Aboulela | Minarett | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Reihe: Lenos Babel

Aboulela Minarett

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-85787-984-5
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Reihe: Lenos Babel

ISBN: 978-3-85787-984-5
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nadschwa wächst in einer privilegierten und westlich orientierten Oberschichtfamilie in Khartum auf. Nach einem Putsch flieht die Studentin mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ins politische Exil nach London. Sie verliert ihren Wohlstand und bald auch ihre Eltern. Einst hatte sie davon geträumt, einen wohlhabenden Mann zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Nun ist sie auf sich allein gestellt und muss ganz unten neu anfangen. Sie arbeitet als Dienstmädchen und Putzfrau bei reichen Familien, erka¨mpft sich eine unabhängige Existenz. Sie knüpft Freundschaft mit den Frauen der muslimischen Gemeinde. Und findet eine neue Heimat im Glauben. Als sie Tâmer kennenlernt, den ernsten und strenggläubigen Bruder ihrer Arbeitgeberin, muss sie sich entscheiden.
"Minarett" erzählt eindrücklich und aufschlussreich von Migration, sozialem Abstieg und von der religiösen Gemeinschaft als Ort der Heimat und der Unabhängigkeit. Eine überraschende, provokative Emanzipationsgeschichte, die einen Sturm in der englischen Presse auslöste.

