Aichner | Schnee kommt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

Aichner Schnee kommt

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7436-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7436-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tag für Tag sitzt Ruben in seinem Sessel und starrt aus dem Fenster. Tag für Tag sieht er den Geldtransporter, der vor der Bank gegenüber hält. Eines Tages steht er auf, geht über die Straße, nimmt einen der unbewachten Geldkoffer und macht sich davon - auf in ein neues Leben. Auf seiner Flucht durch die Nacht gerät er in einen Unfall mitten in einem Tunnel. Während draußen der Schnee fällt und die Straßen gesperrt werden, sind im Tunnel fünf Menschen von der Außenwelt abgeschlossen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte, jeder sein dunkles Geheimnis - ein tödliches Drama nimmt seinen Lauf.

In seinem Roman Schnee kommt inszeniert Bernhard Aichner ein packendes Kammerspiel menschlicher Abgründe - virtuos komponiert, temporeich und bis zur letzten Seite fesselnd.

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Autoren/Hrsg.


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DIETER
Immer dasselbe Spiel. Wenn es gelb wäre, würde er gehen, er würde einfach gehen, seine Sachen packen, sie nicht wieder sehen, es würde ihm egal sein, ob sie leidet, ob sie ihn verflucht, er würde sie verlassen, wenn es gelb wäre. Er glaubte daran. An seine Entscheidung. Dieter saß in seiner Kabine und umschlang mit vier Fingern seinen Daumen. Er hoffte, er wollte, dass sich etwas veränderte, er schaute ins Dunkel. Ein Auto, das aus dem Schwarz kam, nur zwei Lichtkegel zuerst durch die Schneeflocken hindurch, dann kam es näher, noch näher, dann sah man seine Farbe, es war grün. Er würde nicht weggehen, er würde bei ihr bleiben. Sie war der einzige Mensch, den er hatte, der mit ihm leben wollte, da war sonst niemand. Er musste sich zufriedengeben mit ihr, egal, wie sehr er es hasste, sie wegwünschte von sich, er hasste sie, er liebte sie, er brauchte sie, egal, ob ihm schlecht wurde, wenn sie ihn berührte, wenn sie mit ihrer Hand über seinen Kopf strich, ihm Kosenamen zuwarf, ihn tätschelte wie ein Pferd. Er würde sie weiterhin ertragen, er brauchte sie. Kein gelbes Auto. Er würde bei ihr bleiben. Das Auto hatte entschieden. So waren die Regeln. Nachts eine Straße über die Berge, ein Tunnel, neun Kilometer lang, eine Mautstation, eine kleine Kabine, sein Zuhause. Alles hier war altmodisch, heruntergekommen, die Strecke wurde nicht mehr viel befahren, Renovierung lohnte sich nicht, irgendwann würde man alles stilllegen, keine Autos mehr durch diesen Berg schicken. Die Arbeit warf gerade genug ab, dass er davon leben konnte, er und der Mann auf der anderen Seite des Tunnels, beide in kleinen Kabinen aus Plexiglas. Dieter arbeitete hier. Er war Mautner, er war einunddreißig Jahre alt, und er wünschte sich etwas anderes. Nacht für Nacht spielte er. Auto für Auto. Aber nichts geschah, alles blieb, wie es war. Es schneite. Er schaute hinaus und wartete auf das nächste Auto. Pink. Und er würde kündigen. Wenn das nächste Auto pink wäre. Aber es gab keine pinken Autos auf dieser Straße. In zwei Jahren kein einziges. Trotzdem pink. Er wollte es wissen, er würde in die Stadt ziehen, diesen Job kündigen und endlich Musik machen, seine Musik. Egal, wie unmöglich es war. Pink. Mit seinen Gitarren in den