stehe ich auf und schalte das Gerät ein. Die Titelauswahl hat mich gestern fast überfordert, aber heute weiß ich genau, worauf ich Lust habe: Girls Just Wanna Have Fun von Cyndi Lauper.
Nicht lachen – natürlich bin ich kein Girl mehr, zum Glück! Aber dieser Song macht einfach gute Laune und …
Die ersten Takte laufen, und ich will gerade loslegen, als das Telefon klingelt.
Es ist Rena, meine beste Freundin und allerliebste Arbeitskollegin.
»Hey, Flo, wie klingst du denn?«, begrüßt sie mich auf ihre unnachahmlich direkte Art. Neben Wenzel, meinem Angetrauten und Seelenpartner, ist Rena die Einzige, die mich so nennen darf. Bei allen anderen bestehe ich auf meinem vollen Namen: Floriane. »Du hörst dich ja an, als hättest du die ganze Nacht Zigarren geraucht und Whisky gesoffen«, fährt Rena ungerührt fort. »Ach nein, halt, es war ja bloß Schampus, und du hast gesungen.«
»Genau, und ich wollte gerade damit weitermachen«, pariere ich. Rena gluckst. Natürlich nimmt sie mir das nicht ab. Manchmal ist Ehrlichkeit einfach zu unglaublich.
»Na, hast du schon klar Schiff gemacht, oder soll ich dir ein Team von Tatortreinigern vorbeischicken?«
»Weder noch, aber danke.« Ich schalte die Karaokeanlage wieder aus. Rena hat recht: Ich krächze wirklich wie ein Reibeisen. Wenn überhaupt, käme höchstens ein Bonnie-Tyler-Song infrage. »Ich komm schon zurecht. Hab ja den ganzen Tag Zeit.«
Im Stillen beglückwünsche ich mich selbst noch einmal zu der weisen Entscheidung, mir den Tag nach meinem Geburtstag freigenommen zu haben. Die anderen tun mir echt leid, die mussten heute durch die Bank früh raus, inklusive Wenzel. Aber sie haben beim Feiern alle tapfer durchgehalten, mir zuliebe. Was hab ich doch für wunderbare Freunde! Einen Moment lang bin ich ganz gerührt und muss einen Kloß im Hals wegräuspern.
»Und wie geht es dir jetzt mit der bösen Null?«, will Rena wissen. »Mal ganz ehrlich – keine Krise? Immer noch keine Panik vor dem Alter? Ich muss wissen, was da auf mich zukommt!«
Renas fünfzigster Geburtstag steht in wenigen Monaten bevor, und ihr geht schon jetzt ganz schön die Düse.
Ich muss lachen. »Nein, da kannst du noch tausend Mal fragen – keine Krise. Im Gegenteil. Mein Leben ist perfekt! Ich bin rundum zufrieden mit meiner Beziehung, meinem Job, meinen wunderbaren Freundinnen und Freunden, meiner Wohnung – jedenfalls, wenn sie demnächst wieder halbwegs zivilisiert aussieht … Aber auch das Chaos lässt mich kalt. Ich bin gelassen. Nenn es Coolness oder Altersweisheit, das ist mir ganz egal.«
»Aha. Und mit Altersweisheit meinst du vermutlich die eiserne Regel, nach jedem Glas Alkohol erst mal ein Glas Wasser zu trinken und vorm Schlafengehen ein Alka-Seltzer einzunehmen?«
»Unter anderem«, gebe ich zu. »Keine Chance dem Kater. Aber ganz im Ernst: Es gibt wirklich nichts, wovor man sich fürchten müsste. Fünfzig ist das neue Dreißig, das kannst du mir glauben.«
Rena wirkt nicht überzeugt. »Ach, Flo, du klingst wie deine eigene Glückwunschkarte. Dabei sagt dein Horoskop, du sollst nicht so blauäugig durchs Leben gehen.«
Rena und ihre Horoskope! Ich fürchte, sie glaubt da wirklich dran. Ich ziehe sie gern damit auf, aber meist lasse ich ihr das Vergnügen, mich astrologisch zu beraten.
