E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Reihe: Piper Fantasy
Aiken Wildes Feuer, scharfe Krallen
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98606-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neue Stories von den Lions, Wölfen und Dragons
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Reihe: Piper Fantasy
ISBN: 978-3-492-98606-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Kapitel 1
Ghleanna die Dezimiererin nahm noch einen Schluck aus ihrem angeschlagenen Bierkrug und suhlte sich, auf recht umwerfende Art, wenn sie das selbst so sagen durfte, in ihrem Elend. Es war lächerlich, das wusste sie, wegen alledem immer noch so am Boden zerstört zu sein. Schon ein halbes Jahr war es her, und doch kam sie nicht darüber hinweg. Stattdessen saß sie da und trank und suhlte sich und versuchte zu vergessen. Das tat sie nun schon ziemlich lange. Zu lange, würde ihre Sippe sagen.
Doch es war alles ihre eigene Schuld. Sie hatte vertraut, wo sie es nicht hätte tun sollen, hatte Lügen geglaubt, obwohl sie es verdammt noch mal wirklich besser gewusst hatte, und vor allem hatte sie das eine vergessen, das niemand sonst je vergaß – dass ihr Vater Ailean der Verruchte war. Auch bekannt als Ailean die Hure, die berühmte Schlampe der Drachen- und der Menschenwelt.
Und durch einen einzigen Anfall von Dummheit war aus Ghleanna die Dezimiererin Ghleanna die Idiotin geworden.
Ghleanna die Närrin.
Ghleanna die Versagerin.
Wobei »Versagerin« vielleicht ein zu hartes Wort war. Sie hatte sich vorher nie als Versagerin gesehen. In ihren Jahren auf dem Schlachtfeld hatte sie sich immer wieder bewiesen. Aber jetzt fühlte sie sich wie eine Versagerin. Wie eine Versagerin und Närrin, die niemandem die Schuld geben konnte außer sich selbst. Also war Ghleanna in krankhafter Scham und Selbstmitleid und ohne Kriege oder Schlachten, die interessant genug gewesen wären, um ihren Geist oder Schwertarm zu beschäftigen, in die Sicherheit der alten Mauern ihrer Höhle zurückgekehrt, um sich leidzutun und – wenn sie ehrlich war – um sich zu verstecken. Nur für Essen und Bier wagte sie sich nach draußen.
Auch wenn sie in den letzten Tagen hauptsächlich für noch mehr Bier hinausgegangen war.
Sie hatte keine Ahnung, wie ihre langfristigen Pläne aussahen, andererseits: Brauchten Versager langfristige Pläne? Da sich Ghleanna nicht sicher war, trank sie mehr Bier, bis sich süße Dunkelheit über sie legte und sie nicht mehr über ihre angeborene Dummheit und das Elend nachdenken musste, das sie verursacht hatte.
Ghleanna hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, aber sosehr sie auch wollte, sie konnte die Schläge nicht mehr ignorieren, die ihr Kopf gerade abbekam. Sie zwang die Augen auf und sah das stumpfe Ende eines Speers wieder auf ihre Stirn zukommen. Sie rollte sich weg, aber das Ende eines weiteren Speers traf sie seitlich am Kiefer.
»Wach auf, du faule Sau. Wach auf!«
»Lasst mich in Ruhe, ihr irren Schlampen!«
»Spricht man so mit seinen lieben, süßen Tanten?«
»Ihr seid nicht meine Tanten!«, gab sie zurück.
»Aber fast. Es ist besser als Großcousinen, oder? Das macht uns so alt, findest du nicht, Kennis?«
»Das stimmt, Kyna. Und jetzt steh auf, bevor wir dir die Schuppen von den Knochen schälen.«
Angepisst, dass ihre Verwandtschaft nicht den Anstand besaß, sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich in ihrem Bier und Sabber suhlen konnte, setzte sich Ghleanna auf und knurrte: »Was ist denn, ihr alten Hexen? Was wollt ihr von mir?«
»Also, zuerst einmal kannst du mit dem Selbstmitleid aufhören. Stimmt’s, Kyna?«
»Das stimmt, Kennis. Nichts ist schlimmer als eine mächtige Drachin, die in einer dunklen, feuchtkalten Höhle herumsitzt und wegen irgendeines blöden Fehlers von einem Drachen heult.«
»Ich tue nichts dergleichen«, log sie.