Norden. Pink. Egal wohin, egal, wie schwierig es sein würde, was auf ihn zukommen würde, egal was. Nur weg von ihr. Von seiner Kabine. Diesem Tunnel. Pink. Dieter presste seine Finger aneinander. Die zwei Lichtkegel kamen auf ihn zu, alles könnte sich verändern, alle Farben waren möglich, es kam unter den Scheinwerfer vor der Mautstelle, er war sich sicher, es gab pinke Autos zwischen diesen Bergen, alles war möglich in dieser Nacht. Es kam näher. Dieter presste seine Lippen zusammen. Er sah es. Ein Audi. Nicht pink. Nur blau. Tief atmete er ein und aus. Ein Schwarzer am Steuer, daneben eine Frau. Dieter presste Luft zwischen seinen Lippen nach außen, der Schwarze streckte seine Kreditkarte aus dem Auto, sprach nicht, schaute feindselig, er schien wütend. Dieter gab ihm die Quittung. Falsche Farbe, dachte er, falsches Auto, falsche Welt, alles falsch. Wie immer. Er war enttäuscht, er war erleichtert, beides, er überlegte, er war sich nicht mehr sicher, er wollte nichts riskieren, er spürte, dass etwas Besonderes war in dieser Nacht, er entschied sich für Orange. Wenn es orange wäre, würde er gehen. Orange ist häufiger als pink, flüsterte er vor sich hin. In dieser Nacht würde er Glück haben. Der Schwarze schrie die Frau an, die neben ihm saß, Dieter hörte ihn, während die Scheibe nach oben ging, dann verschwand das Auto im Tunnel. Stille. Er dachte an Köln, dorthin wollte er, nächtelang träumte er, suchte nach Gründen zu gehen, nach Entscheidungen, die jemand für ihn treffen sollte. Orange, dachte er. Große Entscheidungen brauchen besondere Farben. Und alles wieder von vorne. Das nächste Auto würde über seine Zukunft entscheiden. Jede Nacht dasselbe Spiel. Dieter führte Listen, erstellte Statistiken, machte kleine Kreuze in kleine Spalten. Am häufigsten kam Rot. Aber diesmal sollte es Orange sein. Etwas sollte passieren, sich verändern. Jetzt. Es kam unter den Scheinwerfer. Und es war rot. Dieter machte ein Kreuz in eine Spalte und rieb sich die Hände. Nichts veränderte sich, er träumte weiter von Köln, er suchte sich neue schrille Farben, die ihn festhielten, die alles so ließen, wie es war. Es war Nacht. Er putzte sich die Nase, es war kalt draußen, Schnee fiel vom Himmel. Der Winter kam zu früh in diesem Jahr. Das rote Auto hielt neben seiner Kabine, die Scheibe ging nach unten. Wieder ein Paar. Dahinter gleich der nächste Wagen. Er war gelb. Zwei Autos zu spät. Sein Herz pochte, er hatte Glück gehabt, er war dankbar, dass er sich nichts gedacht hatte in dieser Runde, dass er sich nicht noch einmal für Gelb entschieden hatte. Dass alles so blieb, sein Leben, wie es war. Er brauchte sie doch, was sollte er ohne sie, sie schaute auf ihn, sie war da für ihn. Weggehen von ihr. Das konnte er nicht. Dieter dachte an Türkis, an Braun, an die unmöglichsten Farben. Das rote Auto neben ihm. Das Fenster, wie es nach unten ging, seine Gedanken an die Wohnung, in der er mit ihr lebte, ihre Fürsorge, wie sie über seine Haare strich mit ihrer alten Hand, ihre Ratschläge, ihre Ängste, das rote Auto und die Stimme, die plötzlich in seine Kabine kam, dieser Mann, dieses Gesicht, wie es aus dem roten Auto schaute, entstellt, abstoßend. Gedankenverloren starrte er ihn an, er konnte sich nicht abwenden, starrte ihn einfach an, zwei Sekunden, drei, eine Ewigkeit, seine Augen blieben kleben an diesem Gesicht. Er wollte das nicht, er konnte nicht anders. