E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
Achebe Der Pfeil Gottes
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-400732-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
ISBN: 978-3-10-400732-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten aus dem Stamm der Igbo geboren. Er studierte am University College von Ibadan und lehrte seitdem als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. 1958 erschien sein erster Roman »Alles zerfällt«, eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. 2002 wurde Achebe für sein politisches Engagement mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize. Chinua Achebe starb 2013 in Boston.
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Kapitel 1
Es wurde zum dritten Mal Abend, seit Ezeulu begonnen hatte, nach den Anzeichen des Neumondes Ausschau zu halten. Heute mussten sie zu sehen sein, das wusste er; doch er war schon immer drei Tage vor der Zeit auf seinem Posten, denn er durfte das Ereignis auf keinen Fall versäumen. In dieser Jahreszeit war die Aufgabe nicht allzu schwierig, er brauchte den Himmel nicht so eindringlich abzusuchen wie zur Regenzeit, in der sich der Neumond manchmal tagelang hinter den Wolken verbarg, schon halb gerundet war, wenn er endlich zum Vorschein kam und während dieses Versteckspiels den Oberpriester Ezeulu zwang, jeden Abend in seiner Tür auf ihn zu warten.
Sein war anders gebaut als die Häuser der übrigen Leute. Es hatte an der Vorderseite die übliche lange Schwelle, aber rechts neben dem Eingang war noch eine zweite, kürzere. Die Dachsparren über diesem zweiten Eingang waren so weit zurückgeschnitten, dass Ezeulu, wenn er auf dem Boden saß, den Teil des Himmels beobachten konnte, in dem der Mond seine Tür hatte. Es dunkelte, und der Priester blinzelte, um seine Augen freizuhalten von dem Wasser, das sich durch das scharfe Spähen darin sammelte.
Ezeulu dachte nicht gern daran, dass sein Augenlicht nicht mehr so gut war wie früher; eines Tages müsste er sich auf fremde Hilfe verlassen, wie es sein Großvater getan hatte, als die Kraft seiner Augen versagte. Der hatte freilich ein so hohes Alter erreicht, dass er seine Blindheit als Ehrenzeichen trug. Wenn Ezeulu ebenso lange lebte, nähme auch er ein solches Schicksal hin. Jetzt aber taugte er noch so viel wie ein junger Mann – oder sogar mehr, weil die jungen Männer nicht mehr so waren wie früher. Ezeulu spielte gern ein Spiel mit ihnen, dessen er nicht müde wurde: Wenn sie ihm die Hand reichten, spannte er die Armmuskeln und legte seine ganze Kraft in den Händedruck, und da sie darauf nicht gefasst waren, zuckten sie jedes Mal heftig vor Schmerz zusammen und wichen zurück.
Der Mond, den Ezeulu an diesem Abend sah, war dünn wie ein Waisenkind, das von einer grausamen Pflegemutter widerwillig ernährt wird. Er sah schärfer hin, um sicher zu sein, dass ihn nicht ein Federwölkchen betrog. Gleichzeitig griff er etwas beklommen nach seiner Es war bei jedem Neumond dasselbe; jetzt war er ein alter Mann, aber noch immer umgab ihn die Furcht vor dem Neumond, die er als Kind empfunden hatte. Freilich, seit er Oberpriester des Ulu wurde, wich diese Furcht häufig der Freude über sein hohes Amt – aber gestorben war sie nie. Sie lag nun, von jener Freude überwältigt, auf dem Boden.
Er schlug seine gome gome gome gome … und sogleich trugen Kinderstimmen die Nachricht überallhin. … … … Er legte den Schlegel zurück in den eisernen Gong und lehnte ihn an die Wand.
Die Kinder in Ezeulus Hof stimmten in den Gruß an den Neumond ein. Obiagelis schrille Stimme übertönte die andern wie eine kleine die Trommeln und Flöten. Auch die Stimme seines jüngsten Sohnes Nwafo hörte der Oberpriester heraus. Die Frauen standen im Freien und sprachen miteinander.
»Mond«, sagte die älteste Frau, »möge dein Gesicht mir Glück bringen, wenn es meines bescheint.«
»Wo ist er?«, fragte Ogoye, die jüngere Frau. »Ich sehe ihn nicht – oder bin ich blind?«
»Siehst du ihn nicht – dort über der Krone des Ukwabaums? Nein, nicht da – folge meinem Finger.«
»Oho – jetzt sehe ich ihn. Mond, möge dein Gesicht mir Glück bringen, wenn es meines bescheint. Aber wie hängt er da? Mir gefällt seine Stellung nicht.«
»Warum?«, fragte Matefi.
»Ich glaube, er steht schief – wie ein böser Mond.«
»Nein«, erwiderte Matefi. »Ein böser Mond gibt uns keine Gelegenheit zu zweifeln. Wie damals, als Okuata starb und die Beine des Mondes nach oben in die Luft standen.«
»Kann der Mond Menschen töten?«, fragte Obiageli. Sie zerrte am Rock ihrer Mutter.
»Was habe ich diesem Kind getan? Willst du mir die Kleider vom Leibe reißen, bis ich nackt bin?«
»Ich fragte: Kann der Mond Menschen töten?«
»Kleine Mädchen tötet er«, antwortete Nwafo.
»Dich hab ich nicht gefragt, du Ameisenhaufennase.«
»Du wirst bald weinen, .«
»Der Mond tötet kleine Jungen – der Mond tötet Ameisenhaufennasen – der Mond tötet kleine Jungen …«
Obiageli machte aus allem ein kleines Lied.