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Eins
»Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über seinem Gesicht, der seine Augen verdeckte. »Hmm.« »Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er die beste Klimaanlage im Haus hatte. »Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase. »Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.« »Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rühren.« »Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum anderen Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaanlage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen. »Warum tust du mir das an?« Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den Federn jagen.« Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend. »Wo ist dein Bruder?«, brummte er. »Kommt wohl gleich runter«, sagte ich. »Und wo ist deine Mutter?« »Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es verblüffte mich stets, wie unbeirrbar Baba Mutters Terminkalender vergass und wie seine Augen hinter den Brillengläsern besorgt ins Leere blickten, wenn er von ihr sprach. Er hatte nach oben geheiratet, um voranzukommen. Seine Lebensgeschichte bestand darin, wie er es aus bescheidenen Verhältnissen zum Stabschef des Präsidenten brachte, nachdem er in eine alte, vermögende Familie eingeheiratet hatte. Ich hörte mir die Geschichte ungern an, sie verwirrte mich. Ich glich allzu sehr meiner Mutter. »Verwöhnt«, murmelte er über seiner Teetasse, »ihr seid alle drei verwöhnt.« »Ich werde es Mama sagen, dass du so über sie sprichst!« Er verzog das Gesicht. »Sie ist zu nachsichtig mit deinem Bruder. Das ist nicht gut für ihn. Als ich so alt war wie er, schuftete ich Tag und Nacht; ich wollte es zu etwas bringen …« O nein, dachte ich, komm nicht wieder damit. Man muss es mir angesehen haben, denn er sagte: »Natürlich willst du nicht auf mich hören …« »O Baba, tut mir leid.« Ich herzte ihn und küsste ihn auf die Wange. »Wunderbares Parfum.« »Paco Rabanne.« Er lächelte. Und ich lachte, denn keinem Vater in meinem Bekanntenkreis lag so viel an seiner Kleidung und an seinem Aussehen wie ihm. »So, es wird Zeit«, sagte er, und das Ritual seines Abschieds begann. Der Boy erschien aus der Küche und trug seine Aktentasche zum Auto. Mûssa, der Fahrer, sprang aus dem Nichts herbei und öffnete ihm den Schlag. Ich sah zu, wie sie davonfuhren, und dann stand nur noch der Toyota Corolla in der Auffahrt. Er hatte Mama gehört, aber letzten Monat hatten Omar und ich ihn geschenkt bekommen. Mama besass jetzt ein neues Auto, und Omar benutzte sein Motorrad nicht mehr. Ich sah in den Garten hinaus und auf die Strasse dahinter. Es waren keine Fahrräder unterwegs. Ich hatte einen Verehrer, der unentwegt an unserem Haus vorbeiradelte. Manchmal kam er drei- oder viermal am Tag. Seine Augen waren hoffnungsfroh, dabei verachtete ich ihn. Aber blieb die Strasse wie jetzt leer, so war ich enttäuscht. »Omar!«, rief ich von unten. Wir würden zu spät zur Vorlesung kommen. Zu Beginn des Semesters, unseres allerersten an der Universität, waren wir immer sehr rechtzeitig aufgebrochen. Doch sechs Wochen später entdeckten wir, dass es angesagt war, erst in letzter Minute aufzutauchen. Alle Dozenten erschienen zehn Minuten nach der vollen Stunde und kamen in die Säle voll erwartungsvoller Studenten hereingerauscht. Ich hörte keinen Ton von oben und sauste wieder die Treppe hoch. Nein, das Bad war leer. Ich machte die Tür zu Omars Zimmer auf, und der Raum war wie erwartet ein Brutofen. Doch da lag er in tiefem Schlaf hingestreckt und schnarchte. Er hatte das Bettzeug abgestrampelt und lag schweissnass und erschlafft da. »So, das reicht. Ich fahre jetzt, ich hab nichts mehr mit dir zu schaffen.« Er rührte sich ein wenig. »Was’n?« In meiner Stimme lag Ärger, aber ich hatte auch Angst. Angst vor seiner Schläfrigkeit, an der keine Krankheit schuld war; Angst vor seiner Lethargie, über die ich mit niemandem sprechen konnte. »Wo ist der Schlüssel?« »Hä?« »Wo ist der Autoschlüssel?« Ich warf seine Schranktür auf. »Nein, in meiner Jeans … hinter der Tür.« Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, und Münzen fielen heraus und eine Schachtel Benson & Hedges. »Wehe, wenn Baba das erfährt.« »Mach die Lüftung wieder an.« »Nein.« »Bitte, Nana.« Ich liess mich durch den Kosenamen ein wenig erweichen. Die Zwillingssymbiose packte mich, und vorübergehend war ich es, die sich so erhitzt und todmüde fühlte. Ich schaltete die Klimaanlage wieder ein und stapfte aus dem Zimmer. Ich kurbelte das Autofenster hoch gegen den Staub und damit der heisse Wind mein Haar nicht zerzauste. Gern hätte ich mich wie eine emanzipierte junge Studentin gefühlt, die selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos sass. War ich schliesslich nicht eine emanzipierte junge Frau, die ihren Wagen eigenhändig zur Universität fuhr? In Khartum gab es nur wenige Autofahrerinnen, und an der Universität waren nicht mal dreissig Prozent der Studenten Mädchen – wenn das nicht Grund für zu viel Selbstvertrauen war. Trotzdem war es mir lieber, wenn Omar auch da war, wenn Omar fuhr. Ich vermisste ihn. Ich fuhr langsam, blinkte jedes Mal und achtete auf die Radfahrer. Bei der Ampel an der Gumhurîjastrasse klopfte ein kleines Mädchen an mein Fenster und bettelte mit gesenktem Kopf und leerem Blick. Weil ich allein war, gab ich ihr einen Geldschein. Wäre Omar dabei gewesen, so hätte ich ihr eine Münze gegeben – er verabscheute Bettler. Sie griff mit ungläubigem Staunen nach den fünf Pfund und eilte zurück auf den Gehsteig. Als die Ampel auf Grün wechselte, fuhr ich weiter. Im Rückspiegel sah ich, wie andere Kinder und ein paar verzweifelte Erwachsene das Mädchen umringten. Staub wirbelte auf, und ein Streit entbrannte. Mit schweissnassen Händen klopfte ich an die Tür des Hörsaals 101. Ich war eine Viertelstunde zu spät. Drinnen hörte ich Doktor Baschîr ein weiteres Kapitel Buchhaltung, mein ungeliebtestes Fach, dozieren, aber mein Vater wollte, dass Omar Wirtschaft studierte. Und ich wollte, nach Jahren an einer Mädchenschule, mit Omar zusammen sein. Ich klopfte noch einmal lauter und drehte mutig am Knauf. Die Tür war geschlossen. Also hatte Doktor Baschîr seine Ankündigung wahr gemacht, keine Zuspätkommenden in seinen Vorlesungen zu dulden. Ich drehte mich um und ging zur Cafeteria. Meine Lieblingscafeteria war im rückwärtigen Teil der Universität. Sie lag am Blauen Nil, aber das dichte Laub der Bäume verdeckte den Blick auf das Wasser. Der schattige Morgen und der Duft der Mangobäume beruhigten mich allmählich. Ich setzte mich an einen Tisch und tat so, als würde ich meine Notizen lesen. Sie sagten mir nichts und erfüllten mich mit Leere. Ich ahnte, wie viele Stunden es brauchen würde, auswendig zu lernen, was ich nicht begriff. Als ich aufblickte, sah ich, dass Anwar al-Sir an einem Nachbartisch sass. Er war in seinem letzten Studienjahr, und man wusste, dass er Bestnoten bekam. Heute war er mit seiner Zigarette und einem Glas Tee allein. Auf dem Campus waren die meisten ungepflegt, aber er hatte immer saubere Hemden an, war glattrasiert und trug sein Haar kurz, obwohl längere Frisuren Mode waren. Omar trug sein Haar genauso wie Michael Jackson auf dem Cover seines Albums Off the Wall. Anwar al-Sir war Mitglied der Demokratischen Front, des studentischen Zweigs der Kommunistischen Partei. Vermutlich hasste er mich, schliesslich hatte ich ihn in einer nadwa4 voller Witz und Verachtung über die Bourgeoisie herziehen hören. Die Familien mit Ländereien, die Kapitalisten, die Aristokraten, sie seien schuld an dem Schlamassel, in dem sich unser Land befinde, sagte er. Ich unterhielt mich mit Omar darüber, aber der fand, ich nähme das zu persönlich. Omar hatte keine Zeit für Leute wie Anwar, er hatte seine eigenen Freunde. Sie tauschten untereinander Videos von Top of the Pops und wollten alle einmal nach Grossbritannien gehen. Omar fand, es sei uns unter den Engländern bessergegangen und es sei schade, dass sie nicht mehr da waren. Ich passte...


Leila Aboulela, geboren 1964 in Kairo, wuchs als Tochter einer ägyptischen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Khartum, Sudan, auf. Sie studierte Ökonomie und Statistik an der dortigen Universität sowie Ökonomie und Politikwissenschaft in London. Ab 1990 Dozentin und wissenschaftliche Assistentin in Aberdeen, Schottland. Nach Jahren in Jakarta, Dubai, Abu Dhabi und Doha lebt sie seit 2012 wieder in Aberdeen. Aboulela veröffentlichte fünf Romane, zwei Erzählungsbände und Hörspiele. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in rund fünfzehn Sprachen übersetzt. www.leila-aboulela.com.



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