Aciman Acht helle Nächte
1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9117-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9117-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
'Ich bin Clara' - als sich ihm auf einer Weihnachtsparty eine faszinierende junge Frau mit diesem Satz vorstellt, ist es um den Erzähler geschehen. Wie aus dem Nichts steht sie vor ihm und schlägt ihn mit ihrer Schönheit, ihrem Temperament und ihrem klugen boshaften Witz in Bann. Augenblicklich weiß er, dass er diese Begegnung niemals vergessen wird. Im verschneiten New York nimmt eine spannungsgeladene Affäre ihren Lauf. Doch seine Gefühle für diese Unbekannte sind so plötzlich und so tief, dass er es nicht wagt, sie offen auszusprechen. Je öfter er Clara sieht, desto mehr wird ihm bewusst, dass ihm entweder unermessliches Glück bevorsteht oder ein schmerzlicher Verlust, der ihn zeichnen wird.
André Aciman wurde 1951 in Alexandria, Ägypten, geboren. 1969 ließ er sich in New York nieder, wo er heute mit seiner Frau und seinen Kindern lebt. Aciman ist Romanautor, Essayist und Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft. Er gehört zu den führenden Proust-Spezialisten. Auf Deutsch liegen seine autobiografischen Bücher »Damals in Alexandria« und »Hauptstädte der Erinnerung« vor sowie seine Romane »Ruf mich bei deinem Namen« (2008) und »Acht helle Nächte« (2010) und »Mein Sommer mit Kalaschnikow« (2014), die bei Kein & Aber erschienen sind.
Weitere Infos & Material
Drei weitere kleine Tische waren gedeckt, aber noch nicht mit Essbarem bestückt. Fantastisch, jeden Morgen hier frühstücken zu können! Links von mir war das Herbarium voller Gewürze – Lavendel, Rosmarin, überall ein Hauch Provence. Ich sah auf das weiße, stärkeschimmernde Tischtuch, das so aussah, als hätten es liebevolle Hände gewaschen, ausgeschüttelt, gebügelt und zusammengelegt. »Wie habt ihr beide euch noch mal kennengelernt?« »Im Salon.« »Nein«, sagte sie und stützte sich wieder mit dem Ellbogen auf meine Schulter. »Im Fahrstuhl.« »Im Fahrstuhl?« Plötzlich fiel es mir wieder ein. Natürlich. Ich erinnerte mich an den Türsteher, der mich zum Fahrstuhl geleitet und mit einem langen livrierten Arm hinter die Fahrstuhltür gelangt hatte, um auf den Knopf zu drücken, sodass ich mich geehrt und gleichzeitig sehr, sehr klein fühlte. Dann erst hatte ich die Frau im dunkelblauen Regenmantel bemerkt, die kräftig den Schnee von den Stiefeln stampfte. Ich hoffte heimlich, sie gehöre zu den Gästen, aber die Hoffnung erlosch, als sie mehrere Stockwerke früher ausstieg. Ich war so fest davon überzeugt gewesen, sie nie wiederzusehen, dass ich nicht glauben konnte, dass die Frau, die jetzt im Gewächshaus vor mir saß, dieselbe war, deren Blick im Fahrstuhl – jetzt war die Erinnerung wieder da – ein Dass du dich nicht unterstehst! mit einem Nein, auch kein Gelaber, klar? kombiniert hatte. Hatte Clara sich auf der Party vorgestellt, weil sie meinte, durch die Begegnung im Fahrstuhl sei das Eis schon gebrochen? Oder erlebte ich etwas Schönes immer dann, wenn ich aufgehört hatte, darauf zu hoffen? Oder gibt es ein Wirken unseres Geschicks nur dann, wenn wir blind dafür sind oder wenn es, wie die Orakel es tun, in unverständlichen Zungen spricht? »Haben wir im Fahrstuhl miteinander gesprochen?