»Schau mal, wie sie uns anlügt, Kennis!«
»Ich sehe es, Kyna. Lügt uns an und glaubt, wir wüssten es nicht. Es ist ein Jammer.« Kennis zuckte die Achseln. »Ich sage, wir schlagen sie noch mal. Aus Prinzip.«
»Einverstanden.«
Ghleanna hob eilig die Klauen, um ihren Kopf zu schützen. »Geht weg! Lasst mich in Ruhe!«
»Damit du hier herumsitzen und dir weiter selbst leidtun kannst? Wegen ihm? Ich würde dich lieber hier und jetzt umlegen, stimmt’s, Kyna?«
»Aye. Wie ein armes, verletztes Pferd.«
»Ich hasse euch.« Ghleanna seufzte tief und fuhr sich mit den Krallen durch die zu langen schwarzen Haare. Sie hatte sie seit Monaten nicht geschnitten, und das sah man. Sie wusste, sie sah wahrscheinlich aus wie kalte Kacke, aber sie würde ihrer Sippe nicht die Genugtuung verschaffen, es zuzugeben.
»Uns hassen? Obwohl wir so besorgt um deine nutzlose Haut sind?«, fragte Kyna.
»Deine ganzen Brüder und Schwestern jammern rum wegen dir. Ach! Das macht uns noch verrückt. Wir mussten etwas tun, nicht wahr, Kyna?«
»Aye, Kennis. Das mussten wir. Oder sie alle umbringen, nur damit sie aufhören. Aber das kam uns nicht richtig vor, stimmt’s, Kyna?«
»Nein. Überhaupt nicht.«
»Also kommt ihr hierher, um … was genau zu tun?«, wollte Ghleanna wissen. »Abgesehen davon, mir tierisch auf den Sack zu gehen?«
»Du hast Glück, dass wir dich holen kommen, du Göre. Bin mir nicht sicher, ob dein Erwachen so nett ausgefallen wäre, wenn stattdessen deine Mutter gekommen wäre. Stimmt’s, Kyna?«
»Oje! Die hätte deine Schuppen in eine andere Farbe geprügelt, das hätte sie. Sie ist halb tot vor Sorge um dich, und dann findet sie dich in dieser Höhle, wie du deinen Kummer in billigem Bier ertränkst.«
»Tja, hätte ich es wirklich alles beenden wollen, hätte ich einfach euer Bier genommen«, erwiderte Ghleanna schnippisch.
Das Hinterteil des Speers zielte wieder auf sie, aber diesmal fing Ghleanna es ab und hielt es fest. »Hör auf, mich mit dem blöden Ding zu schlagen!«
»Wenigstens sind ihre Reflexe noch gut. Jetzt müssen wir sie nur nüchtern bekommen …«
»Und baden. Sie riecht!«
»… und wir können sie an den Hof unserer Königin bringen, solange noch Vormittag ist.«
»Königshof? Was soll ich an Rhiannons Hof?«
»Oooh. Hast du das gehört, Kennis?«
»Aye, Kyna. Rhiannon nennt sie sie. Als wären sie alte Freundinnen.«
»Beste Kumpels!«
Die Drachenzwillinge kicherten, und Ghleanna verspürte das Bedürfnis, etwas kaputtzuschlagen.
