E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Adonis / Weidner Wortgesang
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403351-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Dichtung zur Revolution
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-403351-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Adonis wurde 1930 als Ali Ahmad Said Esber im syrischen Alawitengebirge geboren. Er studierte in Damaskus Philosophie und veröffentlichte in dieser Zeit erste Gedichte. Wegen politischer Aktivitäten verbrachte er elf Monate im Gefängnis. 1956 ging er in den Libanon nach Beirut, wo er zu einer der wichtigsten Stimmen für die Neubegründung der arabischen Lyrik wurde. 1980 emigrierte er nach Paris. Für seine Lyrik wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 2011. Er lebt heute in Paris. Im S. Fischer Verlag sind die Neuauflage seiner Gedichte ?Verwandlungen eines Liebenden? und ?Wortgesang? erschienen.
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Einführung in die arabische Poetik
1. Vorlesung
Poetik und vorislamische Mündlichkeit
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Ich verwende den Begriff Mündlichkeit unter dreierlei Aspekten: erstens im Hinblick auf die Tatsache, dass die arabische Dichtung in vorislamischer Zeit auf mündlicher Basis innerhalb einer oral-auditiven Kultur entstanden ist; zweitens im Hinblick darauf, dass uns diese Dichtung nicht in einer von Beginn an schriftlich fixierten Form erreicht hat, sondern dass sie im Gedächtnis eingraviert und mündlich weitertradiert wurde. Drittens geht es mir darum, die Merkmale der Mündlichkeit in der vorislamischen Dichtung zu untersuchen sowie die Intensität ihres Einflusses auf die arabische Dichtung in den nachfolgenden Epochen, vor allem auf ihre Ästhetik.
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Die vorislamische Dichtung ist ein Kind der Vortragskunst. Damit meine ich, sie entstand durch Zuhören, nicht durch Lesen; durch Singen, nicht durch Schreiben. Bei dieser Dichtung war die Stimme gleichsam der Lebensatem, eine Musik des Körpers. Sie war das gesprochene Wort und gleichzeitig weit mehr als das. Denn sie übermittelte die Worte und gleichzeitig das, was Worte allein nicht zu übermitteln vermögen, vor allem wenn sie schriftlich fixiert sind. Darin zeigt sich, wie eng, vielschichtig und komplex die Beziehung zwischen Stimme und Wort sowie die zwischen dem Dichter und seiner Stimme ist. Es ist eine Beziehung zwischen der Einzigartigkeit des Dichters und der Präsenz seiner Stimme, welche sich beide nur schwer definieren lassen. Wenn wir die Worte gesungen hören, dann vernehmen wir nicht allein die Laute der einzelnen Buchstaben, sondern auch die Seele dessen, der diese artikuliert – wir hören das, was über das rein Physische hinaus- und in den spirituellen Bereich hineinreicht. Das bedeutungstragende Element ist hier nicht das isolierte Wort, sondern das Wort in Kombination mit der Stimme, der »Wortmusik«, dem »Wortgesang«. Es verweist also nicht einfach auf eine bestimmte Bedeutung, sondern ist eine Kraft, die auf Verschiedenstes hinzuweisen vermag. Es ist das in gesungene Sprache verwandelte Ich. Es ist das Leben in sprachlicher Gestalt. Daher rührt in der vorislamischen Dichtung die tiefe Übereinstimmung zwischen den lautlichen Wertigkeiten des Wortes und dessen emotionalem und affektivem Gehalt.
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Die orale Kultur setzt zunächst einmal Zuhören voraus. Denn die Stimme verlangt vor allem nach einem Ohr, das sie wahrnimmt. Deshalb verfügte die orale Kultur über eine spezielle Technik des dichterischen Vortrags, die nicht darauf basierte, was ausgedrückt werden sollte, sondern darauf, wie man es ausdrückte. Dies umso mehr, als der vorislamische Dichter im Allgemeinen Dinge zur Sprache brachte, die dem Zuhörer schon vorher bekannt waren: seine Sitten und Traditionen, seine Kriege und Ruhmestaten, seine Triumphe und Niederlagen. Die Originalität des Dichters lag also nicht darin, was er zum Ausdruck brachte, sondern mit welcher Methode. Je kreativer und persönlicher er sich dieser bediente, desto stärker kam seine Individualität zum Tragen und desto größer war die Bewunderung seitens des Zuhörers. So kam dem vorislamischen Dichter die Aufgabe zu, die kollektiven Erfahrungen der Gemeinschaft, ihre alltäglichen, weltanschaulichen und moralischen Erscheinungsformen auf singuläre Weise abzubilden, in einer individuellen dichterischen Sprache. Man könnte somit sagen, dass der vorislamische Dichter sich selbst nur dadurch zum Ausdruck brachte, indem er sich zum Sprachrohr der Gemeinschaft machte. Er war einer, der mit seinem Gesang Zeugnis ablegte. Wir sollten uns also nicht über jenes Paradox in der vorislamischen Dichtung wundern: Einheit des Inhalts einerseits, Vielfalt des Ausdrucks andererseits.
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Dem Rezitieren und Memorieren kam sozusagen die Funktion eines Buches zu, durch welches die vorislamische Dichtung zum einen verbreitet, zum anderen bewahrt wurde.