«, fragte ich. »Allerdings. Du hast gesagt, dass du dich sehr wunderst, in Manhattan ein Haus mit einem dreizehnten Stockwerk zu finden.« Und was hatte sie geantwortet? War eine so dämliche Anmache einer Antwort wert? »Und wenn ich das von dem dreizehnten Stock nicht gesagt hätte?« »Das ist eine Tür-Nummer-drei-Frage, und ich hab dir schon mal gesagt, dass ich heute Abend keine Quizshow mache.« Ob sie auf dem Weg zu einer anderen Party hier im Haus gewesen sei, wollte ich wissen. Sie wohne hier. Ich wohne hier. Zuerst klang das in meinen Ohren wie: Ich wohne hier, Blödmann. Schließlich begriff ich den Satz als ein sehr intimes Geständnis, als habe meine Frage sie in eine Ecke gedrängt, als sei diese Ecke nichts anderes als die Wohnung, in der sie lebte – mit Inky, ihren Kleidern, ihren Zigaretten, ihrem Bimsstein, ihrer Musik, ihren Schuhen. Hier wohnt sie also, dachte ich. Dies ist das Haus, in dem Clara wohnt. Selbst die Wände, vor denen sie keine Geheimnisse hat und die alles hören, wenn sie mit ihnen allein ist, mit denen sie spricht, weil sie nicht halb so taub sind, wie es immer heißt, die Wände also wissen, wer diese Clara ist, während ich – ebenso ahnungslos wie Inky, wie so viele andere, durch die sie gelitten hat – keinen Schimmer habe. Ich wohne hier. Als hätte sie mir etwas anvertraut, was ich nie erfahren hätte, wenn ich sie nicht gezwungen hätte, es zuzugeben. Daher auch der ein wenig verschnupfte, gekränkte Unterton: Aber es war ja nie ein Geheimnis, warum hast du nicht schon längst danach gefragt? Jäh kam mir ein anderer Gedanke: War vielleicht Inky gar nicht nach Darien gefahren, sondern saß in diesem Moment schmollend unten und wartete auf sie? Wo warst du denn die ganze Zeit? Oben. Ich habe gewartet und gewartet und gewartet. Geschieht dir recht, wenn du dich von der Party abgeseilt hast. Du wusstest doch, dass ich warte. Was ist mit Connecticut? Zu viel Schnee. Du bleibst also heute über Nacht? Yep. »Moment mal«, sagte Hans. »Ihr habt zusammen getrunken und habt nicht gewusst, dass ihr euch schon vom Fahrstuhl her kennt?« Ich nickte hilflos-dümmlich. »Nicht zu fassen.« Ich spürte, wie mir das Blut in die Ohren schoss. »Er wird rot«, flüsterte Clara vernehmlich. »Rot werden bedeutet nicht immer, dass man etwas zu verbergen hat«, sagte ich. »Rot werden bedeutet nicht immer, dass man etwas zu verbergen hat«, wiederholte Hans in seiner üblichen bedächtigen Art und leicht belustigt. »Wenn ich Clara wäre, würde ich das als Kompliment auffassen.« »Schau nur, er wird schon wieder rot«, sagte sie. Wenn ich es abstritt, würde ich gar nicht mehr aufhören zu glühen, das wusste ich genau. »Bedripst, verdruckst, verlegen – ihr Männer seid doch alle gleich.« Ich wollte gerade dagegenhalten, als es wieder passierte. Während unseres Geplänkels hatte ich mir ein Häppchen genommen, das ich für einen Würfel Sushi auf einem Reisbett gehalten hatte, tunkte es in Sauce und schluckte zum zweiten Mal eine Portion gepfefferte Hölle, diesmal, ohne dass Clara mich gewarnt hätte. Kaum hatte ich zugebissen, merkte ich, dass es weder ein Käsecracker noch roher Fisch oder eingelegter Kohl war, sondern etwas Gehässig-Mißlauniges, das sein Werk gerade erst begonnen hatte, ein Werk, das noch sehr lange anhalten konnte, womöglich für immer. Zusätzlich machte ich mir Vorwürfe, weil ich ganz genau wusste, dass ich