»Sie wird pissig, Kyna.«
»Das stimmt, Kennis.«
»Also sollten wir mal besser dafür sorgen, dass sie aufsteht und sich fertig macht, damit wir weiterkommen.«
Ghleanna hatte langsam wirklich die Schnauze voll und brüllte beinahe: »Ich will Rhiannon nicht sehen! Also verpisst euch endlich aus meiner Höhle!«
Kyna kauerte sich nieder, damit sie Ghleanna in die Augen schauen konnte, eine Seite ihrer Schnauze hochgezogen, sodass man Reihe um Reihe der tödlichen Reißzähne sah, von denen einige erst mit dem Alter gewachsen waren.
»Jetzt hör mir mal zu, kleines Mädchen. Du kannst mit deinem Vater und mit deinen Brüdern sprechen, wie du willst – aber mit uns sprichst du nicht so. Und wenn die Königin dir einen Befehl gibt …«
»… dann kriegst du deinen Arsch hoch und befolgst ihn. Oder wir werden bei den Göttern …«
»… dafür sorgen, dass du wünschtest, du hättest es getan.«
Ghleanna verstand jetzt, warum man die Cadwaladr-Zwillinge geschickt hatte, um sie zu holen. Wenn auch viele ihrer Geschwister sich ordentlich wehren konnten, hatten nur ihre Brüder Bercelak und Addolgar eine echte Chance, sie zu schnappen. Aber keiner von ihnen würde es tun, denn sie war ihre Schwester. Dasselbe galt für ihren Vater. Und ihre Mutter war eine Friedensstifterin, keine Kämpferin. Also hatte ihre Sippe die gefürchtetsten Drachenkriegerinnen des Landes geschickt, die Cadwaladr-Zwillinge. Sie mochten alte Drachinnen sein, aber das machte sie nur noch gefährlicher – und labiler.
»Kommst du, Mädchen?«
»Ja«, fauchte Ghleanna und stemmte sich mit den Vorderklauen hoch. Sie brauchte einen Moment, bis die Höhle aufhörte, sich zu drehen, und noch einen, bis die Übelkeit verging. Doch als es so weit war, konnte sie sich immerhin vorstellen, nach draußen in den See zu gehen und zu baden.
»Was will Rhiannon überhaupt von mir?«, fragte sie auf dem Weg nach draußen mit den Zwillingen im Schlepptau, während sie gleichzeitig überlegte, ob sie davonlaufen sollte.
»Im Gegensatz zu dir, Göre, stellen wir keinen Haufen Fragen.«
»Unsere Königin bittet uns, etwas zu tun, also tun wir es. Das ist unsere Aufgabe.«
»Das ist auch deine Aufgabe«, bemerkte Kennis.
»Haben wir sie nicht gut genug ausgebildet?«
»Ich hoffe, das ist nicht der Fall, Kyna. Ich würde sie ungern noch mal durchs Training schicken müssen.«
Ghleanna verzog das Gesicht, denn sie hörte die Drohung in diesen Worten laut und deutlich. »Wird nicht nötig sein«, murmelte sie.
»Gut. Du warst immer einer unserer Lieblinge, Ghleanna. Wir würden dich wirklich nicht gern halb totschlagen müssen, weil du vergessen hast, woher du kommst.«
Kyna packte Ghleanna am Unterarm und zwang sie, sich zu ihr umzudrehen. »Und das ist kein Grund, sich zu schämen, Mädchen. Es ist keine Schande, wer du bist, wer deine Sippe ist und wer du sein willst.«
»Und lass dir von niemandem etwas anderes erzählen«, endete Kennis. »Du bist etwas Besonderes, Ghleanna. Und manche Typen – die können einfach nicht damit umgehen. Während andere …«
»Während andere was?«
»Während andere dafür geboren sind, die Scheide für dein Schwert zu sein – du musst den einen nur finden, Mädchen. Wie wir.«
»Wie dein Vater. Aber das kann sie nicht, wenn sie nach Bier und Elend stinkt, Kennis.«
»Es sei denn, sie will so einen erbärmlichen Bastard wie sich selbst, Kyna. Und ihr Götter! Wer würde das wollen?«
Ghleanna erkannte die Wahrheit darin und steuerte auf den See zu, um sich darauf vorzubereiten, ihre Königin...