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Hässlich, durchfuhr es ihn, angsteinflößend, der Fahrer. Ein Paar in einem roten Auto. Wie sie ihn anlächelte, wie sein Gesicht ihn ekelte, wie er ihm die Quittung gab, wie er sich nicht abwenden konnte, starrte. Alles Lüge, dachte er. Die machen sich etwas vor. Wie kann sie ihn lieben, wenn er so aussieht, mit ihm zusammen sein. Er schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen, was er eben gesehen hatte, dieses Gesicht, die schöne Frau am Beifahrersitz, wie sie ihn angelacht hatte. Der Wagen fuhr in den Tunnel, das Bild blieb in seinem Kopf. Kurz schaute er dem Auto nach, nahm das Geld des nächsten Fahrers, grüßte nicht, sagte nichts, schaute nur, gab ihm das Restgeld. Die Autos verschwanden im Tunnel. Es wurde wieder still in seiner Welt. Nur das Neonlicht in seiner Kabine, das leise Surren. Er warf dieses Bild aus seinem Kopf, er versuchte es, er zerrte es nach außen, spuckte es aus. Es war still in seiner Kabine. Er musste sich um die Farben kümmern, das nächste Auto würde kommen, er musste eine Farbe wählen, überlegen. Dieses Gesicht, fremde Menschen, die an ihm vorbeifuhren, jede Nacht die flüchtigen Blicke in andere Leben, kleine Eindrücke, die nicht lange blieben. Sein Alltag, seine Kabine, die Autos, alles, was er hatte. Dieter rieb sein Gesicht. Eben war noch Sommer gewesen. Er beobachtete die Schneeflocken, die auf der Straße landeten, sie tanzten im Scheinwerferlicht, dichtes Schneetreiben plötzlich, große, kalte Flocken. Wie sie vor ihm aus dem Nichts auftauchten, aus dem Schwarz herausfielen. Wie sie die Straße langsam weiß machten. Es war warm in seiner Kabine. Du bist hier zuhause, sagte er sich, du kannst hier nicht weg, du gehörst hierher, dein schöner Sessel, mach dir nichts vor, dein kleines Radio, es ist warm hier. Was willst du noch, deine Kabine, deine Straße, deine Schneeflocken. Du bleibst, wo du bist, bis morgen früh, und am Abend kommst du wieder, fünf Nächte in der Woche, das ist dein Leben. Und Ende. Kein normales Leben, sagte seine Mutter. Was ist schon normal, sagte Dieter. Er hasste sie dafür, er wollte weg von ihr, er konnte nicht gehen, konnte sie nicht alleine lassen, er wollte kein Kind mehr sein, ihr Kind, sich nicht mehr bemuttern lassen, nicht mehr für sie da sein, für ihre Fürsorge, nicht mehr mit ihr sein jeden Tag. Er wollte weg von ihr. Doch kein Auto kam, nur Flocken. Die Fahrbahn wurde weiß, alles war still, nur das Surren der Neonröhren. Er öffnete das Fenster und hörte zu, wie sie fielen, lautlos fast, nur ein leises, dumpfes Geräusch, wenn sie im Weiß eintauchten. Kaum hörbar, wie Bewegungen in Watte. Flocken, die ankamen mitten in der Nacht. Nur er und der Schnee. Schnee in seinem Vorgarten, dachte er, Passanten in Autos. Da und wieder weg. Nur diese Flocken im Scheinwerferlicht, wie sie durch die Luft wirbelten, so viele, unkontrolliert, unzählbar. Schön, dachte er. Wie die...


Bernhard Aichner, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Fotograf in Innsbruck. Mehrere Literaturpreise und -stipendien, zuletzt der Burgdorfer Krimipreis (2014). Zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele sowie Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Bei HAYMONtb erschienen die Max-Broll-Krimis 'Die Schöne und der Tod' (2010), 'Für immer tot' (2011) und 'Leichenspiele' (2012) sowie der Roman 'Nur Blau' (2012).



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