E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Acron / Reifenberg / Tielmann Kronox – Vom Feind gesteuert
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-423-43714-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-423-43714-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
R. T. Acron sind Christian Tielmann und Frank Maria Reifenberg, zwei renommierte Kinder- und Jugendbuchautoren, die zudem ein besonderes Gespür für die Bedürfnisse lesender Jungs haben.
Autoren/Hrsg.
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4 Jahre später
Schmerz. Unerträglicher Kopfschmerz, der sich von der Stirn über den Schädel bis in den Nacken zieht, weckt Paul Verhoven auch am 14. Juni. Schon wieder. Paul öffnet die Augen vorsichtig.
Draußen dämmert es. Paul will den Wecker gar nicht sehen. Er will die Uhrzeit nicht wissen, im Gegenteil würde er die Zeit am liebsten vergessen. Wie er so vieles vergessen will: den Schmerz, das verkorkste Zeugnis, die Sache mit seiner Mutter und sogar das Datum des heutigen Tages. Vor allem ist es aber dieser pünktlich einsetzende Schmerz, der ihm Angst einjagt. Er schaut nun doch auf den Wecker. 04:07 Uhr.
Exakt um diese Uhrzeit wacht er nun schon seit zwei Wochen mit diesen mörderischen Kopfschmerzen auf, gegen die, wie er inzwischen weiß, keine Tablette hilft. Er fühlt sich seit Wochen jeden Morgen so, als hätte jemand sein Gehirn durch den Fleischwolf gedreht. Paul weiß, dass auch diese Nacht für ihn gelaufen ist. Schlafen wird er nicht mehr. Und das ausgerechnet heute, an seinem 14. Geburtstag.
Wo kommen diese Schmerzen her?, fragt sich Paul. Warum verschwinden sie immer unten am See, wenn er am Boot von Friedrich Luft arbeitet? In der Schule dagegen ist ihm der Schädel einmal fast geplatzt. Aber als er sich krankmelden wollte, meinte die Mathe-Schuster nur, dass solche Manöver ihm auch nichts mehr nutzen würden. Sein Zeugnis sei das schlechteste der Jahrgangstufe. Das einzig Gute an diesem grässlichen Morgen seines 14. Geburtstages ist für Paul, dass es auch der erste Ferientag ist. Drei Monate dauern die Sommerferien nun. Vor zwei Jahren hat die Regierung die Ferienzeit noch einmal verlängert, weil die Schulen in den trockenen, heißen Sommermonaten sowieso wegen Hitzefrei geschlossen blieben.
Aber mit der Schule und dem Druck der Lehrer hat Pauls Vier-Uhr-sieben-Schmerz nichts zu tun, das ahnt Paul schon. Seinem Vater hat er nichts von seinen Befürchtungen erzählt. Auch wenn die Krankheit bei seiner Mutter nicht im Kopf begonnen hat, war sein erster Gedanke, dass die Schmerzen etwas mit einem Tumor zu tun haben könnten.
Seit seine Mutter die Diagnose Krebs bekommen hat, ist selbst Pauls sonst so entspannter Vater nicht mehr cool, wenn es um die Gesundheit geht. Er würde Paul sofort durch sämtliche Geräte der neurologischen Abteilung jagen, auf der seine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat.
Paul will seinen Eltern keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Seine Mutter hat sowieso genug mit sich und sein Vater genug mit seiner Mutter und ihrer Krankheit zu tun. Das Zeugnis, das Paul ihm gestern, am letzten Schultag vor den Sommerferien, vorgelegt hat, war hart genug. Ein bisschen bewundert Paul seinen Vater für die Lässigkeit, mit der er dieses »Katastrophen-Blatt«, wie die Mathe-Schuster es noch nennen musste, als sie es Paul auf den Tisch klatschte, aufgenommen hat. Er hat nur rasch draufgeschaut, Paul über den Kopf gewuschelt und gemurmelt: »Das ist den Umständen geschuldet, Paul.«
Paul schiebt die Decke weg, steht vorsichtig auf, bemüht sich, den Kopf nicht zu stark zu bewegen. Er tastet nach seinen Klamotten und schleicht sich rüber ins Badezimmer. Im Wohnzimmer schnauft Kowalski. Der Rauhaardackel hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Im Badezimmer wirft sich Paul eine Ladung Wasser mit den Händen ins Gesicht. Dann schaut er in den Spiegel und kriegt einen gewaltigen Schreck. Seine Augen sind blutunterlaufen, die Äderchen geplatzt.
»Verdammt, du musst zu einem Arzt«, flüstert Paul seinem Spiegelbild zu. Alles, was er sich in den letzten Wochen eingeredet hat, dass es Migräne oder Stress oder der Druck wegen Mama ist oder doch nur die Schule schuld sein könnte, ist vermutlich Unsinn. Auch wenn er es seinem Vater und seiner Mutter gern ersparen würde: Er hat ein Problem.
Er klatscht sich noch eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und schaut erneut in den Spiegel. Plötzlich ist alles wieder ganz normal: Seine Augen sind klar, der Augapfel weiß. Der Schmerz ist etwas dumpfer. Aber noch da. Also war es doch nur falscher Alarm?
Paul lässt die Haare, wie sie sind, knotet sie einfach nur zu einem Bun in die Höhe und stülpt die Baumwollmütze, die er auch im Sommer fast immer trägt, darüber.
Er schreibt seinem Vater einen Zettel. »Konnte nicht mehr pennen, bringe später Brötchen mit. Paul«
Dann angelt er sich seine Jacke vom Haken, steckt die Schlüssel ein und zieht die Wohnungstür leise ins Schloss.