Wenn wir den Ursprung des Wortes (›Lied‹, ›Hymne‹) im Arabischen zurückverfolgen, erkennen wir, dass dieses ›Stimme‹ und ›Heben der Stimme‹ bedeutet, so wie es auch die rezitierte Dichtung selbst bezeichnet. Aus dem Prinzip, dass die vorislamische Dichtung für den Vortrag bestimmt war, ergab sich als weiteres Prinzip, dass der Dichter selbst seine Gedichte vortragen sollte. Denn Dichtung klingt besser aus dem Mund ihres Verfassers, wie es al-Djahiz (777–869)[5] ausdrückt. Hier deutet sich an, dass die Araber in vorislamischer Zeit den dichterischen Vortrag als eigenständige Begabung betrachteten, zusätzlich zur Gabe des dichterischen Ausdrucks. In der Tat kam der Begabung zum Vortrag eine außerordentliche Bedeutung dabei zu, die Zuhörerschaft für sich einzunehmen, in den Bann zu schlagen, zu beeindrucken. Was umso wichtiger war, als dass das Hören für die Menschen in vorislamischer Zeit die Grundlage für sprachliches und musikalisches Bewusstsein war. Oder wie Ibn Khaldun (1332–1406)[6] es ausdrückt: »Der Vater aller Zungenfertigkeiten ist das Hören.« So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass ein Gedicht umso mehr beeindruckte, je besser der Vortrag war.
Der dichterische Vortrag ist nichts anderes als eine Art von Gesang. Das literarische Erbe der Araber strotzt von Hinweisen, die das bestätigen. Oft wurden die vortragenden Dichter mit singenden Vögeln verglichen, und die vorgetragenen Gedichte mit deren Gezwitscher. Ein berühmter Ausspruch bringt das, was wir meinen, auf den Punkt: »Der Gesang ist der Leitzügel der Dichtung.« Und bei Hassan Ibn Thabit (653–660)[7], dem sogenannten »Dichter des Propheten«, heißt es in einem ebenfalls berühmten Vers:
Singen sollst du, wenn du ein Gedicht aufsagst – Gesang ist die Arena der Dichtung!
Hier offenbart sich uns die organische Verbindung zwischen Dichtung und Gesang in der vorislamischen Zeit, und man versteht, was gemeint ist, wenn al-Marzubani (910–994)[8] sagt: »Die Araber maßen die Dichtung am Gesang«, oder: »Der Gesang ist die Waage der Dichtung«. Ibn Raschiq[9] zufolge war der Gesang der Ursprung von Reim und Versmaß. Weiter führt er aus, Versmaße seien die Fundamente der Melodien und Gedichte die Stimmgabeln für den richtigen Ton. Den deutlichsten Beweis dafür, dass Dichtung für die vorislamischen Araber Rezitation und Gesang in einem bedeutete, liefert das »Buch der Lieder« des Abu l-Faradj al-Isfahani (897–967)[10], welches in 21 Bänden vorliegt und mit dessen Niederschrift er fünfzig Jahre zubrachte.
Ibn Khaldun geht diesem Phänomen auf den Grund, indem er sagt: »Der Gesang galt schon in alten Zeiten als Kunstgattung, denn er war eng mit der Poetik verbunden, ja er war deren melodische Ausgestaltung. Mit ihm beschäftigten sich in ihrem Bemühen, sich die Methoden der Dichtung und ihrer Disziplinen anzueignen, auch die herausragendsten Dichter und Gelehrten des Abbasidenreichs.« An weiterer Stelle definiert er den Gesang als »melodische Ausgestaltung von Gedichten, deren Versmaß sich daraus ergibt, dass man die Laute in regelmäßige Intervalle einteilt.«
Was den dichterischen Vortrag selbst anbelangt, so unterlag dieser in vorislamischer Zeit besonderen Traditionen, die auch in den nachfolgenden Epochen noch Bestand haben sollten. So pflegten manche Dichter beispielsweise im Stehen zu rezitieren. Andere lehnten es stolz ab vorzutragen, solange man ihnen keine Möglichkeit zum Sitzen bot. Wiederum andere machten Bewegungen mit den Händen oder dem ganzen Körper, so wie al-Khansa’ (gestorben ca. 644)[11], die, wie es in den Überlieferungen heißt, »ekstatisch hin und her schwankte und dabei den Blick gesenkt hielt«. Daran lässt sich sehen, wie es in der Mündlichkeit zu einem Zusammentreffen von stimmlicher und körperlicher bzw. von sprachlicher und gestischer Wirkung kommt.
Einige Dichter trugen während der Rezitation ihrer Gedichte elegante, speziell dafür vorgesehene Kleidung, so als wäre der Vortrag eine Hochzeitsfeier oder ein religiöses Fest. Auch in späteren Epochen gab es solche, die sich nach Art der vorislamischen Dichter kleideten – dabei die ungebrochene Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit betonend.
Einer der Dichter, die in vorislamischer Zeit für die exzellente Qualität ihres Vortragsstils bekannt waren, war al-A‘scha, der vom Kalifen Mu‘awiya (605–680)[12] »Zimbel der Araber« genannt worden sein soll. Für diese Bezeichnung existieren die unterschiedlichsten Erklärungen: Eine besagt, er habe »sein Publikum durch seinen genuin arabischen Vortragsstil in Begeisterung versetzt«; eine andere, er habe seine Verse hymnisch vorgetragen; eine weitere, seine Dichtung sei von den Arabern oft gesungen worden. Oder es wird die Qualität seiner Dichtung oder seines Vortragsstils gerühmt. All diese Erklärungen stellen eine Verbindung zwischen Dichtung, Rezitation und Gesang her. Darauf zielt auch ein Ausspruch von al-Farazdaq (640–728)[13] ab, den er an den Dichter ‘Abbad al-‘Anbari richtete, nachdem er dessen Vortrag gehört hatte: »Dein Vortragsstil lässt die Verse in meinem Geiste noch schöner erscheinen.«
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Der dichterische Gesang war wie ein Körper mit Versmaß, Rhythmus und Melodie als dessen Gliedmaßen. Von...