Ezeulu ging in seine Scheune und nahm eine Yamsknolle von einem Bambusregal, das eigens für die zwölf heiligen Yamsknollen aufgestellt worden war. Acht waren noch übrig. Obwohl er wusste, dass es noch acht sein mussten, zählte er sie sorgfältig. Drei hatte er schon gegessen, die vierte hielt er in der Hand. Die übrigen zählte er nochmals und ging zurück zu seinem , nachdem er die Scheunentür gewissenhaft hinter sich geschlossen hatte.
Sein Holzfeuer schwelte. Er griff nach ein paar Scheiten Brennholz, das in der Ecke gestapelt war, baute sie sorgfältig in das Feuer ein und legte die Yam wie ein Opfer obenauf.
Während sie röstete, dachte er über die kommenden Ereignisse nach. Es war Oye. Morgen würde Afo sein, und am Tag darauf Nkwo, der Tag des großen Markts. Das Fest der Kürbisblätter folgte demnach auf den dritten dann folgenden Nkwo. Morgen musste er seine Helfer holen lassen und ihnen befehlen, diesen Tag in den sechs Dörfern von Umuaro zu verkünden.
Wann immer Ezeulu seine ungeheure Macht über das Jahr und die Ernten und somit auch über die Menschen zu Bewusstsein kam, fragte er sich, ob sie denn real sei, diese Macht … Freilich, er verkündete den Tag für das Fest der Kürbisblätter und das Fest des Neuen Yam; aber auswählen konnte er den Tag nicht. Er war nur ein Wächter. Seine Macht war nicht größer als die Macht eines kleinen Jungen über die Ziege, die er sein Eigen nannte. Solange sie lebte, war sie sein; er konnte ihr Futter suchen und sie hüten. Aber wenn sie geschlachtet werden sollte, erfuhr er, wem sie wirklich gehörte. Nein! Der Oberpriester des Ulu war mehr, musste mehr sein! Weigerte er sich, den Tag zu nennen, dann gab es kein Fest, kein Pflanzen und kein Reifen. Aber … konnte er sich weigern? Noch nie hatte sich ein Oberpriester geweigert. Also war es unmöglich. Er durfte es nicht wagen.
Nun regte sich Zorn in ihm, als habe ein Feind die eben gedachten Worte gesprochen.
»Lass das Wort ›wagen‹ weg!«, antwortete er diesem Feind. »Ja, ich sage, lass es weg! Kein Mann in ganz Umuaro darf sich erheben und erklären, ich wagte etwas nicht. Die Frau, die den Mann zur Welt bringt, der das behauptet, ist noch nicht geboren.«
Diese Zurechtweisung brachte ihm jedoch nur eine kurze Befriedigung. Tief in seinem Innern fuhr er damit fort, beharrlich die Art seiner Macht genauer zu ergründen. Was war das für eine Macht, von der jeder wusste, dass sie nie angewendet würde? Dann sagte man doch besser gleich, es gäbe sie nicht oder sie sei nicht stärker als die Kraft im Hintern des hochmütigen Hundes, der mit seinem kleinen Furz einen feurigen Ofen auszublasen versuchte … Ezeulu drehte die Yamsknolle mit seinem Stock um.
Jetzt kam sein jüngster Sohn Nwafo in das , rief ihn beim Namen und grüßte ihn; dann setzte er sich auf seinen Lieblingsplatz, die Lehmbank am anderen Ende des Raums, dicht neben der kürzeren Schwelle. Obwohl er noch ein Kind war, schien ihn die Gottheit bereits zu ihrem künftigen Oberpriester bestimmt zu haben. Ehe er noch gelernt hatte, mehr als ein paar Worte zu sprechen, hatte ihn das Ritual des Gottes mächtig angezogen. Fast konnte man meinen, er wisse schon mehr davon als sogar Ezeulus Ältester. Trotzdem wäre nie jemand so vorschnell gewesen, offen zu sagen, Ulu werde dieses oder jenes tun; wenn einmal die Zeit kam, in der Ezeulu nicht mehr da war, dann wählte Ulu vielleicht gerade den scheinbar am wenigsten geeigneten Sohn des Priesters zu dessen Nachfolger. So etwas war auch schon früher vorgekommen.
Ezeulu schenkte dem Yam die größte Aufmerksamkeit, er drehte ihn jedes Mal mit seinem Stock um, wenn die dem Feuer zugekehrte Seite gar genug war. Sein ältester Sohn Edogo trat ein; er kam aus seinem Haus.
»Ezeulu!«, sagte er grüßend.
»E-e-i!«
Edogo ging durch den Raum in den Innenhof zu seiner Schwester Akueke, die zurzeit dort wohnte.
»Geh und ruf mir Edogo her«, sagte Ezeulu zu Nwafo.
Die beiden kamen zurück und setzten sich auf die Lehmbank, Ezeulu drehte die Yamsknolle nochmals um, ehe er sprach.
»Habe ich dir gesagt, dass du eine Gottheit schnitzen sollst?«
Edogo antwortete nicht. Ezeulu blickte zu ihm hinüber, konnte ihn aber nicht deutlich sehen, weil der andere Teil des im Dunkeln lag. Edogo aber sah das Gesicht seines Vaters vom Feuer beleuchtet, auf dem er den geweihten Yam röstete.
»Ist Edogo nicht da?«
»Hier bin ich.«
»Ich fragte dich, was ich dir über das Schnitzen von Götterbildern gesagt habe. Vielleicht hast du meine erste Frage nicht gehört. Vielleicht hatte ich Wasser im Mund, als ich zu dir sprach?«
»Du hast mir gesagt, ich soll keine schnitzen.«
»Habe ich dir das gesagt? So? Was ist das dann für eine Geschichte, die ich höre – dass du einen für einen Mann in Umuago geschnitzt hast?«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Wer mir das erzählt hat? Ich will wissen, ob es wahr ist oder nicht – und nicht, wer mir das erzählt hat.«
»Ich möchte wissen,...