Bis zum See braucht er mit dem Fahrrad nicht lang. Die Sonne taucht den Morgenhimmel schon in ein hoffnungsvolles Graublau. Die Luft ist klar und Berlins Straßen sind fast menschenleer.
Paul tritt in die Pedale. Alle paar Meter lächeln ihn Politiker von den riesigen Werbe-Displays an. Mal dieser Anton Versmolt, ein älterer Typ, dessen Partei mehr Sicherheit auf Berlins Straße verspricht, mal eine Frau, die den Weltuntergang vorhersagt, und immer wieder Tilda Blomberg, die Bundeskanzlerin.
Tilda ist nicht schlecht, findet Paul. Sie hat dafür gesorgt, dass man nun schon mit 16 wählen darf. Bei dieser Wahl wird er noch nicht sein Kreuzchen machen, aber in zwei Jahren ist es dann so weit. Im Politikunterricht haben sie darüber gesprochen. Je jünger die Wähler, desto mehr Stimmen bekommt Tilda. Die braucht sie, weil diese Wahl darüber entscheiden wird, ob sie mit ihrer Nanozelle, die die Energieprobleme lösen soll, weitermachen kann. Null Emissionen, null Luftverschmutzung, das sind ihre Versprechen. Hoffentlich schafft sie es, denkt Paul und übersieht fast den weißen Lieferwagen, der ihm den Weg abschneidet.
»Alter!«, schreit Paul, aber der Typ ist schon um die nächste Ecke verschwunden.
Als Paul am See ankommt, atmet er auf. Die Kopfschmerzen lassen langsam nach. Paul wird den alten Fritz oben in der Villa nicht wecken, sondern gleich hinunter zum Bootshaus gehen. Die Kajüte der muss noch ihren letzten Schliff und dann den ersten Anstrich bekommen. Seit Wochen hat Paul jede freie Minute in dieses schmale, elegante Segelboot gesteckt. Plus einiger Stunden, die er eigentlich in der Schule hätte sein sollen.
Aber er lernt bei Friedrich Luft viel mehr als bei all den Lehrern, die ihm Zeug eintrichtern wollen, das ihn nicht interessiert. Fritz ist vor seiner Pensionierung vor 20 Jahren selbst Lehrer gewesen. Aber ein anderer.
»Wenn du deine Hände beschäftigst«, sagt Fritz immer, »läuft es in deiner Birne wie geschmiert. Den ganzen Gedankensalat, der dich ablenkt, leitest du in die schmirgelnde Hand. Dein Kopf ist frei.«
Paul bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn er daran denkt, dass sein Vater Friedrich Luft Geld für Nachhilfe in Latein und Mathe zahlt. Dabei lernt Paul hier keine einzige Vokabel. Er verbringt ja nur die Stunden damit, den alten Lack von der Kajüte dieses Bootes zu kratzen.
Paul genießt noch ein paar Augenblicke die Aussicht auf die spiegelglatte Oberfläche des Müggelsees, dann zieht er sich aus und springt kopfüber ins Wasser. Die Schmerzen scheinen am Ufer zu bleiben.
Ein Hauch von Glück, ein Schimmer von Geburtstag durchströmen Paul. 14 und schmerzfrei. So einfach kann es sein, wenn das Leben für einen Augenblick schön ist. Paul will es auskosten, er schwimmt, taucht ab und versucht, seinen Rekord zu brechen. Zug um Zug taucht er, das Wasser ist heute sehr klar. Die Strecke bis zu der Holzplattform wird er nicht komplett schaffen, aber wenn er in diesen Ferien jeden Tag hierherkommt, wird es irgendwann klappen. Immerhin, bis zu der im schlammigen Boden des Sees steckenden Tonne schafft er es dieses Mal. Nach Luft japsend taucht er auf, atmet ein paarmal durch und schwimmt auf dem Rücken liegend zurück. Am Bootshaus trocknet er sich mit einem schmuddeligen Handtuch ab. Gleich ein bisschen schleifen. Dann zurück, um 6:30 Uhr die Brötchen holen und seinen Vater wecken. Drei Monate Sommerferien liegen vor ihm und die Kopfschmerzen will er einfach jeden Morgen im See ertränken.
Doch in diesem Augenblick schlägt er wieder zu. Der Schmerz. Schlimmer als je zuvor. Paul drückt sich die Handballen auf die Augen, aber der Terror in seinem Kopf ist nicht mehr zu bändigen. Und dann passiert etwas Neues. Etwas, was Paul noch nie erlebt hat. Er sieht, fühlt, denkt Zahlen:
52° 26' 0? N 13° 39' 0? E 33U 408221 5810094 32,3 m 7,433 km² 4,3 km 2,6 km 36.560.000 m³ 7,7 m 4,9 m 52° 26' 0? N 13° 39' 0? E 33U 408221 5810094 32,3 m 7,433 km²
Die grünstichigen Zahlenreihen schieben sich in sein Gesichtsfeld. Als flimmerten sie über einen Monitor, der sich direkt in seinem Gehirn befindet, hinter den Augen. Pauls Herzschlag beschleunigt sich, sein Puls rast. Verliert er gerade den Verstand? Ist das ein Anfall? Ein Hirntumor? Wo kommt das her?
4,3 km 2,6 km 36.560.000 m³ 7,7 m 4,9 m 52° 26' 0? N 13° 39' 0? E 33U 408221 5810094...