es sofort hätte ausspucken müssen, auch wenn ich es im Gewächshaus außer in meine Serviette nirgendwohin hätte loswerden können. Stattdessen schluckte ich es hinunter, ohne recht zu wissen, warum. Es war schlimmer als Feuer. Es versengte alles, womit es in Berührung kam. Plötzlich sah ich mein ganzes Leben vor mir und die Richtung, die es nehmen würde. Ich kam mir vor wie ein Mann, der mitten in der Nacht aufwacht und feststellt, dass ihn der Großteil der Schutztruppen, die tagsüber auf Posten ist – sämtlich armselige, unterbezahlte Türsteher, die sich schwertun mit ihrem Job –, im Stich gelassen hat. Die Monster, tagsüber in Schach gehalten, haben sich losgemacht und sind zu speienden Drachen geworden. Und während er schwitzend unter seiner Decke liegt, sieht er plötzlich – wie jemand, der nachts ein Hotelfenster öffnet und das unvertraute Bild eines menschenleeren Dorfes vor Augen hat –, wie öd und freudlos sein Leben ist, wie er stets sein Ziel verfehlt, immer den bequemsten Weg gewählt hat, wie er gleich einem Geisterschiff von Port zu Port geirrt ist, ohne jemals in dem einen wahren, dem Heimathafen vor Anker zu gehen, weil ihm in dieser schicksalhaften Nacht mit einem Mal noch etwas klar wird, dass nämlich der Begriff Heimat wenig mehr als ein Notbehelf ist, alles ist ein Notbehelf, sogar das Denken, ebenso Wahrheit und Freude und Liebe, ja die Worte selbst, an denen er Halt sucht, wenn ihm der Boden unter den Füßen wegzurutschen droht – alles nur Notbehelf. Was habe ich getan, fragt er, wie finster sind meine Freuden, wie seicht meine Winkelzüge, die mich um mein eigenes Leben betrügen und mich zwingen, ein anderes zu führen, was habe ich getan, dass ich in der falschen Tonart singe, die falsche Zeitform benutze und in einer Sprache spreche, die alle berührt, die ich kenne, aber mich unberührt lässt? Wer ist er, wenn er das Fenster öffnet und auf Bellagio blickt und ganz allein in der Nacht ist und niemand zusieht – nicht sein Schatten-Ich, nicht sein Chor von Laternenpfählen mit den leuchtenden Aureolen, nicht die Person, die jetzt in seinem Bett schläft und nicht ahnt, dass das, was er mit so viel Bitternis im Herzen betrachtet, sein Leben am anderen Ufer ist, fast zum Greifen nah, ein Leben, das wir anschauen, weil wir glauben, dass es allein zum Anschauen da ist, ein Leben, das nie in Gang kommt, weil es, ohne dass wir dessen gewahr werden, das Ufer der Toten ist, von dem aus unser Blick ins Land der Lebenden geht? Wer ist er, wenn ebenjene Sprache, die er ablehnt, die einzige ist, die er beherrscht, wenn das Leben, das er betrügt, das einzige ist, das es gibt? Ich wollte an Muffy denken und an ihre gemelline, um ein Lachen in mein Herz zu locken, aber das Lachen wollte nicht kommen. Wieder liefen mir Tränen übers Gesicht, aber in meiner Qual hätte ich nicht sagen können, ob es Tränen des Schmerzes waren, des Kummers, der Dankbarkeit, der Liebe, der Scham, der Panik, des Ekels – denn all das empfand ich gleichzeitig, die Angst vor dem Weinen und die Scham zu weinen und die Scham über meine Scham und die Angst, mein Körper könne mich jedes Mal verraten, wenn ich errötete und zögerte und eine unpassende Bemerkung machte oder nichts zu sagen fand, statt zu schweigen – immer auf der Suche nach dem Etwas an der Stelle des Nichts, dem Etwas an der Stelle des ...