»Ich bin keineswegs blauäugig«, widerspreche ich würdevoll, »sondern optimistisch. Und damit kommt man ganz geschmeidig durchs Leben!«
»Wie du meinst. Aber die Sterne lügen nie«, teilt Rena mir mit Grabesstimme mit. »Sei auf der Hut!«
Ich muss lachen. »Du schaffst es nicht, mich heute runterzuziehen! Bloß weil du Angst vor dem Älterwerden hast.«
»Na hör mal, das ist ja wohl auch eine total berechtigte Angst! Was kommt denn da noch? Krankheiten, Schmerzen in sämtlichen Gelenken, Haarausfall, Falten, Warzen, Einsamkeit, Tod. Also ich werde meinen Fünfzigsten auf keinen Fall feiern.«
»Selber schuld. Dann wird dir echt was entgehen. Meine Party hätte ich nicht missen wollen. Einer der schönsten Abende meines Lebens! Ich bin noch ganz überwältigt. So viele Glückwünsche, so viel positive Energie! Und ich verrate dir ein Geheimnis: Du wirst auch fünfzig, wenn du nicht feierst.«
Das ist zwischen uns ein Running Gag. Allerdings einer, den ich wesentlich lustiger finde als sie.
»Blöde Kuh«, sagt Rena.
»Doofe Ziege«, sage ich.
Dann prusten wir beide los.
Leider ist Renas Pause bald vorbei und sie muss sich wieder ihren Schnitzeln, Steaks, Lachsfilets, Aufläufen und Salaten widmen. Sie ist eine Wahnsinnsköchin, und ich bin froh, regelmäßig in den Genuss ihrer Kochkünste zu kommen. Jedenfalls wenn keine von uns ihren freien Tag im Hotel hat, so wie ich heute und sie morgen.
Später, wenn Wenzel aus dem Büro nach Hause kommt, werde ich wohl einfach die Reste von gestern auftischen. Aber dazu bräuchte ich erst mal saubere Teller. Und eine halbwegs ordentliche Küche …
Okay, dann starte eben auch ich durch. Radio an und los geht’s. Erst einmal sammele ich Geschirr und Gläser ein, kippe die angebrochenen Getränke in den Ausguss und die Speisereste in den Mülleimer. Während die erste Spülmaschinenladung läuft, nehme ich die Girlanden ab (eigentlich schade darum), kille die Luftballons mit meiner Bastelschere und entchipse das Sofa. Dann drehe ich das Radio lauter und beginne zu staubsaugen. Dabei komme ich gewaltig ins Schwitzen, und bald fliegt der Bademantel, den ich über meinem Nachthemd trage, in die Ecke.
In meinem Lieblingsoldiesender läuft gerade I Want to Break Free von Queen, und ich denke an das legendäre Video, in dem alle Bandmitglieder Frauenkleider tragen und Freddie Mercury den Staubsauger schwingt. Ich liefere eine Eins-a-Parodie darauf und schwinge dabei nicht nur den Staubsauger, sondern auch die Hüften. Freddie wäre stolz auf mich! Hausarbeit als Workout – ist das nicht sowieso voll angesagt? Falls nicht, betrachte ich mich einfach als Trendsetterin.
Zwischendurch räume ich die Spülmaschine aus und wieder ein, lasse die zweite Ladung laufen und verstaue den ersten Teil in den Schränken. Hey, hier sieht’s ja schon fast wieder richtig gut aus!
Es klingelt an der Wohnungstür. Ich öffne, und vor mir steht ein gewaltiger Rosenstrauß auf zwei Beinen.
»Oh, wer hat mir denn da Blumengrüße geschickt?«, freue ich mich und will bereits das Kärtchen öffnen.
»Ähm … oh, na ja, vielleicht … ähm, wenn Sie dann bitte noch unterschreiben würden?«, stammelt der Bote und starrt mich an, als hätte ich ein Geweih auf dem Kopf oder einen Rüssel im Gesicht. Der Knabe hat vielleicht gestern zu viel gefeiert? Tja, das sollte er eigentlich nicht an seinen Kunden auslassen, finde ich. Aber sei’s drum, ich bin einfach zu gut drauf, um ein Wort darüber zu verlieren. Stattdessen drücke ich ihm ein Zweieurostück in die Hand, das ich beim Staubsaugen gefunden habe, und wünsche ihm noch einen wunderschönen Tag.
»Da-danke, gleichfalls«, stottert er, dreht sich auf dem Absatz um und stürmt davon, als sei der Teufel hinter seiner armen Seele her. Tsss. Die jungen Männer sind heute auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Ich kicke die Tür mit dem Fuß zu und mache mich auf die Suche nach einer Vase, während ich die angeheftete Karte entziffere: »Alles Gute zu deinem Geburtstag wünscht dir deine Tante Ilse«, steht da. Sie konnte sich das Datum noch nie merken. Einmal hat sie mir einen ganzen Monat zu früh gratuliert, einmal eine Woche zu spät. Mit einem Tag Abweichung ist sie in diesem Jahr so dicht dran wie selten. Die gute Tante Ilse – ich muss sie später unbedingt anrufen, um mich zu bedanken.
Mir fällt ein, dass neben dem...




